Die Bilateralen Verträge zwischen
der Schweiz und der EU werden im Zusammenhang
mit dem Lohn- und Sozialdumping, das von
den Arbeitgebern forciert wird und das
den Kernstück der angeblichen Personenfreizügigkeit
bilden, breit debattiert. Es kann daher
nützlich sein, zuerst einmal einen
Blick über die Schweizer Grenzen
zu werfen und sich mit den Erfahrungen
in Deutschland und in anderen europäischen
Ländern zu befassen.
Der „Genosse
der Bosse“ scheitert
Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen
am 22. Mai bekam Bundeskanzler Schröder,
der für seine unternehmerfreundliche
Politik „Genosse der Bosse“
genannt wurde, die Quittung für
Hartz-Chaos, Massenarbeitslosigkeit
und die Einführung von 1 Euro-Jobs.
Im letzten Herbst waren Zehntausende
gegen Zwangsarbeit und Zwangsumzüge
auf die Strasse gegangen. Seitdem hielten
Wut und Hass gegen die Zerschlagung
der sozialen und arbeitsrechtlichen
Sicherungssysteme an und zwangen die
deutsche Bundesregierung zu vorgezogenen
Neuwahlen.
Die Wahl in Nordrhein-Westfalen und
die nun vorgezogenen Neuwahlen auf Bundesebene
sind ein klares Zeichen dafür,
dass die Mehrheit der Bevölkerung
die unsoziale Politik von Rot-Grün
ablehnt.
Nein zur neoliberalen
EU-Verfassung in Frankreich
In Frankreich hat der massive Nein
zum EU-Verfassungsvetrag, mit dem versucht
wurde, Liberalisierung, Privatisierung
und Sozialabbau europaweit zu festigen,
eine breite Ablehnung der Politik, die
in den letzten 20 Jahren von rechten
wie linken Regierungen verfolgt wurde.
Die Ablehnung des EU-Verfassungsvetrags
durch das französische Volk konnte
mit einer regelrechten medialen und
institutionellen Gehirnwäsche nicht
verhindert werden.
Die Themen, die in Frankreich im Zentrum
der Referendumsdebatte standen (Widerstand
gegen Lohn- und Sozialabbau und gegen
die Globalisierung des Kapitals) sind
die gleichen, die in der Schweiz am
25. September in der Abstimmung zu den
Bilateralen stehen werden!
Der
Unmut gegen die soziale Barbarei wächst
europaweit
Der
Unmut der Bevölkerung gegen die Politik
der Regierungen, die ihre Entsprechung
auf EU-Ebene (EU-Kommission und Zentralbank)
findet, wächst in den beiden genannten,
grossen Nachbarländern der Schweiz
wie in ganz Europa.
In
der EU-Verfassung werden das Verbot von
Hindernissen für die freie Kapitalbewegung,
das Verbot der Wiederherstellung der öffentlichen
Dienstleitungsmonopole (Bahn, Post, Elektrizität,
usw.) und die Unabhängigkeit der
Zentralbank, die eine für die unteren
Einkommen ruinöse Politik des starken
Euros betreibt, festgeschrieben. Die Staaten
werden verpflichtet, ihre militärischen
Kapazitäten zu erhöhen. Dazu
passt beispielsweise, dass in den letzten
Tagen, von den Medien unbemerkt der deutsche
Einsatz in Afghanistan verstärkt
wurde.
Die
sogenannte Bolkestein-Richtlinie der EU
will die Dienstleistungen in ganz Europa
dem konzentrierten Grosskapital öffnen
und die Lohnabhängigen untereinander
zu einer brutalen Konkurrenz um Arbeitsplätze
aufhetzen.
Auch
die Bildung ist im Zuge dieser „Reformen“
von einer tiefen Umstrukturierung betroffen:
Die Einführung des „Bologna“-Systems
(die in der Schweiz und an der Uni Zürich
begonnen hat), wird bald zu einer Explosion
der Studiengebühren führen.
Gute Bildung soll nur noch für die
Kinder einer finanzstarken Oberschicht
zugänglich sein.
Welches
Europa?
Die
Schweizer BefürworterInnen der Bilateralen
Verträge, in erster Linie die SP,
verkaufen diese als „Öffnung
gegenüber Europa“. Dabei zeigt
gerade die aktuelle Debatte in Frankreich,
dass eine ganz andere Frage im Zentrum
steht: Welches Europa? Mit welchen demokratischen
und sozialen Rechten, welchen Institutionen,
welchen politischen Prioritäten soll
es ausgestattet sein?
Sollen
beispielsweise Lohn- und Sozialstandards
im EU-Raum immer mehr nach unten gedrückt
werden, oder nicht doch dezidiert nach
oben (genauso wie es die besitzenden Klassen
für die eigenen Einkommen dank der
freien Kapitalbewegung auch verlangen),
auf Kosten der Profite der Besitzenden?
Soll
es um ein „neoliberales“ Europa
der Konzerne gehen oder um ein Europa
der arbeitenden Menschen, das von unten
aufgebaut wird und Eingriffe in die despotische,
undemokratische Macht der Grossfirmen
erlaubt?
Schweiz
wie Deutschland bald ein Billiglohnland?
„Eine
Klausel im EU-Recht macht die Bundesrepublik
zum Billiglohnland. Firmen feuern deutsche
Arbeiter und heuern osteuropäische
an – zu Dumpingpreisen (...) Durch
die Dienstleistungsfreiheit brechen alle
Dämme – und Kontrollen gibt
es nicht mehr. Löhne zwischen zwei
und drei Euro pro Stunde sind keine Ausnahme“:
dies schrieb Der Spiegel am 21.2.05.
Auch
in der Schweiz stellen aktive GewerkschafterInnen
immer mehr Lohndumping, unsichere Arbeitsplätze
und erzwungene Konkurrenz zwischen den
Lohnabhängigen fest.
Bei
der Lohndrückerei ist die Schweiz
schon lange eurokompatibel und steht an
vorderster Front. Lohn- und Sozialabbau,
keine Rechte am Arbeitsplatz, Zumutbarkeitsbestimmungen
bei Arbeitslosigkeit, Privatisierung der
rentablen öffentlichen Betriebe,
Steuererlass für die Superreichen
und immer höhere Steuern und Krankenkassenprämien
für die „Normalsterblichen“,
Abbau des Service public, gute Bildung
nur für Reiche, usw., sind seit Jahren
an der Tagesordnung.
Es
ist immer das gleiche Lied: Der Gürtel
soll enger geschnallt werden, damit in
einer undefinierten Zukunft wieder Investitionen
getätigt, Arbeitsplätze geschaffen
werden und „die Wirtschaft angekurbelt“
wird... Wer’s glaubt wird selig.
Die Wirtschaftspresse ist da nüchtern
und stellt fest: „Trübe Aussichten
für die Weltwirtschaft – Die
weltweite Konjunktur kühlt sich weiter
schrittweise ab...“ (FAZ, 23.5.05).
Es geht in Wirklichkeit schlicht und ergreifend
darum, die Profite der Besitzer der grossen
und wichtigen Aktienpakete zu steigern.
Frits
Bolkestein, der EU-Kommissar, nach dem
die Richtlinie zur wilden Deregulierung
der Dienstleistungen benannt wird, könnte
in der Schweiz als 8. Bundesrat amtieren!
Die
Schweiz, Land der wachsenden Ungleichheiten
Wie
in den Ländern der EU und wie in
fast allen Ländern der Welt gerät
auch in der Schweiz die Mehrheit der arbeitenden
Menschen, In- und AusländerInnen,
Männer und Frauen unter Druck. Die
Ungleichheiten zwischen Besitzenden und
Besitzlosen werden immer grösser.
Seit
Jahren stagnieren die durchschnittlichen
Reallöhne, ihr Zuwachs betrug 2004
ganze 0,1%! 27,6% der Lohnabhängigen
verdienen weniger als 4000 Franken pro
Monat (33,4% der Frauen und 10,1% der
Männer). Dafür haben allein
im Jahr 2004 die 300 reichsten Schweizer
ihr Vermögen um satte 5% auf 369
Milliarden Franken erhöhen können.
Die zwei (!) reichsten Individuen der
Schweiz (Vermögen der reichsten Familien
werden hier ausser Acht gelassen) besitzen
soviel, wie im Jahr 2002 von Bund, Kantonen
und Gemeinden für Bildung ausgegeben
wurde: 25 Milliarden Franken.
Der
Gewinn der 27 grossen Firmen, die als
Basis für die Berechnung des Swiss
Market Index (SMI) dienen, ist pro ArbeitnehmerIn
von 15'000 Franken im Jahr 2002 auf 35'800
im Jahr 2003 und 42'500 im Jahr 2004 gestiegen!
In diesen drei Jahren haben diese Firmen
in der Schweiz 39'761 Arbeitsplätze
abgebaut. Die Bosse können dank der
Arbeitslosigkeit einen massiven Druck
ausüben auf jene, die noch einen
Job haben, denn für ganze 9'000 offene
Stellen sind 220'000 Menschen auf der
Suche nach einem Arbeitsplatz.
Während
die Mehrheit sich abrackert, um Lebensunterhalt,
Mieten, Krankenkassenprämien (die
von Pascal Couchepin, der die christliche
Nächstenliebe entdeckt hat, wieder
erhöht werden), Schulgelder usw.
zu berappen, explodieren die Gehälter
der Topmanager. Allein im letzten Jahr
haben die Abzocker in den Konzernleitungen
satte 17 Prozent mehr verdient. Der SonntagsBlick
vom 24.4.05 hat einige Beispiele aufgezeigt:
der Monatslohn von Oswald Grübel,
Topmanager beim Crédit Suisse,
beläuft sich auf 1'769'231 Franken;
derjenige von Marcel Ospel (UBS) auf 1'638'462
Fr., derjenige von Ernst Tanner (Lindt
& Sprüngli) auf 553'846 Fr. Eine
wahre Lohnexplosion für Spitzenmanager
und Aktionärsdividenden, eine wahre
Lohnflaute für die Mehrheit der Lohnabhängigen.
Ein Bäckermeister, der Fr. 5'306.-
brutto im Monat verdient (und nachts arbeitet)
müsste 238 Jahr lang Brot backen,
um das Jahresgehalt vom Boss der grossen
Lebensmittelfirma Nestlé, Peter
Brabeck, zu verdienen: 16,4 Millionen.
Immer
mehr Menschen werden in die Abhängigkeit
der Sozialhilfe getrieben, mit allen Schikanen,
die das mit sich bringt. Zwischen der
steigenden Zahl der Sozialhilfeabhängigen,
der Arbeitslosigkeit und den Niedriglöhnen
besteht ein Zusammenhang. Auf diesem Terrain
gedeihen unsoziale Vorschläge wie
jener der grünen Zürcher Stadträtin,
Monika Stocker, die 1000-Franken-Jobs
fordert. Peter Hasler, Direktor des Arbeitgeberverbandes,
der zusammen mit Serge Gaillard (SGB)
für die Bilateralen kämpft,
sagte dazu: „Das ist eine gute Lösung“...
Bilateral
– fatal?
Wie
kann man, angesichts dieser klaffenden
Ungleichheiten, auch nur einen Augenblick
lang ernsthaft meinen, dass Wirtschafts-
und Gewerkschaftsführer dazu imstande
sind, flankierende Massnahmen zu verteidigen,
welche die Lohnabhängigen tatsächlich
zu schützen vermögen? Peter
Hasler, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes,
liefert uns die Antwort: „Die Schweizer
Firmen müssen nicht mit finanziellem
Mehraufwand und zusätzlicher Administration
rechnen. Die künstliche Aufregung
über diese Neuerungen sollte sich
baldmöglichst legen, damit die Kräfte
für einen überzeugenden Abstimmungskampf
frei werden. Diesen können die Sozialpartner
nur gemeinsam gewinnen.“ (Schweizer
Arbeitgeber, Nr. 24-26, 23. Dezember 2004,
S. 1267).
Mit
den Bilateralen Verträgen, die am
25. September zur Abstimmung kommen, wird
somit eine neue Etappe überschritten.
Die Arbeitgeber haben erkannt, dass die
(angebliche) Personenfreizügigkeit
als mächtiger Hebel für Lohn-
und Sozialdumping benutzt werden kann.
Selbst Bundesrat Joseph Deiss hat es zugegeben:
„Die Freizügigkeit stellt einen
wichtigen Beitrag zur Flexibiliserung
dar. Die Begleitmassnahmen fördern
die Flexibilisierung“.
Ein
Beispiel: Der deutsche Bahn-Betrieb Railion
heuert Arbeiter zu um 38% tieferen Löhnen
an und „benützt“ sie
in der Schweiz. Ernst Leuenberger, SEV-Präsident,
hat das Lohndumping angeprangert, welches
die Lokführer bedroht und die Gretchenfrage
gestellt: „Die Leute werden sagen,
wenn nicht einmal die hoch organisierten
Eisenbahner sich gegen die Dumping-Konkurrenz
aus dem Ausland erfolgreich wehren können,
wie sollte das dann einer Verkäuferin
in einem schlecht organisierten Bereich
gelingen?“ (Arbeit und Verkehr-SEV,
19.4.05). Die Antwort ist einfach: Zehntausende
von Verkäuferinnen werden sich nicht
wehren können. Übrigens, wär
das nicht ein Grund, um am 25. September
Nein zu stimmen ?
Wann
endlich sagen die Gewerkschaften Nein
zu diesen Bilateralen?
Angesichts
des Angriffs der Bosse auf den Gesamtarbeitsvetrag
(GAV) im Bauhauptgewerbe, hat die UNIA-Führung
deklariert: „Personenfreizügigkeit
nur mit Gesamtarbeitsvetrag (GAV)! Für
die Bauarbeiter ist klar: Ohne starken
GAV als Schutz vor Lohn- und Sozialdumping
werden sie der Ausweitung der Personenfreizügigkeit
im September nicht zustimmen können“.
Inzwischen hat die UNIA diese Drohung
schon wieder fallen gelassen: Ein „Kompromiss“
wurde mit den Bossen ausgehandelt, „um
die Abstimmung im September über
die von beiden Seiten befürwortete
Personenfreizügigkeit nicht zu gefährden“
(aus der Pressemitteilung der UNIA vom
27.5.05).
Ob
dieser Kompromiss gut ist für die
Bauarbeiter, darüber sollten sie
bestimmen können. Was für ein
Schicksal erwartet aber die Arbeiterinnen
und Arbeiter, welche über keinen
„starken GAV“ oder schlicht
über keinen GAV verfügen? Die
Anzahl derer, die über einen GAV
verfügen - ob stark oder nicht -
beläuft sich auf 1,4 Millionen. Aber
2,2 Millionen ArbeiterInnen verfügen
über keinen - wie auch immer gearteten
- GAV. Wenn man, ohne starken GAV, am
25. September Nein stimmen soll, was soll
man dann tun, wenn man über keinerlei
GAV verfügt? Es braucht nicht viel
politischer Scharfblick, um diese Frage
zu beantworten.
Schluss
mit der Politik der sozialen Ungerechtigkeit!
Alain
Morice vom französischen Centre National
de Recherche Scientifique (CNRS), aktiv
in der MigrantInnenorganisation Gisti
(Groupe d’information et de soutien
des immigré/e/s), schreibt : „Der
Kampf für den freien Personenverkehr
ist aufs Engste verbunden mit einem gleichzeitigen
Kampf für die Respektierung der Rechte
der ArbeitnehmerInnen und gegen die Deregulierung,
sowie mit einem Kampf gegen jede Form
von Rassismus (...). Diese Kämpfe
werden künftig nur auf europäischer
Ebene geführt werden können“.
Die
Lohnabhängigen können sich somit
nicht mit Kapitalismus-Debatten begnügen,
die keine praktischen Folgen haben und
mit Abzocker-Schlagzeilen und -Stammtischgesprächen.
Die Lage ist ernst und wir müssen
ernst machen. Es stellen sich mehrere
Fragen:
Was steckt hinter der in allen Ländern
beschworenen „Wettbewerbsfähigkeit
der eigenen Wirtschaft“? Was sind
die Folgen der europaweiten Deregulierung
der Arbeitsmärkte und inwiefern organisiert
die EU die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen
verschiedener Länder? Was kommt auf
uns zu? Was sehen die Deregulierungsmassnahmen
der EU, beispielsweise die Bolkestein-Richtlinie
vor und wie werden sie sich konkret auswirken?
Wie können die Lohnabhängigen
wieder beginnen, sich international zu
vernetzen, um auf die unsozialen Angriffe
der Herrschenden zu antworten? Wie kann
eine antikapitalistische Kraft mit der
Perspektive für ein wirklich demokratisches
und sozialistisches Europa neu erstarken?
Wie und mit welchen Forderungen kann die
Abstimmungsdebatte vom 25. September zu
den Bilateralen Verträgen als Hebel
benutzt werden, um einen Widerstand der
Arbeitenden gegen Lohndrückerei,
Kahlschlag und Arbeitsplatzvernichtung
aufzubauen? Welcher Stellenwert erhalten
dabei Forderungen im Arbeitsrecht? Welche
Forderungen müssen aufgestellt werden,
um die sich Leute auch längerfristig
organisieren und engagieren?
Wir
wollen diese Fragen an der Diskussionsveranstaltung
vom 11. Juni zusammen mit allen interessierten
Personen und Organisationen besprechen.
Es
ist Zeit, dass die Lohnabhängigen
ihre Stimme nicht nur abgeben, sondern
erheben!
Die
Veranstaltung wird unterstützt
von (Stand 23.5.05): attac Zürich,
Bewegung für den Sozialismus
(BFS), Forum für eine aktive
Gewerkschaft,
Schulforum Kanton Zürich, Subversive
Bewegung Zürcher
Oberland (SuB), Vereinigung Städtischer
ArbeitnehmerInnen (VSAZ). |
Kommt
alle! Kümmert euch um Politik,
bevor
die Politik sich um euch kümmert! |
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