Die
globalisierungskritische Bewegung nach dem G8-Gipfel
in Evian
Für
eine Konfrontation von politischen Ideen
von
Alessandro Pelizzari aus DEBATTE Nr. 6, Juli/August
2003
Der
G8-Gipfel von Evian war kein Routinegipfel :
Zum ersten Mal nach der US-amerikanisch-britischen
Besetzung des Irak trafen sich die Regierungschefs
der ökonomisch und politisch mächtigsten
Staaten, die ob den Modalitäten dieses
Krieges zutiefst gespalten waren. Nicht nur
hatte die Bush-Administration die demokratischen
und pazifistischen Gefühle von Millionen
von Menschen weltweit mit Füssen getreten,
sondern sie hatte in erster Linie auch ihre
unbegrenzte militärische Überlegenheit
in einem Krieg unter Beweis gestellt, der für
die Kriegstreiber das Risiko wohl wert war :
die Kontrolle der Erdölvorkommen und -transportwege,
die Neugestaltung der geopolitischen Landschaft
im Nahen und Mittleren Osten, die Einrichtung
einer permanenten Kriegswirtschaft, die Änderung
der Kräfteverhältnisse zwischen der
Europäischen Union und den USA und die
Neudefinition der institutionellen Architektur
der Globalisierung. Angesichts dieser Spannungen
hatte Chirac in letzter Minute zu einem "G8-Gipfel
des Friedens" aufgerufen, mit dem Ziel,
die Rivalitäten zwischen den Grossmächten
zu "befrieden"...
Menschen aus ganz Europa demonstrieren
am 1. Juni 2003 in Genf gegen den G8-Gipfel
Der
G8-Gipfel fand in einem soziopolitischen Kontext
statt, der sowohl in den USA wie in der Europäischen
Union und auch in der Schweiz durch einen regelrechten
sozialen Krieg geprägt ist, der die Lohnabhängigen
in gleicher Weise trifft und zum Ziel hat, das
Solidarprinzip zwischen den Generationen zu
zerschlagen und die letzten Überreste des
Sozialstaates endgültig zu beseitigen :
Abbau sozialer Sicherheit, insbesondere in der
Altersvorsorge ; Deregulierung arbeitsmarktlicher
Rechte ; Infragestellung des Zugangs zu öffentlicher
Bildung, usw. Vor dem Hintergrund einer sich
verschärfenden Rezession haben diese konzentrierten
Angriffe auf soziale Errungenschaften in zahlreichen
europäischen Ländern starke soziale
Widerstandsbewegungen ausgelöst.
Eine
Mobilisierung,bei der viel auf dem Spiel stand
Die
globalisierungskritische Bewegung stand in ihrem
Widerstand gegen den G8-Gipfel also vor einer
zweifachen Herausforderung : Einerseits ging
es darum, die Dynamik der Antikriegsbewegung
aufrecht zu erhalten, andererseits sollte den
sozialen Bewegungen in Europa ein Rahmen geboten
werden, der es ihnen ermöglichte, nicht
nur mögliche gemeinsame Aktionsformen beispielsweise
in der Rentenfrage zu diskutieren, sondern der
sie in die wachsende Bewegung gegen die Globalisierung
des Kapitals als festen Bestandteil in Europa
integrieren würde.
Allerdings
waren die Bedingungen der Mobilisierung nicht
die allerbesten : Ein auf mehrere Städte
und sogar Länder aufgesplitterter Rahmen
(Genf, Annemasse und Lausanne) sowie ein dünn
besiedeltes "Mobilisierungsbecken"
welches sich nicht gerade durch eine hohe gesellschaftliche
Konfliktualität auszeichnet. Ein Scheitern
der Mobilisierung war also nicht auszuschliessen,
was weitreichende Folgen für die weitere
Dynamik der Bewegung gehabt hätte, insbesondere
in Hinblick auf das Europäische Sozialforum
im November in Paris / St. Denis.
Tatsächlich
hat die globalisierungskritische Bewegung seit
dem Europäischen Sozialforum in Florenz
unter Beweis gestellt, dass sie durchaus fähig
ist, neue Akteure und neue Fragestellungen zu
integrieren. So ist sie beispielsweise durch
die Annäherung an die Antikriegsbewegung
"politischer" geworden, in dem Sinne
als der ursprüngliche "Ökonomismus"
d.h. die rein ökonomischen Argumentationsweisen
und Forderungen (Regulierung von Finanzmärkten,
Welthandel und Investitionen, Schuldenstreichung,
usw.) mit dem Einbruch kriegerischer Auseinandersetzungen
um Fragen imperialistischer Machtpolitik ergänzt
wurden. Auch ist die Bewegung "lokaler"
geworden, dadurch dass sich in gewissen Ländern
(insbesondere Spanien, Frankreich und Italien)
die GlobalisierungskritikerInnen an der Seite
von Lohnabhängigen gegen Rentenklau, Abbau
von Arbeitsschutz usw. mobilisiert haben.
Nicht
überall ist jedoch diese Entwicklung auf
Gegenliebe gestossen. Neuerdings werden Stimmen
laut, die darin eine "Radikalisierung"
der Bewegung sehen, welche andere Akteure -
traditionelle NGOs oder Gewerkschaften - davon
abhalten könnte, in den Prozess einzusteigen.
Vor diesem Hintergrund ist erstmals auch festzustellen,
dass in Strategiediskussionen über die
künftige politische Ausrichtung der Bewegung
ideologische Spaltungslinien offen zutage treten1.
Dass es diese Spaltungslinien gibt, ist freilich
nichts Neues, und es ist im Gegenteil sogar
zu begrüssen, dass sie nun öffentlich
werden, denn eine "mögliche andere
Welt" wird gemeinsam nur erbaut werden
können, wenn inhaltliche Auseinandersetzungen
zur gemeinsamen Politisierung beitragen.
Für
die G8-Mobilisierung hiess dies jedoch, die
Verpflichtung einzugehen, entsprechende Momente
der Diskussion und Konfrontation von Ideen und
Positionen zu organisieren, und dies umso mehr,
als der Anti-G8-Kampagne der Ruf vorausging,
es handle sich um eine "radikale"
Mobilisierung. Aus diesem Grund übten sich
denn auch einige der Führungsgremien der
grossen globalisierungskritischen Organisationen
in Zurückhaltung und taten denkbar wenig,
um ihre AktivistInnen zu bewegen, in die Genferseeregion
zu kommen. Das Scheitern der Anti-G8-Mobilisierung
hätte also mit einiger Bestimmtheit jenen
moderateren Kräften weiteren Aufwind gegeben,
die bereits jetzt den Prozess rund um das Sozialforum
weitgehend bestimmen.
Mit
ein wenig kritischer Distanz darf jedoch festgehalten
werden, dass die Mobilisierung ein Grosserfolg
war. Denn wenn etwas im totalen Fiasko geendet
hat, dann der Gipfel von Evian selbst, dessen
Hauptergebnis die "Normalisierung"
des Verhältnisses zwischen der "G1"
von George W. Bush und den sekundären imperialistischen
Mächten war. Eine Normalisierung, die geprägt
war durch den wenige Tage zuvor im UNO-Sicherheitsrat
einstimmig gefassten Beschluss, den Irakkrieg
rückwirkend zu legitimieren und damit dem
Kuhhandel um den "Wiederaufbau" des
Landes grünes Licht zu geben.
Die
BFS/MPS an der Demo vom 1. Juni 2003 in Genf
gegen den G8-Gipfel
Ein
Wind aus Porto Alegre
Um
ihre Ablehnung dieser Politik kundzutun und
die Auflösung der G8 zu fordern, sind letztlich
zehntausende von GlobalisierungskritikerInnen
dem Aufruf gefolgt und haben sich während
fünf Tagen in Annemasse, Genf und Lausanne
versammelt. Durch die Organisation von Gegenforen,
friedlichen Blockaden und der grossen Demonstration
vom Sonntag (1. Juni), die über 100 000
Menschen in der grössten Manifestation
auf Schweizer Boden seit Jahrzehnten vereinte,
wurde die Mobilisierung nicht nur ein Riesenerfolg
hinsichtlich der Beteiligung, sondern hat auch
die soziale Ausweitung der Bewegung hin zu den
europäischen sozialen Bewegungen und der
Antikriegsbewegung ermöglicht. In mancherlei
Hinsicht hat damit die "Basis" der
globalisierungskritischen Bewegung gezeigt,
auf der Höhe der Herausforderungen zu sein.
Auffallend
an den Diskussionsforen waren in erster Linie
das enorme Publikumsinteresse, die Ausdauer,
stundenlang in überfüllten Sälen
auszuharren und die Bereitschaft, in den Debatten
nicht nur den Ursachen der wirtschaftlichen,
sozialen und militärischen Kriege auf den
Grund zu kommen, sondern auch den gewachsenen
"Sockel" gemeinsamer Forderungen auszubauen
: Ablehnung jeglicher Kriege, Schuldenstreichung,
Besteuerung der Finanzströme, Widerstand
gegen Handelsliberalisierung und Privatisierungen,
aber auch Forderungen wie die "gesellschaftliche
Aneignung von Produktionsmitteln" die zum
ersten Mal Eingang fanden in einer gemeinsam
von über 50 nationalen attac-Gruppen unterzeichneten
Erklärung. Ebenso ermöglichten diese
Treffen, die künftigen grossen Mobilisierungstermine
aufeinander abzustimmen, wie z.B. ein weiterer
Global Day of Action gegen die Besetzung des
Irak am 27. September oder die internationale
Kampagne gegen die WTO-Verhandlungsrunde von
Cancun. Wenn in der grossen Antikriegs-Versammlung
die Erwartungen über eine kritische Auseinandersetzung
mit der Bewegung selbst, den eigenen Schwächen
und strategischen Handlungsoptionen noch am
ehesten erfüllt wurden, so lässt sich
dies jedoch für die übrigen Veranstaltungen
weit weniger behaupten.
In
dieser Hinsicht blieb insbesondere das Schlusspodium
der attac-Konferenz über die Strategien
der globalisierungskritischen Bewegung hinter
den Erwartungen zurück. Gerade die radikaleren
Kräfte übten sich in eigenartiger
Zurückhaltung, obwohl es an kontroversen
Anknüpfungspunkten nicht mangelte : Wie
lässt sich gegen den "permanenten
Krieg" auch eine "permanente Mobilisierungsfähigkeit"
herstellen ? Wie positioniert sich die globalisierungskritische
Bewegung in den interimperialistischen Widersprüchen
zwischen den USA und der EU ? Wie lässt
sich den defensiven Kämpfen eine offensivere
Dynamik geben ? Welche Artikulation ist zwischen
sozialen Bewegungen, politischen Parteien und
Gewerkschaften zu denken ? Diese Frage wäre
gerade in der Schweiz angesichts der totalen
Abwesenheit der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung
in der G8-Mobilisierung offen zu stellen gewesen.
Immerhin ist nun mit dem Erfolg der Anti-G8-Kampagne
der Boden bereitet, auf dem im Hinblick auf
das Europäische Sozialforum die Diskussion
zwingend weitergeführt werden wird.
Die
"Gewalt"-Frage
Beachtenswert
ist der Erfolg der G8-Mobilisierung auch angesichts
der geschürten Sicherheitshysterie, welche
darauf abzielte, die Bewegung zu destabilisieren
und im Zusammenhang mit ihrer angeblichen Gewaltbereitschaft
zu kriminalisieren. Die Gewalt - also der Missbrauch
von Macht - gehört jedoch zum ständigen
Werkzeug des Neoliberalismus. Der letzte Krieg
ist davon ein extremer Ausdruck, genauso wie
die Ablehnung einer kostenlosen Versorgung von
Millionen von AIDS-Kranken mit Medikamenten.
Oder, in unserer unmittelbaren Umgebung : 60-jährige
Lohnabhängige zu zwingen, länger zu
arbeiten, obwohl sie praktisch keine Möglichkeit
haben, eine Stelle zu finden, ist offensichtlich
eine Form der sozialen Gewalt, die Angst auslösen
muss.
Angesichts
dieser Gewalt entsteht eine "Gegengewalt":
Betriebsbesetzungen, Gleis- oder Strassenblockaden
zur Verhinderung der Rentenreform in Frankreich
und Österreich, direkte Aktion gegen Felder
mit genetisch veränderten Pflanzen usw.
sind Aktionsformen, die von einem bedeutenden
Teil der öffentlichen Meinung unterstützt
werden. Dies gilt auch für die Blockaden
der Zugangswege zu Evian, die vielen TeilnehmerInnen
in prägender Erinnerung bleiben wird. Viele
können sich mit der Notwendigkeit identifizieren,
für diese Art von Zielen solche Initiativen
zu ergreifen. Hier liegt auch der fundamentale
Unterschied zu den Aktionen einer sehr kleinen
Minderheit von ausserhalb der Bewegung, die
am Rande der Massendemonstrationen durch vereinzelte
Aktionen Menschenleben in Gefahr gebracht haben.
Hingegen
gehören die massiven Übergriffe der
Polizei, die nach den Anti-G8-Demonstrationen
weitergingen, zur gewalttätigen Logik des
System. Eine rachelüstige Polizei, die
es nach eigenen Worten müde war, "Blumentöpfe"
an Demos spielen zu müssen, hat sich während
mehreren Tage an den friedlichen DemonstrantInnen
ausgelassen und hinterliess den schalen Nachgeschmack
der Erinnerungen an die Ereignisse in Genua
vor zwei Jahren. Ebenso wie der unerhörte
Entscheid der Genfer Regierung auf unbegrenzte
Zeit das Demonstrationsrecht aufzuheben. Auch
angesichts dieser Repressionslogik hat die globalisierungskritische
Bewegung einen Sieg davongetragen - 100 000
Demonstranten boten ihr die Stirn, indem sie
ihre Angst überwanden und den tatsächlichen
Gewalttätern, die sich in Evian versammelten,
die Kraft einer friedlichen, in ihren Forderungen
aber radikalen Flut entgegensetzten.
1.
Vgl. Bernard Cassens "Drei Fragen an attac"
erschienen in deutscher Sprache in der attac-Zeitschrift
"Sand im Getriebe" Nr. 22 (www. attac.
de / rundbriefe / SIG22.rtf)
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