DER STAAT ALS INSTRUMENT DES NEOLIBERALISMUS
Dazu
greift das Kapital auf seine staatlichen und
parastaatlichen internationalen Apparate (IWF,
Weltbank, Europäische Zentralbank, Europäische
Kommission etc.) zurück. Es stützt
sich dabei auf die neoliberalen Theorien, die
im Gegensatz zum klassischen Liberalismus den
„Markt“ und den „Wettbewerb“
nicht mehr als „natürlichen Lauf
der Dinge“ betrachten, sondern als etwas,
das es aufzubauen gilt.1 Man lässt
zwar die Propagandisten weiter erzählen,
der Staat müsse abgebaut werden, um so
die Deregulierungen zu rechtfertigen und das
durchzusetzen, was den Neoliberalen als Essenz
des Marktes gilt – den Wettbewerb. Gleichzeitig
hat sich die neoliberale Führung daran
gemacht, die Rolle der Staaten und der parastaatlichen
Strukturen zu verändern Pierre Dardot fasst
diese seit über einem Vierteljahrhundert
stattfindende Wende wie folgt zusammen: „Diese
Rolle ist relativ neu, da man in der Tradition
eines gewissen Liberalismus […] ein Bild
pflegte, das so ziemlich alles umfasste und
auf einen Nachtwächterstaat hinauslief.
Dieser Nachtwächter-staat hat in erster
Linie die Aufgabe, die Sicherheit von Besitz
und Privatpersonen zu gewährleisten. […]
Die Neoliberalen […] betrachten das staatliche
Handeln als ausgesprochen wichtig. Ohne zu Zögern
gehen sie von der Vorstellung aus, dass der
Staat in den Wirtschaftsbereich eingreifen muss.
[…] Er muss die Normen des Wettbewerbs
dort einführen, wo sie nicht gelten, und
dort durchsetzen, wo sie gelten, denn genau
das ist die Norm des Marktes. Es handelt sich
um einen Staat, der Regeln auf der Ebene des
Funktionierens der Wirtschaft aufstellt, und
keineswegs um einen Laissezfaire- Staat, der
sich völlig zurückhält.“2
Die für den Staatsapparat und die parastaatlichen
Institutionen vorgesehene Rolle besteht darin,
„die sozialen Beziehungen zu verändern“,
wie Nicolas Sarkozy vor den ersten tausend von
ihm eingeladenen Einzelunternehmern meinte,
oder, wie es Margaret Thatcher lange vor ihm
formulierte, „Herz und Seele zu verändern“.3
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Griechenland:
Polizei verteidigt das Parlament vor dem
Volk |
Dank
dem „Konsens von Washington“, den
Verträgen der Europäischen Union von
Maastricht bis Lissabon, den zahlreichen „Reformen“
– mit denen die Errungenschaften der fortschrittlichen
Reformen rückgängig gemacht werden
sollen, also eigentlich Konterreformen –,
die jeweils von den nationalen Parlamenten beschlossen
wurden, konnte das Terrain bereitet und mit
dem Umbau der Gesellschaft begonnen werden.
Es konnten Bedingungen geschaffen werden, unter
denen die „Einzelnen in Situationen gebracht
werden, in denen sie gar nicht mehr anders können
als so zu handeln, wie man es von ihnen erwartet
[…], in denen sie durch Anreize dazu gebracht
werden, sich so zu verhalten, wie man es von
ihnen erwartet, ohne es ständig in Erinnerung
rufen oder ihnen ständig vorschreiben zu
müssen, was sie zu tun haben.“4
So geht es nicht darum, das Rentensystem abzuschaffen,
sondern es auszuhöhlen, indem die Renten
gekürzt und die Einzelnen gezwungen werden,
sich dafür „zu entscheiden“,
auf Pensionsfonds zurückzugreifen. Das
Gesundheits-system wird nicht völlig privatisiert,
doch alle Dienstleistungen, die potenziell gewinnbringend
sind, werden abgeschafft, um einen Privatsektor
zu schaffen, für den sich die BürgerInnen
„entscheiden“ dürfen. Sozialwohnungen
werden nicht abgeschafft, aber die Mieten werden
so weit erhöht, dass alle, die noch über
ein wenig Erspartes verfügen, sich damit
(und mit viel mehr, wie die jüngste Immobilienkrise
gezeigt hat) verschulden, um Wohnungen zu kaufen.
Das Staatsrecht wird nicht abgeschafft, aber
seiner Substanz beraubt und ausgehöhlt,
„sodass das Privatrecht selbst innerhalb
der Staatsorganisation und ihrer Behördendienstleistungen
immer mehr dominiert […], sodass eben
auch die Beamten im öffentlichen Dienst
selbst zu Äquivalenten von Einzelunternehmern
oder kleinen Ichunternehmern werden.“5
TESTLÄUFE
Entgegen
dem, was zahlreiche Beobachter Ende 2008 geschrieben
haben, bedeuteten die staatlichen Eingriffe
zur Rettung der Banken und „strategischer“
Sektoren der Industrie keinerlei Bruch mit diesem
Verständnis der Rolle der Staatsapparate.
Es handelte sich um Eingriffe im Wirtschaftsbereich
zugunsten führender Sektoren des Kapitals,
um die Bedingungen ihres Funktionierens wiederherzustellen.
Die staatlichen Apparate und die internationalen
Institutionen lösten das in die Krise geratene
Privatkapital ab und gewährleisteten damit
die Profite der führenden Sektoren. Daher
die rasche Wiederherstellung der Bankenprofite
im Jahr 2009.
Gleichzeitig
handelte es sich um einen Testlauf neuer Mechanismen
der Regierungsführung mit scharfen Angriffen
auf die Errungenschaften der Lohnab-hängigen,
die zuerst in den am stärksten betroffenen
Ländern der EU-Peripherie wie Irland, Lettland,
Litauen, Ungarn und Island durchgeführt
wurden. Das Ergebnis wurde als positiv beurteilt.
Hunderttausende gingen aus Protest auf die Straße,
doch die Staaten blieben hart, auch wenn die
Regierungen hier und da andere ans Ruder lassen
mussten, die dieselbe Politik fortsetzten, oder
Regierungsparteien Verluste bei Wahlen hinnehmen
mussten.
Erstmals
wurden die Nominallöhne im öffentlichen
Dienst abgebaut: ab 2008 (und erneut 2009) in
Irland um 5 bis 15 Prozent und in Island um
5 bis 10 Prozent; in Ungarn wurden die Löhne
für zwei Jahre eingefroren und der 13.
Monatslohn im Oktober 2008 gestrichen; desgleichen
2009 in Lettland (50-prozentige Lohnkürzungen
bei Lehrpersonal) und Litauen (20 bis 50 Prozent).
Seither werden vergleichbare Maßnahmen
in Griechenland durch-gesetzt (die Lohnkürzungen
betragen mit allen bereits angekündigten
Maßnahmen rund 25 Prozent und die Löhne
wurden auf fünf Jahre eingefroren), in
Spanien (Lohnkürzungen von 5 Prozent und
Einfrieren der Löhne), in Portugal (Einfrieren
für vier Jahre) und Rumänien (Kürzungen
um 25 Prozent). Die geplante Erhöhung der
„Beitragsleistungen“ für die
Renten der Lohnabhängigen im öffentlichen
Dienst in Frankreich verfolgt kein anderes Ziel
die Kürzungen der Beamtengehälter.
6
In
ganz Europa wurde oder wird das Rentenalter
und die Anzahl der für den Rentenanspruch
erforderlichen Arbeitsjahre angehoben, um die
auszuzahlenden Renten zu kürzen. In Lettland
ging die Regierung noch weiter und beschloss,
die Nominalrenten ab 1. Januar 2010 um 10 bis
70 Prozent zu kürzen. Das dazu beschlossene
Gesetz wurde vom Verfassungsgericht, das von
9000 RentnerInnen angerufen wurde, als „illegal“
bezeichnet – und muss folglich neu ausgearbeitet
werden, doch eine Bresche war geschlagen. Die
rumänische Regierung hat eine Kürzung
der Renten um 15 Prozent angekündigt, die
griechische Regierung hat die Renten eingefroren
und möchte das Rentenantrittsalter auf
67 Jahre anheben.
Dasselbe gilt für die Mehrwertsteuer. Mit
der Wiedereinführung des Kapitalismus in
den osteuropäischen Ländern konnte
dieser Mechanismus getestet werden, wenn auch
unter Bedingungen großer Konfusion, denn
was angekündigt wurde, war die „Modernisierung“
und „Anpassung“ der Mehrwert-steuer.
Diese speziell ungerechte indirekte Steuer,
von der die geringen Einkommen viel stärker
betroffen sind, erlaubte erhebliche Ermäßigungen
der Kapitalsteuern (begleitet von Versprechen
der „Steuersenkungen“), ohne die
Gesamteinnahmen zu verringern. Sie wurde Anfang
der 1990er-Jahre in ganz Osteuropa durchgesetzt,
wodurch die Preise um 18 bis 20 Prozent stiegen.
Unmittelbar darauf wurde dieselbe Maßnahme
in Island durchgesetzt (24,5 % 1990), ein wenig
später infolge des Kriegs in Kroatien (23
% 1998), Bosnien (17 % 2006) und Kosovo (16
%). Der Erfolg dieser Operation ermutigte die
Regierungen des „alten Europa“ zu
ähnlichen Schritten. Seit 1994 wurde die
normale Mehrwert-steuer in Deutschland um 4
%-Punkte erhöht (weitere Erhöhungen
sind in Vorbereitung), in Frankreich um 1 %-Punkte,
in Zypern und Griechenland um 5 %-Punkte, in
Malta um 3 %-Punkte, in Portugal um 5 %-Punkte,
in Spanien um 1 %-Punkte (eine neuerliche Erhöhung
ist angekündigt), in Ungarn um 5 %-Punkte,
in Estland um 2 %-Punkte, in Lettland und Litauen
ebenfalls um 3 %-Punkte. Offenbar ist der momentane
Höchstwert von 25 %-Punkte in der EU, der
in Dänemark, Schweden und seit Kurzem in
Ungarn gilt, das Ziel. Die Erhöhungen betreffen
auch die reduzierten Sätze (z.B. Erhöhung
um 5 % in der Republik Tschechien seit 2004,
um 2 %-Punkte in Griechenland im Mai), die in
manchen Ländern für Güter des
täglichen Bedarfs gelten.
Dazu kommen Kürzungen bei den Sozialleistungen,
der Stellenabbau im öffentlichen Dienst,
die Verlagerung von Kosten des Zentralstaats
auf die Gemeinden ohne entsprechende Umverteilung
der Einnahmen. Im Namen der „Krisenbekämpfung“
wird also mit erhöhtem Tempo fortgesetzt,
was Auslöser der aktuellen Krise war: der
Rückgang des Anteils der Arbeitseinkommens
an den Gesamteinkommen seit 1980.7
Die Politik der irischen Regierung ist in dieser
Hinsicht bezeichnend. Beim verschriebenen Sparkurs
wurden einzig die Errungenschaften des Kapitals
beibehalten, die mit 12,5 % ausgesprochen niedrigen
Gewinnsteuern! Die ungarische Regierung unter
Viktor Urban, der kürzlich die wegen vorangehender
Sparmaßnahmen unpopuläre sozialdemokratische
Regierung abgelöst hat, folgte am 8. Juni
dem irischen Beispiel. Der neue Sparplan enthält
die Einfrierung der Beamtenlöhne und neue,
für alle geltende Steuern von 16 % und
sieht die Reduktion von 19 % auf 10 % für
Steuern auf Gewinne unter 1,77 Millionen Euro
vor.
KOORDINIERTE
ANGRIFFE, UNKOORDINIERTE GEGENWEHR
All
diese Angriffe der letzten Jahre erfolgten nicht
gleichzeitig. In einem gemeinsamen, auf EU-Ebene
beschlossenen Rahmen (beispielsweise dem „Stabilitäts-
und Wachstumspakt“) konnte jede einzelne
europäische Regierung ihre Politik den
besonderen Bedingungen des jeweiligen Landes
anpassen und nach ihrem eigenen Rhythmus den
Hebel bei Steuern, Sozialausgaben, Löhnen,
öffentlicher Beschäftigung o. Ä.
ansetzen. Das entspricht objektiven Erfordernissen:
Die
Europäische Union ist kein voller Staat
im klassischen Sinn, und die Entscheide, die
dem Aufbau dieses supranationalen Apparats zugrunde
liegen, berücksichtigen, dass es „europäische
Kapitalismen“, Interessen der jeweiligen
Kapitalistenklasse auf nationaler und internationaler
Ebene, gibt, aber keinen „europäischen
Kapitalismus“ als solchen. Die kapitalistische
Globalisierung hat die Ökonomien und Projekte
der einzelnen Bourgeoisien direkt auf die weltweite
Arena gehievt. Die größten Unternehmen
und die europäischen Banken im Luftverkehr,
im Automobilsektor, in der Pharmaindustrie etc.
haben sich mit Unternehmen aus den USA oder
aufstrebenden Ländern verbunden. Große
europäische Konzerne im eigentlichen Sinn
wie EADS sind die Ausnahme. Die tonangebenden
europäischen Klassen haben sich des Binnenmarkts
bemächtigt, um vor allem neue Anteile am
globalisierten Markt zu ergattern und weniger,
um ein wirtschaftlich, sozial und politisch
integriertes Europa aufzubauen.
Nach
ersten Protesten in Europa – beispielsweise
den europäischen Märschen gegen EU-Gipfel
in Amster-dam 1994 und weiteren Gewerkschafts-demonstrationen
in den folgenden Jahren sowie dem Streik in
Frankreich im Dezember 1995 – und dem
Scheitern der Versuche, die neoliberale politische
Ausrichtung auf Ebene der EU im Rahmen des europäischen
Verfassungsvertrags zu legitimieren, haben sich
die europäischen Regierungen davor gehütet,
eine allgemeine soziale Reaktion zu provozieren.
Die
weltweite kapitalistische Krise hat den Prozess
jedoch beschleunigt. Nachdem Angela Merkel von
Griechenland, Portugal und Spanien eine strenge
Sparpolitik gefordert hat, kündigte sie
kürzlich für Deutschland neue Maßnahmen
wie den Stellenabbau im öffentlichen Dienst
(Streichung von 10 000 bis 15 000 Stellen bis
2014), neue Steuern und Kürzungen von Sozialleistungen
(Familienbeihilfen, Arbeitslosen-gelder etc.)
an, um die deutsche Industrie nicht in ihrer
„Wettbewerbsfähigkeit zu benachteiligen“.
Die
neue konservative britische Regierung bereitet
drastische Senkungen der öffentlichen Ausgaben
vor. In Frankreich hat die Regierung Sarkozy
angesichts ihrer Unbeliebtheit den Bereich der
Renten für ihre Angriffe auserkoren und
bereitet gleichzeitig im Geheimen ein Sparbudget
für 2011 vor. Die neoliberale Wettbewerbsnorm
bedeutet damit eine endlose Abwärtsspirale:
Zuerst werden die KundInnen gebeten, den Gürtel
enger zu schnallen, dann kommen die ProduzentInnen
dran und so weiter. Wird die in Deutschland
angekündigte Sparpolitik nicht abgewehrt,
wird sie auf andere Länder des Zentrums
übergreifen, um in der Folge harte Eingriffe
in den Ländern der Peripherie zu rechtfertigen.
Die
schwache EU-weite Reaktion der Lohnabhängigen
auf die aufeinander folgenden Vorstöße
in Irland, Ungarn und den baltischen Ländern,
Griechenland, Spanien und Portugal hat die Ausgangslage
verändert. Die Angriffe auf die ArbeiterInnen
finden zunehmend an allen Fronten statt. Der
Umgang mit der Krise ist bezeichnend: Das neoliberale
Europa macht Druck, der Euro dient als Instrument
zur Drosselung von Löhnen und Sozialausgaben,
die Vorgangsweise erfolgt aber länderweise
und ungleichzeitig.
Die
Sparpläne sind an die sozioökonomische
und politische Realität jedes Landes angepasst,
in der groben Linie greifen sie aber dieselben
Achsen auf: Abbau der Defizite, Ausgabenstopp,
Stellenabbau im öffentlichen Dienst, Lohnsenkungen,
Rentenkürzungen, Verlängerung der
Arbeitszeit durch Heraufsetzung des gesetzlichen
Rentenalters. Der angestrebte Abbau der Defizite
geht bis zu der von Deutschland eingebrachten
und von Frankreich aufgegriffenen Forderung,
die Budgets aller Staaten von europäischen
Institutionen, faktisch also von Deutschland,
kontrollieren zu lassen.
An
der Spitze der EU überwiegen die unmittelbaren
Klasseninteressen – trotz weiter bestehenden
Spannungen zwischen den unterschiedlichen Dynamiken
der einzelnen Kapitalistenklassen auf nationaler
und internationaler Ebene angesichts des Stellenwerts,
den sie jeweils in der Weltwirtschaft und der
internationalen Arbeitsteilung einnehmen: der
Finanzmacht des britischen Kapitals, der Rolle
des deutschen Kapitals auf dem Markt für
industrielle Ausrüstungsgüter, der
Spezialisierung des auf den Staat gestützten
französischen Kapitals in der Atom- und
Rüstungsindustrie, der Luftfahrt und dem
Transport etc. Wir haben es mit einer koordinierten
Politik, einem Klassenkrieg des Kapitals gegen
die Arbeit zu tun.
INITIATIVE ERGREIFEN
Auf
Seiten der ArbeiterInnen sieht es, zumindest
vorläufig, anders aus. In den baltischen
Ländern, gefolgt von Griechenland, Rumänien,
Portugal und Spanien haben die Angriffe der
Regierungen zu bedeutenden Mobilisierungen der
Bevölkerung in Demonstrationen von vielfach
historischer Breite geführt. Dennoch blieben
sie zeitlich und geografisch unkoordiniert.
Und die geführten Kämpfe zeichnen
sich (noch) nicht durch die Fähigkeit aus,
Forderungen aufzustellen, die dem Ausmaß
der Krise und der Angriffe der Sparpläne
ebenmäßig wären.
Die
neue relative Gleichzeitigkeit der Angriffe
des Kapitals sollte in Europa eigentlich helfen,
den Widerstand zu koordinieren. Die Sparpläne
konvergieren und rufen in jedem Land Proteste
auf den Plan. Was fehlt, ist allein der Wille
oder die Vorstellungskraft, europaweit gemeinsam
vorzugehen. Der Europäische Gewerkschaftsbund
(EGB) begnügt sich gegenwärtig damit,
für den 29. September zu einer gemeinsamen
Demonstration in Brüssel aufzurufen –
an einem Mittwoch, was bedeutet, dass es die
xte Reise einiger Tausend Gewerkschafts-funktionäre
in die EU-Hauptstadt wird, solange man nicht
zu einem EU-weiten Streik aufruft. Dies, obwohl
die angekündigten Sparpläne selbst
die Errungenschaften der Gewerkschaftsbürokratie
bedrohen … und die Gewerkschaften im spanischen
Staat für denselben Tag zu einem Generalstreik
aufrufen.
„Für
die sozialen Bewegungen hat die Krise widersprüchliche
Auswirkungen“, schreibt Michel Husson.
„Einerseits gibt sie den Kritikern eines
Systems recht, dessen Grundlagen durch die Krise,
deren Ausmaß die chronische Instabilität
und wachsende Irrationalität offenbart,
untergraben werden. Andererseits aber zwingt
sie die Kämpfe in eine defensive, oft unkoordinierte
Haltung. Diese Spannung hat schon immer bestanden,
doch durch die Krise spitzt sie sich zu. Gefragt
ist geschlossener Widerstand gegen die Maßnahmen
zur „Überwindung der Krise“,
wobei gleichzeitig eine radikale Alternative
angeboten werden muss.“8
Ein
Ausweg aus der Krise würde die weitreichende
Verschiebung der Einkommensverteilung zulasten
des Kapitals und zugunsten der Arbeit erfordern.
Die Ungleichheiten müssen abgebaut werden:
einerseits durch Erhöhung der Lohnmasse
sowohl bei den direkten Löhnen als auch
bei Lohnnebenkosten (der sozialen Sicherheit),
andererseits durch einen Umbau des Steuerwesens
zulasten der Dividenden, die wirtschaftlich
keinerlei Rechtfertigung und gesellschaftlich
keinerlei Nutzen haben. Der Abbau der Budgetdefizite
ist nur durch Besteuerung aller Formen von Einkommen
möglich, die infolge der neoliberalen „Reformen“
von Steuern befreit wurden. „Erneut hat
sich erwiesen, dass die Verstaatlichung des
Bankensystems technisch wie politisch gerechtfertigt
ist: Der Rettungsplan für den Euro ist
faktisch ein neuer Rettungsplan für die
europäischen Banken, den Hauptgläubigern
der Schulden Griechenlands und anderer von Spekulation
bedrohter Länder. Die beste Lösung,
um die miteinander verbundenen Schulden loszuwerden,
wäre eine vollständige Verstaatlichung.
Damit könnten sie ein für alle Mal
ausgeglichen, neu verteilt oder aufgelöst
werden. Von den automatischen Folgen der Krise
für die Einnahmen abgesehen, entsprechen
die öffentlichen Schulden im Wesentlichen
all den Steuergeschenken an Unternehmen und
Rentiers. Die Logik erfordert, dass sie gestrichen
oder weitgehend restrukturiert werden.“9
Eine
Antwort auf die „Schuldenkrise“
erfordert also radikale Lösungen. Vorschläge
dazu gibt es: die Streichung der öffentlichen
Schulden, ein Bürgeraudit zur Streichung
dieser Schulden, die Enteignung von Banken und
deren Überführung in den staatlichen
Sektor, die Verstaatlichung von Banken oder
einheitliche öffentliche Bankdienstleistungen
unter Kontrolle der ArbeiterInnen und der Bevölkerung
sind einige der vom Komitee zur Streichung der
Schulden der Dritten Welt (CADTM) erhobenen
Forderungen oder internationalen Appellen, die
unter anderem von der revolutionären Linken
in Großbritannien, dem portugiesischen
Linksblock, der Polnischen Arbeiterpartei und
der Neuen antikapitalistischen Partei (NPA)
in Frankreich erhoben werden.10 Solche
Forderungen bilden eine „Brücke“,
eröffnen Übergänge von den defensiven
Mobilisierungen gegen die vorgesehenen Maßnahmen
zur Zerschlagung der Errungenschaften und Hoffnungen
auf eine mögliche „andere Welt“.
Die Radikalität der Lösungen auf die
kapitalistische Krise ebenso wie das Ausmaß
der von den Vertretern des Kapitals in Europa
lancierten Angriffe machen den Aufbau eines
gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses
erforderlich. Angesichts der Schwäche traditioneller
europäischer Mobilisierungen und der mangelnden
Koordinierung der gegenwärtigen Abwehrkämpfe
in verschiedenen Ländern, aber auch des
in Arbeiterorganisationen, Parteien und Gewerkschaften
vorherrschenden „nationalen“ Konservativismus
und der relativen Schwächung der globalisierungskritischen
Kräfte in Europa11 müssen
AntikapitalistInnen ihren Einfallsreichtum und
ihre Fähigkeit zur Initiative unter Beweis
stellen, um diese Aufgabe in Angriff zu nehmen.
Das bedeutet einerseits, die Initiative für
europäische Aktionen mit denjenigen politischen
Gruppen, Gewerkschaften und Verbänden zu
ergreifen, die dafür bereits bereit sind,
auch wenn diese Aktionen anfangs nur einen Minderheit
erreichen, um so den Weg einer möglicher
Mobilisierung aufzuzeigen. 12 Es bedeutet
anderer-seits, alle Gelegenheiten zu ergreifen
– selbst solche, die als Routine erscheinen,
wie der Aufruf des EGB zur Demonstration im
September –, um auf möglichst breite
Mobilisierungen hinzuarbeiten und diese mit
radikalen Forderungen zu bereichern, wie sie
die Situation erfordert; allen voran die Forderung
nach Streichung der öffentlichen Schulden13
und Vergesellschaftung des Banken- und Kreditwesens,
die angesichts der Rechtfertigung der Sparpläne
durch die Regierungen und des in den Augen der
breiten Bevölkerung illegitimen Charakters
der Schulden leicht einsichtig ist.
Für
AntikapitalistInnen bedeutet das auch, solidarische
Beziehungen aufzubauen und die Zusammenarbeit
zwischen den sich in verschiedenen Ländern
entwickelnden nationalen Mobilisierungen gegen
die Sparpläne zu suchen, um diese Sparpläne
der Europäischen Union gemeinsam bekämpfen
zu können. Denn die große Mehrheit
der europäischen ArbeiterInnen steht den
verschiedenen Sparmaßnahmen laut Umfragen
ablehnend gegenüber, ist aber auch orientierungslos
und zweifelt an der Möglichkeit, sie erfolgreich
abzuwehren. Dabei fallen die Erfahrungen aus
den vereinzelten unkoordinierten Mobilisierungen
der letzten Jahre ins Gewicht, die von den Gewerkschaftszentralen
routinemäßig organisiert wurden und
im Allgemeinen die neoliberale Politik nicht
aufhalten konnten – mit der beachtenswerten
Ausnahme der Mobilisierung gegen die Rückzahlung
der Schulden in Island, die ein Referendum durchsetzen
konnte, in dem die Pläne der Regierung
dann mit 93,2 Prozent abgelehnt wurden. Aus
der Routine auszubrechen und die Initiative
für europäische Kämpfe zu ergreifen,
könnte zum Stimmungswechsel beitragen.
Jan
Malewski, Inprecor-Redakteur und Mitglied des
Exekutivbüros der IV. Internationale.
Aus
dem Französischen: Tigrib
1
Vgl. Pierre Dardot (Co-Autor mit Christian Laval
von La Nouvelle Raison du monde, La Découverte,
Paris 2009): „Qu‘est-ce que la rationalité
néolibérale ? Sa généalogie,
la question
de la démocratie, le projet alternatif
(Monatssitzung
des „Club socialisme maintenant“
vom
13. März 2010), http://www.socialisme-maintenant.
org
2
Ebenda.
3 Ebenda.
4
Ebenda.
5 Ebenda.
6
Der Begriff „Beitragsleistungen“
ist in diesem
Fall missbräuchlich, denn die Beamten in
Frankreich haben, im Gegensatz zu den Privatangestellten,
keine Pensionskasse. Ihre Renten
werden aus dem Staatshaushalt bezahlt und die
Einnahmen aus diesem Budget dürfen nicht
im
Voraus verwendet werden. Durch Erhöhung
der „Beitragsleistungen“ senkt der
Staat ganz
einfach seine Lohnkosten.
7
Vgl. dazu Özlem Onaran: Crise fiscale ou
crise
de distribution? In: Inprecor Nr. 562/563.
8
Michel Husson, „Quelles réponses
progressistes“,
Artikel zur Veröffentlichung in Les
temps nouveaux, abrufbar unter http://hussonet.
free.fr und unter http://www.cadtm.
org/%EF%BB%BFQuelles-reponses-progressistes.
9 Ebenda.
10
Vgl. Appel du CADTM. Pour une mobilisation
européenne contre la dictature des créanciers.
In: Inprecor 562/563, S. 13f.
11 Davon zeugt die relative Schwäche des
letzten
Europäischen Sozialforums in Malmö
(Schweden)
im September 2008.
12 Der Aufruf der Abgeordneten der europäischen
Linken zu koordinierten Massendemonstrationen
in der Woche vom 21. zum 27. Juni 2010
geht in diese Richtung, siehe S. 14 dieser
Ausgabe////siehe Inprecor Nr. 562/563, S. 14.
13 Das CADTM schlägt ein Vorgehen in diese
Richtung vor, nämlich ein „einseitiges
Moratorium
(ohne Verrechnung der Verzugszinsen) auf
die Zahlung der Staatsschulden, bis ein Audit
unter Beteiligung der Bevölkerung über
die öffentlichen
Darlehen durchgeführt werden kann“,
um „auf der Grundlage der Ergebnisse des
Audits
die illegitimen Schulden zu streichen“.
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