Am
16. Februar hat Clariant-Chef Kottmann an
der Zürcher Börse den Abbau weiterer
1'000 Arbeitsplätze angekündigt.
Innerhalb von zehn Jahren wird der Personalbestand
von 31'000 auf 15'000 Beschäftigte halbiert
sein. 400 Stellen sollen am Hauptsitz in Schweizerhalle
(Muttenz BL) abgebaut werden. Alle Textilbereiche
werden verlagert (nach Asien und Spanien).
Weniger als Hundert Produktionsarbeiter werden
am Standort verbleiben.
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Protestaktion
der Clariant-Belegschaft am 11. März
2010. |
Die
wichtigsten Partner
Kottmann
hat den Ort der Medienkonferenz nicht zufällig
gewählt. Trotz allem Geschwätz über
„Sozialpartnerschaft“ und „Verantwortung
für die Region“ richten solche
Konzerne ihre Botschaften zuerst einmal an
die wichtigsten „Partner“ in der
internationalen Finanzgemeinde (Aktionäre,
Investoren, Banken, Rating- Agenturen). Sie
wissen, dass ihnen die politischen Behörden
zu Fuss liegen und die Gewerkschaften den
Ereignissen hilflos gegenüber stehen.
Nach den Personalversammlungen vom 18. Februar
kündigte die Gewerkschaft Unia zwar „Kampfmassnahmen“
an. Sie meint damit eine Kundgebung vor dem
Werkareal und dem Landrat in Liestal am 11.
März. Als es in der Basler Chemie noch
eine gewerkschaftliche Verankerung gab, hatte
der Begriff noch eine andere Bedeutung.
Um
die heutigen Ereignisse zu verstehen, muss
man die Geschichte kennen. Das Programm von
CEO Kottmann steht für das Ende von dem,
was die „Basler Chemie“ einmal
war. Die Reaktion der Gewerkschaft erinnert
an den Untergang einer stolzen Gewerkschaftstradition.
Und der Ort des Geschehens sollte ein Vierteljahrhundert
nach der Brandkatastrophe von Schweizerhalle
Anlass geben, über die „Ökobilanz“
der Chemieindustrie nachzudenken.
Von
Farben zu Pharma
Mit
Ausnahme von Hoffmann- LaRoche sind alle Grossunternehmen
der Basler Chemie aus der Farbenproduktion
des 19. Jahrhunderts entstanden. Sie haben
sich im 20. Jahrhundert in verschiedene Bereiche
diversifiziert (Medikamente, Agrobusiness,
Vitamine, chemische Zwischenprodukte für
verschiedene Industriezweige). Obwohl diese
Unternehmen ihre Tätigkeiten früh
internationalisiert haben, bauten sie nach
dem Zweiten Weltkrieg auch in der Region ihre
Werkareale weiter aus. Wichtige Standorte
waren neben den Stadtwerken der Standort Schweizerhalle
das untere Fricktal (Stein, Sisseln), das
grenznahe Frankreich (Huningue) und Deutschland
(Grenzach, Wehr). Die chemische Industrie
war eine Schlüsselbranche der wirtschaftlichen
Expansion und Modernisierung des westlichen
Kapitalismus im Kalten Krieg, und die „Basler
Chemie“ hatte sich auf meist hoch veredelte
Produkte („Spezialchemikalien“)
spezialisiert, die überdurchschnittliche
Gewinnmargen versprachen.
Die
in den 1970er Jahren aufbrechende kapitalistische
Struktur- und Formkrise konnte an der Branche
nicht spurlos vorbeigehen. In den 1990er Jahren
war das Wirtschaftswachstum vergleichsweise
tief, aber die Kosten des Gesundheitswesens
stiegen stark. Ganz im Einklang mit dem Erwartungshorizont
der Anleger und Investoren begannen die Unternehmen
ihre Geschäftsbereiche neu zu ordnen.
Als Ciba- Geigy und Sandoz 1996 fusionierten
und den Novartis-Konzern bildeten, wollten
sie nicht nur grösser werden und Marktmacht
gewinnen. Mindestens so sehr wurde das Ziel
angestrebt, sich auf das rentabelste Geschäft
(Pharma) zu konzentrieren und den Rest loszuwerden.
Sandoz hatte die Industriechemikalien 1994
abgestossen und dem neu gegründeten Unternehmen
Clariant übertragen. Ciba-Geigy tat im
Zuge der Fusion dasselbe und gründete
die Ciba SC. 1999 stiess Novartis auch das
Agrobusiness ab und führte es mit dem
schwedischbritischen Konzern AstraZeneca in
der neuen Firma Syngenta zusammen, die heute
mit Monsanto (USA) den Weltmarkt für
Pflanzenschutzmittel und Saatgut dominiert.
Das
Ende der Basler Chemie
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Clariant-Arbeiter
in Huningue (FR). „Wir mästen
und mästen das Schwein - doch wann
essen wir es? |
Während
die Pharma-Konzerne Roche und Novartis heute
in der Champions League der Börsenlieblinge
mit enormen Profiten mitspielen und auch weiterhin
in der Region Basel Produktionsanlagen betreiben
und erneuern, weht bei den Chemiefirmen ein
rauer Wind. Die Ciba SC existiert nicht mehr
als eigenständiges Unternehmen, die wichtigsten
Einheiten wurden an die Huntsman-Gruppe (USA)
und BASF (D) verkauft. Die von Huntsman betriebene
Farben-Produktion in Basel, einst der ganze
Stolz von Ciba-Geigy, ist von Personalabbau
betroffen und droht nach Asien verlagert zu
werden. Syngenta hat die Produktion in Schweizerhalle
2007 geschlossen. BASF kündigte im Sommer
2009 an, in der Schweiz 500 von 2'500 Stellen
zu streichen. Nun steht mit der Ankündigung
Kottmanns die Produktion in Schweizerhalle
zur Disposition, und auch das Clariant- Werk
in Huningue soll geschlossen werden. Damit
gehört der Begriff „Basler Chemie“
endgültig der Vergangenheit an. Neben
den zwei Pharmakonzernen (und der relativ
jungen Biotech-Industrie) sind nun in der
Region Basel Chemieunternehmen tätig,
die nicht aus der Schweiz kommen und/oder
die traditionellen Produktionsbereiche, allen
voran die Farbenchemie, abbauen oder schliessen.
Der Clariant- Konzern, der seit Jahren eine
Restrukturierung an die andere reiht, ist
eine Mischung aus diesen Trends. Entstanden
durch Ausgliederung aus der Sandoz hat er
1997 an Gewicht gewonnen durch Übernahme
der zweimal grösseren Chemieabteilung
von Hoechst. Obwohl der Hauptsitz von Clariant
in der Schweiz liegt (und bleiben soll), besteht
die Führungsriege um Hariolf Kottmann
aus Managern, die von Hoechst (Frankfurt/Main)
kamen.
Streik
vor 66 Jahren
Im
Winter 1943/44 streikten die Chemiearbeiter
in Schweizerhalle. Als der Kampf auf die Basler
Stadtwerke überzugreifen drohte, gaben
die Industriellen nach und zeigten sich bereit,
mit der in den Kriegsjahren neu gegründeten
Gewerkschaft über einen Gesamtarbeitsvertrag
zu verhandeln, der im Januar 1945 unterzeichnet
wurde. Es war der erste richtige GAV in einer
führenden Industriebranche der Schweiz.
Anders als in der Maschinenindustrie, in der
1937 das „Friedensabkommen“ geschlossen
wurden, konnten die Chemiearbeiter eine kollektive
Regelung der Arbeitsbedingungen durchsetzen
und die Handlungsfreiheit der Unternehmensführungen
tatsächlich einschränken. Zwar galt
auch mit dem Basler GAV der Arbeitsfrieden,
aber immerhin waren Löhne und Arbeitszeiten
klar geregelt und die gewerkschaftliche Präsenz
in den Betrieben blieb nicht ohne Wirkung
auf den Arbeitsalltag. So galt dieser Vertrag
lange Zeit als „bester GAV der Schweiz“.
Doch je mehr Wasser den Rhein hinunter floss,
umso mehr wurde diese Aussage zu einem Mythos,
der heute – wenn überhaupt –
mit mehr Verzweiflung als Überzeugung
hochgehalten wird. Denn die Chemieindustriellen
blieben nach der Niederlage von 1945 nicht
untätig. Sie verfolgten eine Doppelstrategie,
um das Heft wieder in die Hand zu nehmen.
Zum einen spielten sie die ihnen treu ergebenen
Angestelltenverbände gegen die Gewerkschaft
aus, indem sie deren Mitgliedern kleine Privilegien
zukommen liessen (reduzierte Preise beim Kauf
von Produkten des Unternehmens, getrennte
Eingangstore für Angestellte und Arbeiter
zu den Industriearealen, getrennte Kantinen,
weisse Kittel für Laboranten wie für
die „Doktoren“ im Labor usw.).
Zum anderen nutzten sie die neuen Arbeiterkommissionen
(heutige Personalvertretungen), um die Gewerkschaftsverantwortlichen
bei der Entwicklung betrieblicher Funktions-
und Leistungslohnsysteme, welche letztlich
die Lohnbestimmungen des GAV aushöhlen
und ersetzen sollten, mit einzubeziehen. Gewerkschaftsfunktionäre
und Arbeiterkommissions-präsidenten waren
bald voll eingespannt in die Umsetzung scheinbar
„gerechter“ Arbeitsplatzbewertungen
und setzten die neuen Lohnbestandteile gegenüber
einer zu Beginn mindestens skeptischen Basis
durch. In der Zeit des starken Wirtschaftswachstums
expandierte die „Basler Chemie“
massiv und die Löhne der Arbeiter stiegen
stark. Bald schon wohnten sie mit ihren Familien
nicht mehr in den Stadtquartieren in Fabriknähe,
sondern in „besseren Wohngegenden“,
und kamen mit dem Auto zur Arbeit. Unter den
Angestellten in den Büros und Labors,
die heute eine Mehrheit des Personals stellen,
haben die Gewerkschaften immer noch nicht
Fuss gefasst, obwohl dies seit den 1960er
Jahren als wichtiges Ziel deklariert wurde.
Von
McKinsey zur Fusion
Zu
Beginn der 1980er Jahre begann der Wind zu
drehen. Erstmals tauchten Berater von McKinsey
& Co. auf, um überall Sparmöglichkeiten
aufzuzeigen. Bei den GAV-Verhandlungen 1983/84
wollten die Industriellen erstmals den Teuerungsausgleich
abschaffen. Darauf vermochte die Gewerkschaft
noch mit einer Demo von gegen 10'000 Personen
in Basel zu reagieren. Doch zehn Jahre später
brachen die gewerkschaftlichen Positionen
wie ein Kartenhaus beim ersten Windstoss zusammen.
Der Teuerungsgleich wurde abgeschafft, die
Lohnregelungen aus dem GAV gestrichen und
die Arbeitszeit flexibilisiert (Jahresarbeitszeit).
Mit dem Rücken zur Wand führten
die Gewerkschaftsverantwortlichen im Winter
1995/96 eine Urabstimmung durch. Angesichts
der drohenden Aushöhlung des GAV stimmte
eine Mehrheit für die Vorbereitung von
Kampfmassnahmen. Doch die Verantwortlichen
verzichteten darauf mit dem Argument, es hätten
sich zu wenige Mitglieder an der Abstimmung
beteiligt. Damit hat die Gewerkschaft (damals
noch Gewerkschaft Bau & Industrie GBI)
für einen längeren Zeitraum die
letzte Möglichkeit verpasst, den Gang
der Ereignisse zu beeinflussen. Kurz nach
Unterzeichnung des nun weitgehend „leeren“
GAV wurde im Frühling 1996 die Novartis-
Fusion mit dem Abbau von 10'000 Arbeitsplätzen
angekündigt. Dann gliederte der neue
Konzern die Handwerkerbereiche und damit einen
Grossteil der Gewerkschaftsmitglieder einfach
aus. Die 2004 durch die Fusion von GBI und
SMUV entstandene grösste Gewerkschaft
in der Schweiz, Unia, spielt (auch) in der
Pharma- und Chemiebranche heute nur eine Rolle
als „kritische Beobachterin“ von
Managemententscheiden und Verwalterin von
Mitglieder- und „Solidaritätsbeiträgen“,
welche die Unternehmen als Dank dafür
zahlen, dass der Anschein einer organisierten
Personalvertretung aufrecht erhalten bleibt.
Ihre Handlungsfähigkeit liegt nahe am
Nullpunkt, wie die aktuelle Reaktion auf die
Ankündigung von Clariant zeigt. Je schwächer
die Präsenz in den Fabriken, Büros
und Labors ist, umso mehr versuchen die Gewerkschaftsverantwortlichen,
die Bedeutung ihrer Rolle als aufgeklärte
Sozialpartner zu demonstrieren. Aber wer kann
es ernst nehmen, wenn in der Presse der Unia
zum Beispiel nach der letzten Erneuerung des
GAV das Bild vom einsamen Gewerkschaftshelden
Corrado Pardini (Branchenleiter Chemie und
Pharma bei Unia) gezeichnet wird, der den
Konzernen in harten Verhandlungen Konzessionen
abgerungen hat? Gewerkschaftsarbeit hatte
früher etwas mit Präsenz im Betrieb
und kollektiver Organisierung zu tun. Heute
ist es eine Mischung aus stiller Kooperation
der „Sozialpartner“ und plumper
Propaganda, die von niemandem wirklich ernst
genommen wird.
Die
Brandkatastrophe 1986
Am
1. November 1986 brach in einer Lagerhalle
von Sandoz im heutigen Clariant- Areal ein
Grossbrand aus. In Basel heulten die Sirenen,
der Rhein wurde rot und die Fischbestände
gingen teilweise bis nach Rotterdam ein. Mit
diesem Ereignis wurde Schweizerhalle über
Nacht international bekannt. Aber es war nur
die Spitze eines Eisbergs, dessen Ausmasse
wir bestenfalls erahnen können. Die „Basler
Chemie“ hat in ihrer 150jährigen
Geschichte die Umwelt stets mit Abfällen
belastet. Lange Zeit wurde der Rhein als natürlicher
Abfallbehälter benutzt und es war nicht
aussergewöhnlich, dass sich die Farbe
des Flusses vorübergehend veränderte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Unternehmen
mit dem Ablagern von Chemikalien in Deponien
der Region – ein Umweltproblem, das
seit den Auseinandersetzungen um Bonfol (JU)
einer breiteren Öffentlichkeit bekannt
geworden ist. Bis heute verfolgen die verantwortlichen
(Nachfolge-)Unternehmen eine systematische
Politik des Verschweigens von Problemen und
Informationen, des Verhinderns ernsthafter
Untersuchungen von Böden und (Trink-)Wasser
sowie der minimalistischen Sanierung in den
Fällen, in denen sie praktisch gezwungen
sind, etwas zu unternehmen. Die jüngsten
Auseinandersetzungen um das Trinkwasser aus
der Hard und die Sanierungen in Grenzach zeugen
ausserdem davon, dass die Behörden sich
stets auf die Seite der Unternehmen stellen,
wenn nicht massiv politischer Druck ausgeübt
wird.
Zahlreiche
Produkte der „Basler Chemie“ stell(t)en
ein Problem für Mensch und Umwelt dar.
Am bekanntesten ist das Insektizid DDT, das
Geigy während dem Zweiten Weltkrieg zu
produzieren begann. Die meisten westlichen
Industrieländer haben es ab den 1970er
Jahren verboten, weil es Krebs auslösen
kann. Heute tragen Agro-Produkte von Syngenta
nicht nur zu Umweltverschmutzung bei, sondern
auch zur Zerstörung traditioneller Formen
von Landwirtschaft zu Gunsten von agroindustrieller
Grossproduktion und genmanipulierter Pflanzen
in den Ländern des Südens. Millionen
von Bauernfamilien verlieren ihre Existenzgrundlagen.
Ähnlich sind die Pharmakonzerne für
die Privatisierung des Gesundheitswesens und
Verschlechterung der Pflegeeinrichtungen mit
verantwortlich. Sie Verhindern die Herstellung
von Medikamenten, die für unzählige
Menschen lebenswichtig wären. Und all
die von den Chemieunternehmen (mit-)hergestellten
Produkte tragen zur Vergrösserung der
weltweiten Abfallberge bei, die zu einem Hauptproblem
für die Zukunft der Menschheit auf dem
Planeten geworden sind (vgl. das Interview
mit J.M. Naredo in dieser Nummer).
Notwendige
industrielle Konversion
Es
kann heute bei Clariant – wie etwa in
der Autoindustrie – nicht darum gehen,
Arbeitsplätze zum Selbstzweck zu verteidigen.
Wenn der Staat (Kanton BL) aufgefordert wird
(etwa durch die Gewerkschaft Unia), die Entwicklung
eines Industrieparks zu unterstützen,
dürfen nicht einfach Restrukturierungs-
und Investitionsentscheide privater Unternehmen
subventioniert werden. Stattdessen ist eine
breite Diskussion angesagt, was und wie in
Schweizerhalle produziert werden soll, sowie
eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der
Öko-Bilanz der „Basler Chemie“.
Zum Beispiel müssten die verschmutzten
Böden auf dem Areal saniert werden, bevor
es in einen „Industriepark“ umgewandelt
wird. Die Forderung nach einer Arbeitsplatzgarantie
für alle Beschäftigten ist gerechtfertigt,
wenn sie nicht nur dazu führt, durch
den Konzern verursachte soziale und menschliche
„Kosten“ auf den Staat abzuwälzen,
sondern mit einer Diskussion über Strategien
der industriellen Konversion verbunden wird.
Das kann nicht ohne gesellschaftliche Aneignung
von Produktionsanlagen und Industrieareal
gedacht werden. Für die Gewerkschaftspolitik
müsste dies heissen, über folgendes
Szenario mindestens zu diskutieren: Die von
Clariant aufgegebenen Fabriken werden besetzt
und weiter betrieben, um in Diskussion mit
einer breiten Öffentlichkeit Konzepte
einer alternativen Industriepolitik zu entwickeln,
die den ökologischen und gesellschaftlichen
Problemen der Branche Rechnung trägt.