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Europa:

Das Kapital geht zum Angriff über

Jan Malewski aus INPREKORR 466/467 September/Oktober 2010


Sparen, Sparen! Während die kapitalistische Krise in Form einer von Griechenland auf andere EU-Länder übergreifenden staatlichen Schuldenkrise erneut aufflammt, haben die Regierungen des harten Kerns der EU-Länder beschlossen, generell eine beispiellose Sparpolitik durchzusetzen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Zerschlagung der letzten Errungenschaften des sogenannten Wohlfahrtsstaates, den das europäische Kapital am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Furcht vor der Schlagkraft der Arbeiterbewegung und zur Legitimierung seiner Wiederaufbaustaaten zubilligen musste. Die Zielvorgabe ist ein 20-prozentiger Abbau der Kaufkraft der einfachen Bevölkerung, die Demontage des Rechts auf Renten und der Sozialversicherungen sowie die Auslagerung bzw. Privatisierung der öffentlichen Dienste.

DER STAAT ALS INSTRUMENT DES NEOLIBERALISMUS

Dazu greift das Kapital auf seine staatlichen und parastaatlichen internationalen Apparate (IWF, Weltbank, Europäische Zentralbank, Europäische Kommission etc.) zurück. Es stützt sich dabei auf die neoliberalen Theorien, die im Gegensatz zum klassischen Liberalismus den „Markt“ und den „Wettbewerb“ nicht mehr als „natürlichen Lauf der Dinge“ betrachten, sondern als etwas, das es aufzubauen gilt.1 Man lässt zwar die Propagandisten weiter erzählen, der Staat müsse abgebaut werden, um so die Deregulierungen zu rechtfertigen und das durchzusetzen, was den Neoliberalen als Essenz des Marktes gilt – den Wettbewerb. Gleichzeitig hat sich die neoliberale Führung daran gemacht, die Rolle der Staaten und der parastaatlichen Strukturen zu verändern Pierre Dardot fasst diese seit über einem Vierteljahrhundert stattfindende Wende wie folgt zusammen: „Diese Rolle ist relativ neu, da man in der Tradition eines gewissen Liberalismus […] ein Bild pflegte, das so ziemlich alles umfasste und auf einen Nachtwächterstaat hinauslief. Dieser Nachtwächter-staat hat in erster Linie die Aufgabe, die Sicherheit von Besitz und Privatpersonen zu gewährleisten. […] Die Neoliberalen […] betrachten das staatliche Handeln als ausgesprochen wichtig. Ohne zu Zögern gehen sie von der Vorstellung aus, dass der Staat in den Wirtschaftsbereich eingreifen muss. […] Er muss die Normen des Wettbewerbs dort einführen, wo sie nicht gelten, und dort durchsetzen, wo sie gelten, denn genau das ist die Norm des Marktes. Es handelt sich um einen Staat, der Regeln auf der Ebene des Funktionierens der Wirtschaft aufstellt, und keineswegs um einen Laissezfaire- Staat, der sich völlig zurückhält.“2 Die für den Staatsapparat und die parastaatlichen Institutionen vorgesehene Rolle besteht darin, „die sozialen Beziehungen zu verändern“, wie Nicolas Sarkozy vor den ersten tausend von ihm eingeladenen Einzelunternehmern meinte, oder, wie es Margaret Thatcher lange vor ihm formulierte, „Herz und Seele zu verändern“.3

Griechenland: Polizei verteidigt das Parlament vor dem Volk

Dank dem „Konsens von Washington“, den Verträgen der Europäischen Union von Maastricht bis Lissabon, den zahlreichen „Reformen“ – mit denen die Errungenschaften der fortschrittlichen Reformen rückgängig gemacht werden sollen, also eigentlich Konterreformen –, die jeweils von den nationalen Parlamenten beschlossen wurden, konnte das Terrain bereitet und mit dem Umbau der Gesellschaft begonnen werden. Es konnten Bedingungen geschaffen werden, unter denen die „Einzelnen in Situationen gebracht werden, in denen sie gar nicht mehr anders können als so zu handeln, wie man es von ihnen erwartet […], in denen sie durch Anreize dazu gebracht werden, sich so zu verhalten, wie man es von ihnen erwartet, ohne es ständig in Erinnerung rufen oder ihnen ständig vorschreiben zu müssen, was sie zu tun haben.“4 So geht es nicht darum, das Rentensystem abzuschaffen, sondern es auszuhöhlen, indem die Renten gekürzt und die Einzelnen gezwungen werden, sich dafür „zu entscheiden“, auf Pensionsfonds zurückzugreifen. Das Gesundheits-system wird nicht völlig privatisiert, doch alle Dienstleistungen, die potenziell gewinnbringend sind, werden abgeschafft, um einen Privatsektor zu schaffen, für den sich die BürgerInnen „entscheiden“ dürfen. Sozialwohnungen werden nicht abgeschafft, aber die Mieten werden so weit erhöht, dass alle, die noch über ein wenig Erspartes verfügen, sich damit (und mit viel mehr, wie die jüngste Immobilienkrise gezeigt hat) verschulden, um Wohnungen zu kaufen. Das Staatsrecht wird nicht abgeschafft, aber seiner Substanz beraubt und ausgehöhlt, „sodass das Privatrecht selbst innerhalb der Staatsorganisation und ihrer Behördendienstleistungen immer mehr dominiert […], sodass eben auch die Beamten im öffentlichen Dienst selbst zu Äquivalenten von Einzelunternehmern oder kleinen Ichunternehmern werden.“5

TESTLÄUFE

Entgegen dem, was zahlreiche Beobachter Ende 2008 geschrieben haben, bedeuteten die staatlichen Eingriffe zur Rettung der Banken und „strategischer“ Sektoren der Industrie keinerlei Bruch mit diesem Verständnis der Rolle der Staatsapparate. Es handelte sich um Eingriffe im Wirtschaftsbereich zugunsten führender Sektoren des Kapitals, um die Bedingungen ihres Funktionierens wiederherzustellen. Die staatlichen Apparate und die internationalen Institutionen lösten das in die Krise geratene Privatkapital ab und gewährleisteten damit die Profite der führenden Sektoren. Daher die rasche Wiederherstellung der Bankenprofite im Jahr 2009.

Gleichzeitig handelte es sich um einen Testlauf neuer Mechanismen der Regierungsführung mit scharfen Angriffen auf die Errungenschaften der Lohnab-hängigen, die zuerst in den am stärksten betroffenen Ländern der EU-Peripherie wie Irland, Lettland, Litauen, Ungarn und Island durchgeführt wurden. Das Ergebnis wurde als positiv beurteilt. Hunderttausende gingen aus Protest auf die Straße, doch die Staaten blieben hart, auch wenn die Regierungen hier und da andere ans Ruder lassen mussten, die dieselbe Politik fortsetzten, oder Regierungsparteien Verluste bei Wahlen hinnehmen mussten.

Erstmals wurden die Nominallöhne im öffentlichen Dienst abgebaut: ab 2008 (und erneut 2009) in Irland um 5 bis 15 Prozent und in Island um 5 bis 10 Prozent; in Ungarn wurden die Löhne für zwei Jahre eingefroren und der 13. Monatslohn im Oktober 2008 gestrichen; desgleichen 2009 in Lettland (50-prozentige Lohnkürzungen bei Lehrpersonal) und Litauen (20 bis 50 Prozent). Seither werden vergleichbare Maßnahmen in Griechenland durch-gesetzt (die Lohnkürzungen betragen mit allen bereits angekündigten Maßnahmen rund 25 Prozent und die Löhne wurden auf fünf Jahre eingefroren), in Spanien (Lohnkürzungen von 5 Prozent und Einfrieren der Löhne), in Portugal (Einfrieren für vier Jahre) und Rumänien (Kürzungen um 25 Prozent). Die geplante Erhöhung der „Beitragsleistungen“ für die Renten der Lohnabhängigen im öffentlichen Dienst in Frankreich verfolgt kein anderes Ziel die Kürzungen der Beamtengehälter. 6

In ganz Europa wurde oder wird das Rentenalter und die Anzahl der für den Rentenanspruch erforderlichen Arbeitsjahre angehoben, um die auszuzahlenden Renten zu kürzen. In Lettland ging die Regierung noch weiter und beschloss, die Nominalrenten ab 1. Januar 2010 um 10 bis 70 Prozent zu kürzen. Das dazu beschlossene Gesetz wurde vom Verfassungsgericht, das von 9000 RentnerInnen angerufen wurde, als „illegal“ bezeichnet – und muss folglich neu ausgearbeitet werden, doch eine Bresche war geschlagen. Die rumänische Regierung hat eine Kürzung der Renten um 15 Prozent angekündigt, die griechische Regierung hat die Renten eingefroren und möchte das Rentenantrittsalter auf 67 Jahre anheben.

Dasselbe gilt für die Mehrwertsteuer. Mit der Wiedereinführung des Kapitalismus in den osteuropäischen Ländern konnte dieser Mechanismus getestet werden, wenn auch unter Bedingungen großer Konfusion, denn was angekündigt wurde, war die „Modernisierung“ und „Anpassung“ der Mehrwert-steuer. Diese speziell ungerechte indirekte Steuer, von der die geringen Einkommen viel stärker betroffen sind, erlaubte erhebliche Ermäßigungen der Kapitalsteuern (begleitet von Versprechen der „Steuersenkungen“), ohne die Gesamteinnahmen zu verringern. Sie wurde Anfang der 1990er-Jahre in ganz Osteuropa durchgesetzt, wodurch die Preise um 18 bis 20 Prozent stiegen. Unmittelbar darauf wurde dieselbe Maßnahme in Island durchgesetzt (24,5 % 1990), ein wenig später infolge des Kriegs in Kroatien (23 % 1998), Bosnien (17 % 2006) und Kosovo (16 %). Der Erfolg dieser Operation ermutigte die Regierungen des „alten Europa“ zu ähnlichen Schritten. Seit 1994 wurde die normale Mehrwert-steuer in Deutschland um 4 %-Punkte erhöht (weitere Erhöhungen sind in Vorbereitung), in Frankreich um 1 %-Punkte, in Zypern und Griechenland um 5 %-Punkte, in Malta um 3 %-Punkte, in Portugal um 5 %-Punkte, in Spanien um 1 %-Punkte (eine neuerliche Erhöhung ist angekündigt), in Ungarn um 5 %-Punkte, in Estland um 2 %-Punkte, in Lettland und Litauen ebenfalls um 3 %-Punkte. Offenbar ist der momentane Höchstwert von 25 %-Punkte in der EU, der in Dänemark, Schweden und seit Kurzem in Ungarn gilt, das Ziel. Die Erhöhungen betreffen auch die reduzierten Sätze (z.B. Erhöhung um 5 % in der Republik Tschechien seit 2004, um 2 %-Punkte in Griechenland im Mai), die in manchen Ländern für Güter des täglichen Bedarfs gelten.

Dazu kommen Kürzungen bei den Sozialleistungen, der Stellenabbau im öffentlichen Dienst, die Verlagerung von Kosten des Zentralstaats auf die Gemeinden ohne entsprechende Umverteilung der Einnahmen. Im Namen der „Krisenbekämpfung“ wird also mit erhöhtem Tempo fortgesetzt, was Auslöser der aktuellen Krise war: der Rückgang des Anteils der Arbeitseinkommens an den Gesamteinkommen seit 1980.7 Die Politik der irischen Regierung ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Beim verschriebenen Sparkurs wurden einzig die Errungenschaften des Kapitals beibehalten, die mit 12,5 % ausgesprochen niedrigen Gewinnsteuern! Die ungarische Regierung unter Viktor Urban, der kürzlich die wegen vorangehender Sparmaßnahmen unpopuläre sozialdemokratische Regierung abgelöst hat, folgte am 8. Juni dem irischen Beispiel. Der neue Sparplan enthält die Einfrierung der Beamtenlöhne und neue, für alle geltende Steuern von 16 % und sieht die Reduktion von 19 % auf 10 % für Steuern auf Gewinne unter 1,77 Millionen Euro vor.

KOORDINIERTE ANGRIFFE, UNKOORDINIERTE GEGENWEHR

All diese Angriffe der letzten Jahre erfolgten nicht gleichzeitig. In einem gemeinsamen, auf EU-Ebene beschlossenen Rahmen (beispielsweise dem „Stabilitäts- und Wachstumspakt“) konnte jede einzelne europäische Regierung ihre Politik den besonderen Bedingungen des jeweiligen Landes anpassen und nach ihrem eigenen Rhythmus den Hebel bei Steuern, Sozialausgaben, Löhnen, öffentlicher Beschäftigung o. Ä. ansetzen. Das entspricht objektiven Erfordernissen:

Die Europäische Union ist kein voller Staat im klassischen Sinn, und die Entscheide, die dem Aufbau dieses supranationalen Apparats zugrunde liegen, berücksichtigen, dass es „europäische Kapitalismen“, Interessen der jeweiligen Kapitalistenklasse auf nationaler und internationaler Ebene, gibt, aber keinen „europäischen Kapitalismus“ als solchen. Die kapitalistische Globalisierung hat die Ökonomien und Projekte der einzelnen Bourgeoisien direkt auf die weltweite Arena gehievt. Die größten Unternehmen und die europäischen Banken im Luftverkehr, im Automobilsektor, in der Pharmaindustrie etc. haben sich mit Unternehmen aus den USA oder aufstrebenden Ländern verbunden. Große europäische Konzerne im eigentlichen Sinn wie EADS sind die Ausnahme. Die tonangebenden europäischen Klassen haben sich des Binnenmarkts bemächtigt, um vor allem neue Anteile am globalisierten Markt zu ergattern und weniger, um ein wirtschaftlich, sozial und politisch integriertes Europa aufzubauen.

Nach ersten Protesten in Europa – beispielsweise den europäischen Märschen gegen EU-Gipfel in Amster-dam 1994 und weiteren Gewerkschafts-demonstrationen in den folgenden Jahren sowie dem Streik in Frankreich im Dezember 1995 – und dem Scheitern der Versuche, die neoliberale politische Ausrichtung auf Ebene der EU im Rahmen des europäischen Verfassungsvertrags zu legitimieren, haben sich die europäischen Regierungen davor gehütet, eine allgemeine soziale Reaktion zu provozieren.

Die weltweite kapitalistische Krise hat den Prozess jedoch beschleunigt. Nachdem Angela Merkel von Griechenland, Portugal und Spanien eine strenge Sparpolitik gefordert hat, kündigte sie kürzlich für Deutschland neue Maßnahmen wie den Stellenabbau im öffentlichen Dienst (Streichung von 10 000 bis 15 000 Stellen bis 2014), neue Steuern und Kürzungen von Sozialleistungen (Familienbeihilfen, Arbeitslosen-gelder etc.) an, um die deutsche Industrie nicht in ihrer „Wettbewerbsfähigkeit zu benachteiligen“.

Die neue konservative britische Regierung bereitet drastische Senkungen der öffentlichen Ausgaben vor. In Frankreich hat die Regierung Sarkozy angesichts ihrer Unbeliebtheit den Bereich der Renten für ihre Angriffe auserkoren und bereitet gleichzeitig im Geheimen ein Sparbudget für 2011 vor. Die neoliberale Wettbewerbsnorm bedeutet damit eine endlose Abwärtsspirale: Zuerst werden die KundInnen gebeten, den Gürtel enger zu schnallen, dann kommen die ProduzentInnen dran und so weiter. Wird die in Deutschland angekündigte Sparpolitik nicht abgewehrt, wird sie auf andere Länder des Zentrums übergreifen, um in der Folge harte Eingriffe in den Ländern der Peripherie zu rechtfertigen.

Die schwache EU-weite Reaktion der Lohnabhängigen auf die aufeinander folgenden Vorstöße in Irland, Ungarn und den baltischen Ländern, Griechenland, Spanien und Portugal hat die Ausgangslage verändert. Die Angriffe auf die ArbeiterInnen finden zunehmend an allen Fronten statt. Der Umgang mit der Krise ist bezeichnend: Das neoliberale Europa macht Druck, der Euro dient als Instrument zur Drosselung von Löhnen und Sozialausgaben, die Vorgangsweise erfolgt aber länderweise und ungleichzeitig.

Die Sparpläne sind an die sozioökonomische und politische Realität jedes Landes angepasst, in der groben Linie greifen sie aber dieselben Achsen auf: Abbau der Defizite, Ausgabenstopp, Stellenabbau im öffentlichen Dienst, Lohnsenkungen, Rentenkürzungen, Verlängerung der Arbeitszeit durch Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters. Der angestrebte Abbau der Defizite geht bis zu der von Deutschland eingebrachten und von Frankreich aufgegriffenen Forderung, die Budgets aller Staaten von europäischen Institutionen, faktisch also von Deutschland, kontrollieren zu lassen.

An der Spitze der EU überwiegen die unmittelbaren Klasseninteressen – trotz weiter bestehenden Spannungen zwischen den unterschiedlichen Dynamiken der einzelnen Kapitalistenklassen auf nationaler und internationaler Ebene angesichts des Stellenwerts, den sie jeweils in der Weltwirtschaft und der internationalen Arbeitsteilung einnehmen: der Finanzmacht des britischen Kapitals, der Rolle des deutschen Kapitals auf dem Markt für industrielle Ausrüstungsgüter, der Spezialisierung des auf den Staat gestützten französischen Kapitals in der Atom- und Rüstungsindustrie, der Luftfahrt und dem Transport etc. Wir haben es mit einer koordinierten Politik, einem Klassenkrieg des Kapitals gegen die Arbeit zu tun.

INITIATIVE ERGREIFEN

Auf Seiten der ArbeiterInnen sieht es, zumindest vorläufig, anders aus. In den baltischen Ländern, gefolgt von Griechenland, Rumänien, Portugal und Spanien haben die Angriffe der Regierungen zu bedeutenden Mobilisierungen der Bevölkerung in Demonstrationen von vielfach historischer Breite geführt. Dennoch blieben sie zeitlich und geografisch unkoordiniert. Und die geführten Kämpfe zeichnen sich (noch) nicht durch die Fähigkeit aus, Forderungen aufzustellen, die dem Ausmaß der Krise und der Angriffe der Sparpläne ebenmäßig wären.

Die neue relative Gleichzeitigkeit der Angriffe des Kapitals sollte in Europa eigentlich helfen, den Widerstand zu koordinieren. Die Sparpläne konvergieren und rufen in jedem Land Proteste auf den Plan. Was fehlt, ist allein der Wille oder die Vorstellungskraft, europaweit gemeinsam vorzugehen. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) begnügt sich gegenwärtig damit, für den 29. September zu einer gemeinsamen Demonstration in Brüssel aufzurufen – an einem Mittwoch, was bedeutet, dass es die xte Reise einiger Tausend Gewerkschafts-funktionäre in die EU-Hauptstadt wird, solange man nicht zu einem EU-weiten Streik aufruft. Dies, obwohl die angekündigten Sparpläne selbst die Errungenschaften der Gewerkschaftsbürokratie bedrohen … und die Gewerkschaften im spanischen Staat für denselben Tag zu einem Generalstreik aufrufen.

„Für die sozialen Bewegungen hat die Krise widersprüchliche Auswirkungen“, schreibt Michel Husson. „Einerseits gibt sie den Kritikern eines Systems recht, dessen Grundlagen durch die Krise, deren Ausmaß die chronische Instabilität und wachsende Irrationalität offenbart, untergraben werden. Andererseits aber zwingt sie die Kämpfe in eine defensive, oft unkoordinierte Haltung. Diese Spannung hat schon immer bestanden, doch durch die Krise spitzt sie sich zu. Gefragt ist geschlossener Widerstand gegen die Maßnahmen zur „Überwindung der Krise“, wobei gleichzeitig eine radikale Alternative angeboten werden muss.“8

Ein Ausweg aus der Krise würde die weitreichende Verschiebung der Einkommensverteilung zulasten des Kapitals und zugunsten der Arbeit erfordern. Die Ungleichheiten müssen abgebaut werden: einerseits durch Erhöhung der Lohnmasse sowohl bei den direkten Löhnen als auch bei Lohnnebenkosten (der sozialen Sicherheit), andererseits durch einen Umbau des Steuerwesens zulasten der Dividenden, die wirtschaftlich keinerlei Rechtfertigung und gesellschaftlich keinerlei Nutzen haben. Der Abbau der Budgetdefizite ist nur durch Besteuerung aller Formen von Einkommen möglich, die infolge der neoliberalen „Reformen“ von Steuern befreit wurden. „Erneut hat sich erwiesen, dass die Verstaatlichung des Bankensystems technisch wie politisch gerechtfertigt ist: Der Rettungsplan für den Euro ist faktisch ein neuer Rettungsplan für die europäischen Banken, den Hauptgläubigern der Schulden Griechenlands und anderer von Spekulation bedrohter Länder. Die beste Lösung, um die miteinander verbundenen Schulden loszuwerden, wäre eine vollständige Verstaatlichung. Damit könnten sie ein für alle Mal ausgeglichen, neu verteilt oder aufgelöst werden. Von den automatischen Folgen der Krise für die Einnahmen abgesehen, entsprechen die öffentlichen Schulden im Wesentlichen all den Steuergeschenken an Unternehmen und Rentiers. Die Logik erfordert, dass sie gestrichen oder weitgehend restrukturiert werden.“9

Eine Antwort auf die „Schuldenkrise“ erfordert also radikale Lösungen. Vorschläge dazu gibt es: die Streichung der öffentlichen Schulden, ein Bürgeraudit zur Streichung dieser Schulden, die Enteignung von Banken und deren Überführung in den staatlichen Sektor, die Verstaatlichung von Banken oder einheitliche öffentliche Bankdienstleistungen unter Kontrolle der ArbeiterInnen und der Bevölkerung sind einige der vom Komitee zur Streichung der Schulden der Dritten Welt (CADTM) erhobenen Forderungen oder internationalen Appellen, die unter anderem von der revolutionären Linken in Großbritannien, dem portugiesischen Linksblock, der Polnischen Arbeiterpartei und der Neuen antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich erhoben werden.10 Solche Forderungen bilden eine „Brücke“, eröffnen Übergänge von den defensiven Mobilisierungen gegen die vorgesehenen Maßnahmen zur Zerschlagung der Errungenschaften und Hoffnungen auf eine mögliche „andere Welt“.

Die Radikalität der Lösungen auf die kapitalistische Krise ebenso wie das Ausmaß der von den Vertretern des Kapitals in Europa lancierten Angriffe machen den Aufbau eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses erforderlich. Angesichts der Schwäche traditioneller europäischer Mobilisierungen und der mangelnden Koordinierung der gegenwärtigen Abwehrkämpfe in verschiedenen Ländern, aber auch des in Arbeiterorganisationen, Parteien und Gewerkschaften vorherrschenden „nationalen“ Konservativismus und der relativen Schwächung der globalisierungskritischen Kräfte in Europa11 müssen AntikapitalistInnen ihren Einfallsreichtum und ihre Fähigkeit zur Initiative unter Beweis stellen, um diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Das bedeutet einerseits, die Initiative für europäische Aktionen mit denjenigen politischen Gruppen, Gewerkschaften und Verbänden zu ergreifen, die dafür bereits bereit sind, auch wenn diese Aktionen anfangs nur einen Minderheit erreichen, um so den Weg einer möglicher Mobilisierung aufzuzeigen. 12 Es bedeutet anderer-seits, alle Gelegenheiten zu ergreifen – selbst solche, die als Routine erscheinen, wie der Aufruf des EGB zur Demonstration im September –, um auf möglichst breite Mobilisierungen hinzuarbeiten und diese mit radikalen Forderungen zu bereichern, wie sie die Situation erfordert; allen voran die Forderung nach Streichung der öffentlichen Schulden13 und Vergesellschaftung des Banken- und Kreditwesens, die angesichts der Rechtfertigung der Sparpläne durch die Regierungen und des in den Augen der breiten Bevölkerung illegitimen Charakters der Schulden leicht einsichtig ist.

Für AntikapitalistInnen bedeutet das auch, solidarische Beziehungen aufzubauen und die Zusammenarbeit zwischen den sich in verschiedenen Ländern entwickelnden nationalen Mobilisierungen gegen die Sparpläne zu suchen, um diese Sparpläne der Europäischen Union gemeinsam bekämpfen zu können. Denn die große Mehrheit der europäischen ArbeiterInnen steht den verschiedenen Sparmaßnahmen laut Umfragen ablehnend gegenüber, ist aber auch orientierungslos und zweifelt an der Möglichkeit, sie erfolgreich abzuwehren. Dabei fallen die Erfahrungen aus den vereinzelten unkoordinierten Mobilisierungen der letzten Jahre ins Gewicht, die von den Gewerkschaftszentralen routinemäßig organisiert wurden und im Allgemeinen die neoliberale Politik nicht aufhalten konnten – mit der beachtenswerten Ausnahme der Mobilisierung gegen die Rückzahlung der Schulden in Island, die ein Referendum durchsetzen konnte, in dem die Pläne der Regierung dann mit 93,2 Prozent abgelehnt wurden. Aus der Routine auszubrechen und die Initiative für europäische Kämpfe zu ergreifen, könnte zum Stimmungswechsel beitragen.

Jan Malewski, Inprecor-Redakteur und Mitglied des Exekutivbüros der IV. Internationale.

Aus dem Französischen: Tigrib

1 Vgl. Pierre Dardot (Co-Autor mit Christian Laval
von La Nouvelle Raison du monde, La Découverte,
Paris 2009): „Qu‘est-ce que la rationalité
néolibérale ? Sa généalogie, la question
de la démocratie, le projet alternatif (Monatssitzung
des „Club socialisme maintenant“ vom
13. März 2010), http://www.socialisme-maintenant.
org

2 Ebenda.

3 Ebenda.

4 Ebenda.

5 Ebenda.

6 Der Begriff „Beitragsleistungen“ ist in diesem
Fall missbräuchlich, denn die Beamten in
Frankreich haben, im Gegensatz zu den Privatangestellten,
keine Pensionskasse. Ihre Renten
werden aus dem Staatshaushalt bezahlt und die
Einnahmen aus diesem Budget dürfen nicht im
Voraus verwendet werden. Durch Erhöhung
der „Beitragsleistungen“ senkt der Staat ganz
einfach seine Lohnkosten.

7 Vgl. dazu Özlem Onaran: Crise fiscale ou crise
de distribution? In: Inprecor Nr. 562/563.

8 Michel Husson, „Quelles réponses progressistes“,
Artikel zur Veröffentlichung in Les
temps nouveaux, abrufbar unter http://hussonet.
free.fr und unter http://www.cadtm.
org/%EF%BB%BFQuelles-reponses-progressistes.

9 Ebenda.

10 Vgl. Appel du CADTM. Pour une mobilisation
européenne contre la dictature des créanciers.
In: Inprecor 562/563, S. 13f.

11 Davon zeugt die relative Schwäche des letzten
Europäischen Sozialforums in Malmö (Schweden)
im September 2008.

12 Der Aufruf der Abgeordneten der europäischen
Linken zu koordinierten Massendemonstrationen
in der Woche vom 21. zum 27. Juni 2010
geht in diese Richtung, siehe S. 14 dieser
Ausgabe////siehe Inprecor Nr. 562/563, S. 14.

13 Das CADTM schlägt ein Vorgehen in diese
Richtung vor, nämlich ein „einseitiges Moratorium
(ohne Verrechnung der Verzugszinsen) auf
die Zahlung der Staatsschulden, bis ein Audit
unter Beteiligung der Bevölkerung über die öffentlichen
Darlehen durchgeführt werden kann“,
um „auf der Grundlage der Ergebnisse des Audits
die illegitimen Schulden zu streichen“.