Die
Expertengruppe für Konjunkturprognosen
des Bundes sieht für 2009 einen Rückgang
der Wirtschaftsleistung von 0.8 Prozent voraus
und hofft für 2010 auf ein Wirtschaftswachstum
von 1 Prozent. Die Arbeitslosenquote soll
von 2.6 Prozent (2008) auf 4.3 Prozent (2010)
ansteigen1. Es ist
allerdings gut möglich, dass der Krisenverlauf
schärfere Auswirkungen haben wird, als
es die Experten prognostizieren. Nur eines
ist gewiss: Die in den vergangenen zwei Jahrzehnten
eingetretene Verfestigung einer strukturellen
Massenerwerbslosigkeit in der Schweiz hält
an.
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Temporäragenturen
wie Adecco wollen stärker ins Geschäft
mit den Arbeitslosen einsteigen. |
Ein
Land ohne Erwerbslosigkeit?
Im
wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit
galt die Schweiz als Land ohne Erwerbslosigkeit
– im Gegensatz zu den südeuropäischen
Ländern, aus denen viele so genannte
„GastarbeiterInnen“ auf helvetische
Baustellen oder in die Hotels und Restaurants
der Schweiz strömte. Arbeitslosenkassen
gab es zwar seit dem 19. Jahrhundert. Viele
waren durch Gewerkschaften gegründet
worden, und seit 1924 subventionierte der
Bund solche Kassen. Zu Beginn der 1970er Jahre
waren aber nur etwa 20 Prozent der Erwerbstätigen
gegen Erwerbslosigkeit versichert, es gab
keine Versicherungspflicht. Das änderte
sich mit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise
Mitte der 1970er Jahre: In Windeseile richtete
der Bundesrat nun eine obligatorische Versicherung
ein. Dennoch blieb die Arbeitslosenquote in
den 1980er Jahren unter 1 Prozent, weil viele
ausländische Arbeitskräfte „nach
Hause geschickt wurden“. Diese konjunkturelle
Pufferfunktion der MigrantInnen verhinderte,
dass die Schweiz in den 1980er Jahren wie
die Nachbarländer eine hohe Arbeitslosigkeit
erlebte.
Der
Schock war umso heftiger, als die Zahl der
registrierten Arbeitslosen zwischen 1990 und
1993 von 18'133 auf 163'135 in die Höhe
schnellte. Die offizielle Arbeitslosenquote
stieg erstmals seit der Zwischen-kriegszeit
stark an, der (vorläufige) Höhepunkt
wurde 1997 mit 5.2 Prozent erreicht. Danach
war die Erwerbslosigkeit rückläufig,
bis in den Jahren 2002 bis 2004 erneut ein
deutlicher Anstieg erfolgte. Im Januar 2009
lag die Arbeitslosenquote bei 3.3 Prozent.
Zwar steigt und sinkt die Arbeitslosenquote
bis zu einem gewissen Grad mit den Konjunkturzyklen
der Wirtschaft, aber es hat sich in der Schweiz
seit den 1990er Jahren eine dauerhafte Massenerwerbslosigkeit
eingestellt, die auch in den Jahren mit einem
höherem Wachstum nicht verschwindet.
Die Erwerbslosigkeit ist kein vorüber-gehendes
oder marginales Phänomen auf dem schweizerischen
Arbeitsmarkt mehr, sie zählt nun zu den
strukturellen Grundlagen und Funktionsweisen
dieses Arbeitsmarkts2.
Workfare
und statistische Nebeneffekte
Wie
haben die politischen Behörden auf diese
Entwicklung reagiert? Sie haben Veränderungen
bei der Arbeitslosenversicherung eingeführt,
die vor allem darauf abzielen, mehr Druck
auf die Erwerbslosen auszuüben und die
offizielle Arbeitslosenquote möglichst
tief zu halten. 1995 wurden die Regionalen
Arbeitsvermittlungszentren (RAV) eingerichtet,
welche die Erwerbslosen bei der Suche nach
einem neuen Job eher kontrollieren als beraten.
Die RAV sind zum Dreh- und Angelpunkt des
sogenannten Gegenleistungs-modells in der
Arbeitslosenversicherung geworden. Die Erwerbslosen
sollen keine Taggelder mehr beziehen, ohne
Gegenleistungen zu erbringen – obwohl
sie durch die in die ALV bezahlten Lohnabzüge
eigentlich ein Recht auf Taggelder erworben
haben. Früher gingen sie aufs Arbeitsamt
stempeln, um ihre Leistungen zu beziehen.
Heute müssen sie eine gewisse Anzahl
Bewerbungen pro Monat schreiben, an Kursen
oder Beschäftigungsprogrammen teilnehmen
und jede „zumutbare Arbeit“ annehmen.
Sie dürfen nicht darauf beharren, eine
Stelle in ihrem Beruf und/oder in derselben
Stadt oder Region zu finden; sie müssen
auch schlechtere Angebote annehmen, sonst
werden ihnen Taggelder gestrichen. 2003 wurden
markante Leistungskürzungen eingeführt,
vor allem die Reduktion der maximalen Bezugsdauer
von 520 auf 400 Taggelder und die Erhöhung
der für die Bezugsberechtigung erforderlichen
Beitragsdauer von 6 auf 12 Monate.
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Trotz
Wirtschaftskrise will Bundesrätin
Doris Leuthard an der vierten Revision
der Arbeitslosenversicherung festhalten. |
Der
Kerngedanke dieser Massnahmen lässt sich
mit dem Begriff Workfare umschreiben: Es geht
nicht um die Befriedigung der Bedürfnisse
der Erwerbslosen, sondern darum, diese so
rasch wie möglich und zu jedem Preis
– in der Regel zu schlechteren Anstellungs-
und Arbeitsbedingungen – wieder zur
Aufnahme einer Erwerbsarbeit zu bringen3.
Diese Politik produziert einige, von den Behörden
wohl durchaus erwünschte statistische
Nebeneffekte. So liegt die offizielle Arbeitslosenquote
tiefer, als sie sein müsste, weil diejenigen
Erwerbslosen, die ein Beschäftigungs-programm,
eine Weiterbildung etc. absolvieren oder einen
Zwischenverdienst haben, nun nicht mehr als
Arbeitslose gelten, sondern als Stellensuchende.
Im Dezember 2008 wies die offizielle Statistik
118'762 Arbeitslose aus; zusammen mit den
Stellensuchenden waren aber knapp 180'000
Erwerbslose registriert. Die offizielle Quote
von 3 Prozent verdeckt also die Tatsache,
dass die Quote der auf den RAV angemeldeten
Erwerbslosen bei ca. 4.5 Prozent liegt. Ein
anderes Beispiel, wie die Gesetzesrevisionen
sich in statistischen Zerrbildern niederschlagen,
ist die Langzeitarbeitslosigkeit. Der Anteil
der Langzeitarbeitslosen (über ein Jahr
erwerbslos) ist seit 1998 (knapp 35 Prozent)
auf heute ca. 15 Prozent gesunken. Dies ist
zum Teil dem konjunkturellen Aufschwung von
2003 bis 2007 zuzuschreiben; es hat aber auch
damit zu tun, dass Erwerbslose seit der Revision
von 2003 schneller ausgesteuert werden (nach
400 statt 520 Tagen). Sie verschwinden dann
aus der Arbeitslosenstatistik – und
tauchen teilweise in der Invalidenversicherung
oder bei der Sozialhilfe wieder auf. 2006
bezogen ca. 245'000 Personen Sozialhilfe,
und 256'300 Menschen hatten eine IV-Rente.
Diese Zahlen geben einen Hinweis auf das Ausmass
der versteckten Erwerbslosigkeit in der Schweiz.
Die
vierte Revision
Am
3. September 2008 hat der Bundesrat seine
Botschaft für eine weitere Revision des
Gesetzes über die Arbeitslosenversicherung
(AVIG) an das Parlament gerichtet. Dabei sollen
einerseits zusätzliche Finanzierungsquellen
für die defizitäre Einrichtung erschlossen
werden: Die Beiträge sollen von 2 auf
2.2 Lohnprozente (vorübergehend 2.3 Prozent)
erhöht werden, und auf die Einkommen
zwischen 126'000 und 315'000 Franken soll
vorübergehend ein „Solidaritätsbeitrag“
erhoben werden, bis die Arbeitslosenversicherung
saniert ist4. Diese
Massnahmen nehmen die Behörden zum Vorwand,
um die vorgesehenen Leistungskürzungen
als Teil einer „ausgewogenen Vorlage“
zu präsentieren. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund
(SGB) hat jedoch festgestellt, dass die geplante
Revision „in Schieflage geraten“
ist; er hofft wieder einmal, dass das Parlament
die „Fehler des Bundesrates“ korrigiert5.
Die Hoffnung stirbt zuletzt…
Leistungskürzungen
sind vor allem in vier Bereichen geplant.(1)
Die Bezugsdauer soll nun von der Beitragsdauer
abhängig gemacht werden. Wer 12 Monate
Beiträge bezahlt hat, erhält nur
noch 260 (statt 400) Taggelder; erst mit 18
Monaten Beitragszeit gibt es einen Anspruch
auf 400 Taggelder. (2) Drastisch verschlechtert
werden die Leistungen für Versicherte,
die keine Beiträge zahlen – das
sind insbesondere Personen in Ausbildung.
Sie sollen erst nach einer Wartezeit von 120
Arbeitstagen Leistungen beziehen können,
und dann nur noch 90 statt 260 Taggelder.
Gerade Schul- und StudienabgängerInnen
werden von dieser Massnahme betroffen sein.
(3) Gespart werden soll auch bei den „arbeitsmarktlichen
Massnahmen“: Beschäftigungsprogramme
oder Zwischenverdienste werden nicht mehr
als Beitragszeit für einen zukünftigen
Taggeldanspruch angerechnet.
(4) Die Möglichkeit, die maximale Bezugsdauer
in Krisenregionen von 400 auf 520 Tage zu
erhöhen, soll wegfallen, und Personen
über 55 Jahren sollen 22 statt 18 Monate
Beitragszeit vorweisen müssen, um bis
zu 520 Taggelder beziehen zu können.
Sehr
ausgewogen ist diese Vorlage also nicht. Die
Leistungskürzungen würden Langzeitarbeitslose,
Menschen in befristeten und unsicheren Erwerbsverhältnissen
und junge wie auch ältere Erwerbslose
hart treffen – vor dem Hintergrund der
aktuellen Krise, die zu einer Zunahme von
Erwerbslosigkeit und prekärer Beschäftigung
führen wird.
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Die
Leistungskürzungen bei der ALV würden
StudienabgängerInnen ohne Job hart
treffen. |
Widerstand
ist notwendig
Es
ist sehr unwahrscheinlich, dass das Parlament
die Revisionsvorlage „ausgewogen“
gestalten wird, wie es der SGB wünscht.
Vielmehr besteht die Gefahr einer Verschärfung
der Leistungskürzungen, und die bürgerlichen
Parteien werden die Zusatzfinanzierungen in
Frage stellen. Die Notwendigkeit eines Referendums
gegen die vierte AVIG-Revision ist deshalb
bereits heute klar. Die Chancen auf ein erfolgreiches
Abstimmungsergebnis wären vor dem Hintergrund
der sich zuspitzenden sozialen Krise vielleicht
gar nicht so schlecht. So gelang es am 28.
September 1997, geplante Verschlechterungen
in der Arbeitslosen-versicherung in einer
Referendumsabstimmung vorerst zu verhindern
– gerade als die Arbeitslosenzahlen
auf dem Höchststand von ca. 200'000 Menschen
lagen. Das Referendum war von einem Erwerbslosenkomitee
in La Chaux-de-Fonds ergriffen und durch die
Gewerkschaften nur halbherzig unterstützt
worden, der Erfolg in der Abstimmung stellte
eine grosse Überraschung dar. Fünf
Jahre später gelang es dem Bundesrat
dann aber doch, die geplanten Verschlechterungen
in einer neuen Vorlage durchzusetzen. Vielleicht
können wir von der damaligen Kampagne
etwas für den heutigen Kampf für
die Rechte der Erwerbslosen und Lohnabhängigen
lernen.
Zwei
UBS und ein (Alb-)Traum
Der
Kapitalismus ist ein System, das aus
jedem Unglück ein Geschäft
machen kann. Dies gilt auch für
ungesicherte Beschäftigung und
Erwerbslosigkeit. Die Agenturen für
Temporärarbeit (Adecco, Manpower,
etc.) konnten ihr Schmuddelimage als
Quasi-Sklavenhändler abstreifen
und stellen sich heute als wohltätige
Organisationen dar, die den Prekären
und Erwerbslosen helfen, neue Jobs zu
finden. Die Gewerkschaft Unia hat durch
den Abschluss eines Gesamtarbeitsvertrags
(GAV) mit dem Branchenverband Swissstaffing
im Juni 2008 die Temporäragenturen
als legitime Einrichtungen auf dem Arbeitsmarkt
anerkannt. FDPNationalrat und Unternehmer
Otto Ineichen (Otto’s Warenposten)
hat den Vorschlag lanciert, dass Erwerbslose
mit guten Chancen am Arbeitsmarkt gleich
an private Arbeitsvermittler weitergereicht
werden sollen, um die RAV zu entlasten;
die privaten Agenturen sollen für
jeden Erwerbslosen, der wieder eine
Stelle findet, eine Erfolgsprämie
erhalten.6
Auch die so genannten Sozialfirmen geniessen
ein steigendes Ansehen. Sie beschäftigen
Erwerbslose zu sehr tiefen Löhnen,
die Sozialhilfe sichert das Existenzminimum.
In der Schweiz gilt die 1997 gegründete
Stiftung für Arbeit in St. Gallen
als Vorreiterin; sie beschäftigt
heute ca. 400 Personen und hat Niederlassungen
in Arbon, Zürich und Winterthur
eröffnet. Am 29. Oktober 2008 nahm
in Olten die Geschäftsstelle der
Arbeitsgemeinschaft Schweizer Sozialfirmen
(ASSOF) ihre Arbeit auf. Die ASSOF wird
von der Hochschule für Soziale
Arbeit (FHNW) unterstützt. Applaus
kommt auch von der Caritas: Dank Sozialfirmen
kann der Staat Sozialleistungen sparen,
und die Erwerbslosen tragen etwas zur
Wirtschaft bei.7
Wahrlich eine Win-Win-Situation! |
1
Medienmitteilung des SECO (16. 12. 2008):
Schweizer Konjunktur im weltwirtschaftlichen
Abwärtssog.
2 Jean-François Marquis:
Die neuen Formen
der Arbeitslosigkeit. Debatte (erste Serie)
(r.
7 / 2004, S. 9-17.
3 Kurt Wyss: Workfare. Sozialstaatliche
Re-
pression im Dienst des globalisierten Kapita-
lismus. Edition 8, 2007.
4 Im Gegensatz zur AHV sind
bei der Arbeits-
losenversicherung die Erwerbseinkommen ab
126'000 Franken beitragsbefreit. Dass höhere
Einkommen zur Finanzierung der Sozialversi-
cherungen beitragen, sollte eigentlich selbst-
verständlich sein. Anstatt von einem
„Solidaritätsbeitrag“ zu
sprechen, müsste
vielmehr betont werden, dass ein solidarischer
Ausgleich zwischen den Einkommensklassen
dauerhaft eingerichtet werden müsste.
5 Medienmitteilung des SGB
(3. 9. 2008): Re-
vision der Arbeitslosenversicherung. In Schief-
lage geraten – Parlament muss korrigieren.
6 Vgl. (ZZ, 17.1.2009: Schneller
zum privaten
Arbeitsvermittler; und (ZZ, 6.2.2009: Staat-
lich subventionierte Rosinenpickerei.
7 Vgl. Christin Kehrli: „Chance
Sozialfirmen.
(iederschwellige Arbeitsplätze auf dem
dritten
Arbeitsmarkt“, in: Caritas, Sozialalmanach
2009, S. 179-193. – Siehe auch die Webseiten:
http://www.stiftungfuerarbeit.ch; und http://
www.swisssocialfirms.ch/