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Zwischen Porto Alegre und Florenz

Gedanken über die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung

von François Chesnais (aus DEBATTE Nr. 2/3 Juli/August 2002)

Das zweite Weltsozialforum (WSF), das zu Beginn des Jahres in Porto Alegre stattfand, symbolisierte wie kein anderer Anlass die gegenwärtige Aufbruchsstimmung unter den Kritikerinnen und Kritikern des globalisierten Kapitalismus. Das WSF, das sich auch durch die Anschläge vom 11. September nicht in die Defensive drängen liess, spiegelt eine grosse Vielfalt von Kämpfen, ihre Bedingungen und Akteure. Es ist daher notwendigerweise durch widersprüchliche Dynamiken, Klärungs- und Politisierungsprozesse und Suchbewegungen geprägt. Wer vor dem Hintergrund der sich entfaltenden imperialistischen Offensive und des gleichzeitigen Wiederaufflackerns sozialer Auseinandersetzungen in Europa die gesellschaftliche Basis der globalisierungskritischen Bewegung verbreitern und deren strategische und programmatische Grundlagen vertiefen will, muss solche Widersprüche ernst nehmen. Unkritischer Enthusiasmus ist der Sache wenig dienlich (vgl. die neueste Ausgabe des "Widerspruch") und erleichtert im Gegenteil Vereinnahmungsversuche von Seiten traditioneller Kräfte, die auf der Suche nach "linker" Bewegungs-Profilierung sind. Die folgende kritische Einschätzung des WSF durch François Chesnais1 soll zu dieser notwendigen Debatte im Vorfeld des Europäischen Sozialforums, welches vom 7. bis 10. November in Florenz stattfinden wird, beitragen.

Ich war auf Einladung der Brasilianischen Landlosenbewegung (MST) und der Gewerkschaft CUT in Porto Alegre und nahm dort an einem Konferenzzyklus über den Sozialismus teil 2. Es war mein erster Besuch am Weltsozialforum (WSF), da ich es im Januar 2001 vorgezogen hatte, gemeinsam mit meinen Freundinnen und Freunden von ATTAC Schweiz zum Erfolg des "Anderen Davos" beizutragen.

Ich bereue es nicht, in Porto Alegre gewesen zu sein. In erster Linie ermöglichte mir das WSF den Erfahrungsaustausch mit Aktivistinnen und Aktivisten, die ich andernorts schwerlich hätte antreffen können, insbesondere jene des MST und von Via Campesina. Das WSF ist sowohl ein Mega-Treffen von Aktivistinnen und Aktivisten aus sozialen und politischen Bewegungen als auch eine Art Volksuniversität, die fünf Tage lang jeweils etwa fünfzig bis sechzig Konferenzen, Diskussionen und Veranstaltungen anbietet. Trotz der positiven und festlichen Stimmung während eines Grossteils des Treffens (welche an die ersten Tage von Mai 1968 im Pariser Quartier Latin oder an Italien 1969 erinnert) ist es mir jedoch nicht möglich, den fast grenzenlosen Enthusiasmus zu teilen, den das WSF in Frankreich und anderswo ausgelöst hat. Im Gegenteil bin ich davon überzeugt, dass jene, die sich für die Verteidigung und die Stärkung der "globalisierungskritischen" Bewegung einsetzen, mit Kritik nicht zurückhalten sollten.

Ein neuer Antikapitalismus ?

Die wichtigste politische Erkenntnis, die ich aus Porto Alegre mit nach Hause nehme, lässt sich wie folgt zusammenfassen : Wer der vielfältigen Bewegung gegen die Globalisierung des Kapitals fernbleibt, zeugt dadurch entweder von unheilvollem Sektierertum oder hat sich für den einsamen Weg entschieden, sich auf die Rolle des externen Beobachters heutiger Formen politischer Auseinandersetzungen zurückzuziehen. Andererseits wäre es aber genauso verhängnisvoll, das WSF mit Tugenden zu schmücken, die es nicht besitzt und die auch nicht den Absichten der Organisatoren entsprechen. Das WSF ist nicht und wird auch nie der Rahmen sein, in dem sich ein neuer antikapitalistischer und antiimperialistischer Internationalismus entfalten wird. Noch weniger ist es die Geburtsstätte einer neuen Internationalen. Wer solche Ziele verfolgt, kann und muss zwar am Weltsozialforum intervenieren, zuhören, lernen, mit den wichtigsten Reformkräften gemeinsame Kampagnen gestalten und den Hunderten von Aktivistinnen und Aktivisten, die danach suchen, politische Deutungsmuster anbieten. Aber wenn wir tatsächlich eine neue Internationale aufbauen wollen, dann müssen wir dazu einen eigenen Rahmen schaffen, ohne auf den Wellen der "political correctness" der "Re-Regulierung der Weltwirtschaft" zu surfen. Die Tatsache, dass es heute keinen solchen Rahmen gibt, und dass die antikapitalistischen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich am WSF beteiligen, sich in keiner Weise koordinieren, macht in Tat und Wahrheit ihren politischen Beitrag nahezu bedeutungslos.

Ein politischer Rahmen, der sich nicht "nach links verschieben" lässt

Zwar gab es in Porto Alegre einen unverkennbaren "Argentinien-Effekt", der die Diskussionen am Rande stark geprägt hat. Die Radikalität des Aufstandes in Argentinien ist jedoch nicht ins Zentrum des Treffens gestellt worden und hat deshalb die reformistische Gesamtausrichtung des WSF nur schwach beeinflusst. Die hauptsächlich verantwortlichen Organisationen des WSF haben sogar eine explizite und bedingungslose Solidarisierung mit dem Kampf der argentinischen Bevölkerung vermeiden können. Eine solche Unterstützung kam nicht einmal in der Schuldenfrage zustande, die immerhin eines der zentralen Elemente der politischen Plattform des WSF ist. Obwohl der US-amerikanische Finanzminister Ende Januar ein Memorandum veröffentlichte, in dem er die vollständige Bedienung der argentinischen Auslandsschulden einforderte, wohl wissend, dass "die Argentinier dafür Opfer bringen werden müssen", wurde in der Schlussresolution der "sozialen Bewegungen" von Porto Alegre die argentinische Verschuldung nicht besonders erwähnt.

Die letztlich zweitrangige Rolle, welche die politische Solidarität mit dem Argentinien der Piqueteros und der Volksversammlungen einnahm, sowie das Veto, welches gegenüber anderen grundlegenden politischen Fragen zu Lateinamerika ausgeübt wurde, insbesondere betreffend die massive US-amerikanische Militärpräsenz in Kolumbien (deren Verurteilung unabhängig von der Einschätzung, die man von der Politik der FARC haben kann, unerlässlich bleibt), waren zwei deutliche Zeichen dafür, dass die wichtigsten Organisatoren des WSF jederzeit in der Lage waren, den politischen Rahmen zu kontrollieren, in dem die Diskussionen geführt wurden.

Es ist der Rahmen eines moderaten Reformismus, der im "partizipativen Budget" seinen symbolischen Ausdruck findet. Er ist sogar derart moderat, dass die Minister, Ex-Minister und Abgeordneten der sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Regierungsparteien, insbesondere der französischen, in Porto Alegre eine tragende Rolle übernehmen konnten. Es sind die Vertreter derselben Regierungsparteien, die sich nach dem 11. September diskussionslos in die "Grosse Allianz" von George W. Bush eingereiht haben und zu Hause eine neoliberale Politik auf "menschliche Art und Weise" umsetzen. Jene Politik also, die offiziell vom WSF verurteilt wird.

Dies ist nicht zuletzt eine Folge des Entscheides, den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) in das Vorbereitungskomitee des WSF mit aufzunehmen. Die Beteiligung des EGB hat die Reihen jener Gewerkschaften gestärkt, die sich längst auf die Linie der kapitalistischen Globalisierung und des Imperialismus eingeschworen haben. Sie erlaubte es ausserdem einem Kartell von Gewerkschaften und Pseudo-Gewerkschaften, die in einem internationalen Zusammenschluss namens Global Unions vereint sind, zur gleichen Zeit sowohl in Porto Alegre als auch am World Economic Forum in New York teilzunehmen. Dieses Kartell, dem neben dem EGB auch der Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IBFG), der Weltverband der Arbeitnehmer (WVA), die internationalen Verbandssekretariate (SPI) und der beratende Gewerkschaftsausschuss der OECD (TUAC-OCDE) angehören, hat in Porto Alegre die gewerkschaftliche Diskussion massgeblich mitgeprägt und ein Dokument verabschiedet, dessen Horizont sich darauf beschränkt, der "Globalisierung Regeln zu setzen".

Notwendige Konfrontation gegensätzlicher Positionen

Das Fehlen einer echten, brüderlich-schwesterlichen aber offenen Konfronta-tion der unterschiedlichen theoretischen und politischen Positionen ist eine der grössten Schwächen des Sozialforums von Porto Alegre, sowie der gesamten Bewegung gegen die Globalisierung des Kapitals. Diese Einschätzung ist auch in dem Bericht der Aktivistinnen und Aktivisten von ATTAC Schweiz über das WSF enthalten.3Dabei wäre es eigentlich die Hauptaufgabe des WSF, solche Diskussionen zu organisieren. Als besondere Form jener internationalen Treffen, deren Rhythmus nicht durch die "politischen Gipfeltreffen" der wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsträger (WTO, G8, EU, WEF usw.), sondern durch die eigene Agenda der Bewegung vorgegeben ist, wäre es dazu geradezu prädestiniert.

Bei der ersten Art von internationalen Anlässen, wie wir sie in Seattle, Nizza, Brüssel, Genua oder Barcelona erlebt haben, treffen Organisationen verschiedenster Natur (soziale Bewegungen, NGOs, Bauernorganisationen, Gewerkschaften usw.) und verschiedener politischer Sensibilität zusammen. Bei gemeinsamen Demos erfahren sie immer mehr das brutale Vorgehen der Repressionskräfte. Die Erfahrung zeigt, dass die politische Qualität solcher Treffen und Demonstrationen in erster Linie davon abhängt, ob die "sozialen Bewegungen" einen Zusammenschluss mit den politischen und sozialen Kämpfen im Gastgeberland des "Gipfels" und des "Gegengipfels" erreichen. Diese Verbindung gelang in Seattle, als sehr unterschiedliche Kräfte sich auf der Strasse getroffen haben und zusammen den Kundgebungen die nötige Radikalität verliehen haben : die jugendlichen globalisierungskritischen Aktivistinnen und Aktivisten trafen auf Sektoren der Gewerkschaft AFL-CIO. In Europa glückte dasselbe in Genua und Barcelona. Bei anderen Treffen gelang indessen dieser Schulterschluss nicht, und an die Stelle von Einheit und Radikalität trat Spaltung und Mässigung (zum Beispiel in Nizza, wo die CFDT, die CGT und die "politisch korrekten" Organisationen einen Tag vor der Demo der globalisierungskritischen Bewegungen, LCR, SUD und CNT ihre Kundgebung abhielten und dadurch auch der polizeilichen Repression entkamen). Damit solche Zusammenschlüsse möglich werden, braucht es einen hohen Grad an politischer Unabhängigkeit gegenüber den "offiziellen" (oder "parlamentarischen") Parteien, und einen gewissen Grad an gesellschaftlicher Konfliktualität im Gastgeberland, welche den Demos einen tatsächlichen gesellschaftlichen und politischen Inhalt verleiht. Wenn solche Kundgebungen auch oft von "Gegengipfeln" begleitet werden, so werden diese in den meisten Fällen doch von den unmittelbaren politischen Themen dominiert (für oder gegen Gewalt, für oder gegen Dialog usw.), was eine grundsätzliche Diskussion erschwert.

Die zweite Art von Treffen sind die Sozialforen, die auf "freundschaftlichem" Boden abgehalten werden. Fernab der polizeilichen Repression könnte und sollte es möglich sein, ansatzweise Antworten auf die brennendsten Fragen zu erarbeiten, die die "Anti-Globalisierungs"-Bewegung beschäftigen : gegen den Kapitalismus oder gegen den "Neoliberalismus"? welche Art der Infragestellung der Besitzverhältnisse ? welche gesellschaftlichen Alternativen und welche Institutionen ? usw. Eine solche Debatte ist natürlich nicht möglich ohne die Hilfe der "einladenden Kräfte". Sie sind es, die den Verlauf der Sozialforen massgeblich mitbestimmen. Diesbezüglich habe ich in Porto Alegre gelernt, dass diese Diskussion von jenen nicht gewünscht wird, die die politischen und materiellen Mittel besitzen, um die grossen Treffen der Bewegung gegen die Globalisierung des Kapitals zu organisieren und auch weitgehend ihre Durchführung zu kontrollieren. Sie scheinen folgende Position zu vertreten : Zwar muss man die Leute reden lassen, und dabei sollen alle Strömungen in der liberalisierungskritischen Bewegung zu Wort kommen, einschliesslich der antikapitalistischen. Aber sie sollen möglichst keinen Einfluss auf den Rahmen des "moderaten Reformismus" haben, welcher von denen vorgegeben wird, die an der Konsolidierung der kapitalistischen Globalisierung arbeiten.

Es wird nun von entscheidender Bedeutung sein, ob das Genoa Social Forum und die italienischen Organisationen, welche die Verantwortung für die Durchführung des ersten regionalen Sozialforums in Italien Ende Jahr tragen, in der Lage sind und nicht daran gehindert werden, einen Rahmen für diese notwendige Konfrontation der Ideen zu schaffen. Ausserdem bleibt abzuwarten, ob die antikapitalistischen und antiimperialistischen Kräfte, die innerhalb dieses Rahmens politisch intervenieren wollen und können, endlich damit beginnen, sich zu koordinieren.

1 Der Autor ist Herausgeber der Zeitschrift "Carré Rouge", in deren April-Ausgabe der in der vorliegenden Fassung leicht gekürzte Artikel erschienen ist. François Chesnais ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von ATTAC Frankreich und Autor u.a. von Tobin or not Tobin ?, Konstanz, 2001.

2 Der Redebeitrag von François Chesnais zu diesem Zyklus ist in spanischer Sprache auf der Webseite der Zeitschrift à l'encontrezu finden (www. alencontre.org).

3 Dieser Bericht ist ebenfalls auf www. alencontre.org zu finden.