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Marx reloaded

Kein Betriebsunfall
Die Wiederkehr des ordinären Kapitalismus.
Serie / Teil II:
Der kapitalistische Krisenzyklus – entzaubertes BRD-Wirtschaftswunder

von Winfried Wolf

Im ersten Teil der Serie wurde im Rückgriff auf das »Kommunistische Manifest« von 1848 die historische Genese der sogenannten Globalisierung dargestellt und anhand von wirtschaftsbezogenen Daten der letzten zehn Jahre aufgezeigt, wie der Welthandel unter dem Diktat weniger Staaten zunehmend strukturelle Ungleichheiten und Armut verfestigt.

Die kapitalistische Wirtschaftsweise ist eine gesellschaftliche Produktion, die von Individuen und isolierten Unternehmen ohne Plan organisiert wird. Erst auf dem Markt erweist sich, ob die Werte, die in den produzierten Waren stecken, auch realisiert werden können – ob sich kaufkräftige Kunden einfinden. Im Fall eines direkten Austausches Ware gegen Ware (W – W) gibt es keine Krisen. Oder in den Worten von Karl Marx: »In Zuständen, wo Männer für sich selber produzieren, gibt es in der Tat keine Krisen, aber auch keine kapitalistische Produktion.« (»Theorien über den Mehrwert«, MEW 26.2, S. 503) Es dürfe nie vergessen werden, »daß es sich bei der kapitalistischen Produktion nicht direkt um Gebrauchswert, sondern um Tauschwert handelt und speziell um Vermehrung des Surpluswerts« (a.a.O., S. 495). Es gibt die Produktion um des Profites und um der Profitmaximierung willen.

Damit gilt G – W – G´: Geld wird für Waren ausgegeben – für den Kauf von Rohstoffen, Maschinen und von Arbeitskraft, um nach dem Produktionsprozeß wieder in Geld, nun jedoch in einen größeren Betrag von Geld, eben G´, verwandelt zu werden. Das veranlaßte Georg Fülberth, seine »Kleine Geschichte des Kapitalismus« (Köln 2005) auf den Punkt und den kürzest denkbaren Buchtitel, eben »G Strich«, zu bringen.

Karl Marx betonte, daß die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus bereits in der Warenproduktion und in einer Produktion für einen Markt selbst angelegt ist. »Bei der Warenproduktion ist das Verwandeln des Produkts in Geld, der Verkauf, conditio sine qua non (unerläßliche Bedingung). Die unmittelbare Produktion für das eigne Bedürfnis fällt fort. Mit dem Nichtverkauf ist hier Krise da. Die Schwierigkeit, die Ware – das besondre Produkt individueller Arbeit – in Geld, ihr Gegenteil, abstrakt allgemeine, gesellschaftliche Arbeit zu verwandeln, liegt darin, daß Geld nicht als besondres Produkt individueller Arbeit erscheint, daß der, der verkauft hat, also die Ware in der Form des Geldes besitzt, nicht gezwungen ist, sofort wieder zu kaufen (...) Die Schwierigkeit, die Ware in Geld zu verwandeln, zu verkaufen, stammt bloß daher, daß die Ware in Geld, das Geld aber nicht unmittelbar in Ware verwandelt werden muß, also Verkauf und Kauf auseinanderfallen können. (...) Man kann also sagen: Die Krise in ihrer ersten Form ist die Metamorphose der Ware selbst, das Auseinanderfallen von Kauf und Verkauf.« (MEW 26.2, S. 509f.)

Von den spezifischen Krisen ...


In der Geschichte des Kapitals gibt es seit mehr als 350 Jahren Wirtschaftskrisen und Finanzkrisen. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts hatten diese vielfach politische Ursachen. So brach in England 1667 eine Krise im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Niederlande aus. Der holländische Admiral Ruyter fuhr in die Themse ein und bombardierte das Fort Tilbury, das die Themsemündung beschützt. In London entstand eine Panik. Die Banken wurden gestürmt. 1775 bis 1783 führte Großbritannien einen Krieg mit den amerikanischen Kolonien; die hohen britischen Verluste mündeten 1778 in einer Wirtschaftskrise.

Oft hatten diese frühen Krisen auch einen spezifischen Charakter. Anfang der dreißiger Jahre des 17. Jahrhundert kam es etwa in Holland, dem damals führenden kapitalistischen Land, zu einem Spekulationsfieber, in dessen Verlauf der Wert einer Tulpenzwiebel auf bis zu 2500 Gulden anstieg. Man handelte mit Tulpenzwiebeln, die gar nicht vorhanden waren – so wie man heute an den Terminbörsen mit Waren und Dienstleistungen handelt, die es irgendwann – vielleicht – geben wird. Ein großer Teil des holländischen produktiven Kapitals und des Finanzsektors engagierte sich in diesem Geschäft – bis die Spekulationsblase 1637 platzte. Die Wirtschaft und das Geld- und Kreditwesen der Niederlande wurden nachhaltig erschüttert. In dem bürgerlichen Standardwerk von Max Wirth »Die Geschichte der Handelskrisen« (1858) wurde die »Tulpenmanie« wie folgt bilanziert: »Viele Jahre vergingen, bis das Land sich von diesem Schlage wieder erholte und bis der Handel von den Wunden wieder genas, welche die Tulpenmanie ihm geschlagen hatte, eine Manie, die sich nicht bloß auf Holland beschränkte, sondern bis nach London und Paris sich erstreckte und in den zwei größten Hauptstädten der Welt der Tulpe einen erdichteten Wert beigelegt hatte, den sie in Wirklichkeit nie besaß.«

Was uns heute absurd vorkommt, war im Wesen nichts anderes als die Spekulationsprozesse, die wir heute erleben: Wenn sich der Wert von Immobilien in Spanien und in den USA in der Periode 2002 bis 2005 teilweise mehr als verdoppelte, so ist dies durch keine realen Werte gedeckt, sondern allein Resultat des spekulativen Fiebers. Wenn das US-Unternehmen General Electric (GE) 2005 einen Börsenwert von 377 Milliarden US-Dollar aufweist, so drückt dieser Wert nur spekulative Hoffnungen auf weiter gesteigerte GE-Profite bzw. auf einen weiter steigenden GE-Börsenwert aus. Es gibt keinen materiellen Grund dafür, daß der ähnlich starke Konkurrent Siemens mit 67,6 Milliarden US-Dollar nur auf ein Fünftel des Börsenwerts von GE kommt.

... zum Krisenzylus

Mit dem Jahr 1825 begann eine neue Etappe, die bis heute andauert und die bis zum Exitus dieser Wirtschaftsform für den Kapitalismus bestimmend sein wird. Anstelle der zufälligen und nicht periodisierbaren Krisen kommt es nun zu periodischen Wirtschaftskrisen, zu einem kapitalistischen Krisenzyklus. Wie es Karl Marx im Vorwort des ersten Bandes des »Kapital« formuliert: Nun trat »die große Industrie selbst (...) aus ihrem Kindheitsalter heraus«; mit der »Krise von 1825 (wurde) der periodische Kreislauf ihres modernen Lebens eröffnet« (MEW 23, S. 20).

Mit der industriellen Revolution hat das Kapital – Resultat vorausgegangener, verausgabter Arbeit; »geronnene«, »tote Arbeit« – gegenüber der eingesetzten lebendigen Arbeit ein überwiegendes Gewicht erhalten. Ein großer Teil dieses »konstanten Kapitals« ist in Produktionsmitteln festgelegt, die erst im Verlauf einer relativ festen Periode, eines Zyklus verschleißen (»abgeschrieben« sind) und ihren Wert auf die erstellten Produkte im Verlauf dieser Umschlagszeit übertragen. Dieser Teil des konstanten Kapitals, das in Gebäuden, in Maschinen, in Computern, in Software usw. angelegt ist, wird als »fixes Kapital« bezeichnet. Das fixe Kapital wird zu einem großen Teil am Ende der Krisen erneuert. Seine Umschlagszeit – die Spanne zwischen Erneuerung und seinem Verschleiß – bestimmt wesentlich die Länge der Zyklen. Wobei der Verschleiß ein materieller sein kann – die Maschinerie ist dann am Ende der Umschlagszeit nicht mehr funktionstüchtig. In der Regel geht es jedoch gerade heute um einen »moralischen Verschleiß«: Das eingesetzte fixe Kapital ist zum Zeitpunkt seines Ersatzes nicht mehr ausreichend produktiv im Vergleich mit neuer, moderner Technologie; es muß frühzeitig durch neues fixes Kapital ersetzt werden, um die Konkurrenzfähigkeit zu erhalten. Marx ging selbst von kürzer werdenden Zyklen aus. In einer Ergänzung zur französischen Ausgabe des »Kapitals«, die 1872, fünf Jahre nach Veröffentlichung der deutschen Erstausgabe erschien und bei der er auf neue Erfahrungen über die Krisenzyklen zurückblicken konnte, heißt es: »Bis jetzt ist die periodische Dauer solcher Zyklen zehn oder elf Jahre, aber es gibt keinerlei Grund, diese Zahl als konstant zu betrachten. Im Gegenteil, aus den Gesetzen der kapitalistischen Produktion (...) muß man schließen, daß sie variabel ist und daß die Periode der Zyklen sich stufenweise verkürzen wird.« (MEW 23, S. 662)

Phasen des Zyklus

Seit 180 Jahren ist ein spezifischer Krisenzyklus der kapitalistischen Produktion zu verzeichnen, eine Wiederkehr von Aufschwung, Boom, Abschwung und Krise. Die bürgerliche Wirtschaftstheorie weigert sich weitgehend, dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Auch im Programm der neuen Großen Koalition wird eine »Verstetigung« der »Aufschwungtendenzen« gefordert. Tatsächlich ist eine solche »Verstetigung« nicht möglich, sondern es gibt immer den folgenden Verlauf: Den Ausgangspunkt des Zyklus bildet die Krise oder Rezession. Wenn die Krise ausreichend »reinigend« – und zerstörend – gewirkt hat und ein gewisses Gleichgewicht auf nationaler und internationaler Ebene hergestellt wurde, beginnt die Belebung der Wirtschaft – die »Konjunkturerholung«, wie es im bürgerlichen Jargon heißt. In großem Umfang wird neues fixes Kapital angelegt, was meist zu einem ersten Aufschwung der Produktionsmittel herstellenden Industrien – etwa des Werkzeugmaschinenbaus – führt. Es kommt zu Neugründungen; die Nachfrage nach Arbeitskräften und Rohstoffen steigt wieder. Exporte und Importe wachsen. Und es steigen die Profite und die Gewinnerwartungen. Schließlich nehmen auch der Massenverbrauch und die Luxusnachfrage zu; die Industrien, die kurzlebige Konsumtionsmittel herstellen (die Nahrungs- und Genußmittelindustrie) und die Industrien, die langlebige Konsumgüter fertigen (etwa die Auto- und die Elektrogüterindustrie), florieren. Auf diesem Höhepunkt der Konjunktur wachsen erneut die Spekulation und das Gründungsfieber. Das Busineß rund um Aufkauf, Zerschlagung und Fusionierung von Unternehmen (»Merger & Acquisition«) gedeiht. Es steigen die Zinssätze. Die Aufnahmefähigkeit des Marktes wird zunehmend strapaziert; die Disparität zwischen kaum beschränkter Produktionskraft und beschränkter Massennachfrage tritt zutage. Sie wird aber nun verstärkt überbrückt durch eine Ausweitung des Kredits und durch Rabattschlachten. Die Rohstoffpreise steigen – siehe aktuell der Anstieg des Rohölpreises. Die Verschuldung von privaten und öffentlichen Haushalten wächst und stößt an ihre Grenzen. Nun kommt es zur Rolle rückwärts: Es entstehen Überkapazitäten. Die Profite sinken. Aktienkurse fallen. Die Zahl der Konkurse wächst. Spekulationsblasen platzen. Die Krise tritt ein – und beginnt ihr zerstörerisches Werk: Kapital liegt brach und wird – ebenso wie nicht absetzbare Waren – entwertet. Die Arbeitslosigkeit steigt erneut. Die Reallöhne sinken; die Arbeitszeiten werden verlängert. Die Rohstoffpreise fallen. Bis zu dem Punkt, an dem erneut ein sogenanntes Gleichgewicht hergestellt wurde und ein neuer Zyklus beginnt.

Im 1848 veröffentlichten »Kommunistischen Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels werden die Krisen als konzentrierter Ausdruck der Widersprüchlichkeit und Irrationalität der kapitalistischen Produktionsweise wie folgt beschrieben: »Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur noch die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die (...) Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind. Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern sogar der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in den Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt (...) Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen.« (MEW 4, S. 467f.)

Die »Sonderperiode« 1955–1975

Nun konnte gerade diese Passage des »Kommunistischen Manifests« jahrzehntelang als überholt abgetan werden. Auch westdeutsche Gewerkschaftsvertreter glaubten vielfach, es gäbe einen geläuterten, einen sozialen und weitgehend krisenfreien Kapitalismus. Der DGB-Vorsitzende Heinz Vetter ließ sich 1977 in einem Streitgespräch mit dem Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer wie folgt vernehmen: »Wissen Sie, wir sind gerade – und darin liegt ja die Tragik! –, wir sind gerade in der Transformation der Maloche in die Selbstdarstellung durch Arbeit. Und da bricht dann diese katastrophale Arbeitslosigkeit herein.«

Natürlich gab es im Kapitalismus nie eine »Selbstdarstellung durch Arbeit«. Es handelte sich immer um entfremdete Arbeit, um Lohnarbeit. Richtig aber war, daß der ordinäre Kapitalismus in Westeuropa jahrzehntelang nicht in all seinen Erscheinungsweisen offen zutage trat. Doch dabei handelte es sich nicht um ein »Wirtschaftswunder«. Vielmehr gab es drei handfeste Faktoren, die diese besondere Periode im Zeitraum 1955 bis 1975 prägten – ein Zeitraum, der wie folgt abgegrenzt ist: 1955 sank die Zahl der BRD-Arbeitslosen erstmals unter eine Million; 1975 wurde erstmals die Zahl von einer Million Erwerbsloser wieder überschritten.

Erstens gründete diese »Sonderperiode« auf den Ergebnissen von Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Zweitem Weltkrieg: In der Periode 1929 bis 1945 waren die Reallöhne massiv gesenkt und die Arbeitszeiten erheblich (von einer 43- auf eine 49-Stunden-Woche) verlängert worden. Erst 1970 wurde in der BRD wieder die Wochenarbeitszeit von Ende der zwanziger Jahren erreicht. Hinzu kam, daß sich die Zahl der abhängig Beschäftigten in Westdeutschland nach 1950 von 17 Millionen auf 21 Millionen erhöhte, vor allem weil ein Millionenheer von Flüchtlingen und »Vertriebenen« integriert wurde – und zu extrem günstigen Bedingungen ausgebeutet werden konnte.

Zum zweiten gab es in dieser Zeit der weitgehenden Vollbeschäftigung relativ starke Gewerkschaften, die eine größere Zahl sozialer Fortschritte – wie Arbeitszeitverkürzungen, verlängerten Urlaub, Fünftagewoche, steigende Löhne und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – u.a. mit Streiks erkämpften.

Drittens gab es – in Westdeutschland mehr als anderswo in der westlichen Welt – die Systemkonkurrenz West-Ost, einen Wettbewerb um das überzeugendere Gesellschaftsmodell. In den Augen der Bourgeoisie und der bürgerlichen Regierungen schien es lange Zeit wenig ratsam, einen allzu radikalen Abbau des Sozialstaats zu betreiben.

Ähnliche Sonderbedingungen existierten – in abgeschwächter Form – auch in anderen westlichen kapitalistischen Staaten. In der Summe führten sie dazu, daß es in dieser Periode kaum Krisen mit einem absoluten Rückgang der Produktion, sondern »nur« Rezessionen mit abgeschwächten Wachstumsraten gab. Daß es sich um eine »Sonderperiode« handelte, konnte man bei dem Wetterleuchten der westdeutschen Rezession 1966/67 erahnen, als kurzzeitig die Arbeitslosenzahl auf 700000 hochschnellte. Diese »Sonderperiode« wurde definitiv 1974/75 beendet, als es erstmals wieder zu einer internationalen Wirtschaftskrise kam und als in der BRD die Arbeitslosenzahl kurzzeitig auf 1,4 Millionen anstieg. Georg Fülberth sieht dabei hier bereits den Beginn einer neuen Etappe. Er schreibt in »G Strich«: »Das Jahr 1973 bildet ein Schlüsseldatum für den Übergang zweier Perioden der kapitalistischen Entwicklung: vom wohlfahrtsstaatlichen zum neoliberalen Kapitalismus.«

Seither gibt es erneut einen weltweiten – weitgehend synchronen – Krisenzyklus, und nicht nur Rezessionen, die sich mal mehr, mal weniger in einer gleichlaufenden internationalen zyklischen Bewegung ausdrücken. Allerdings wurde immer wieder versucht, die innere Logik des Krisenzyklus abzustreiten und Krisen als Ausnahmen zu deklarieren. Im Fall der weltweiten Rezession 1974/75 hieß es, diese sei Resultat einer »Ölkrise«, des Anstiegs der Rohölpreise, die wiederum Resultat des Nahostkriegs 1973 und eines gegen den Westen gerichteten Ölboykotts der erdölexportierenden Länder (OPEC-Staaten) war. 1980–82 gab es die nächste internationale Wirtschaftskrise. Dieses Mal konnte als »Sonderfaktor« nur noch auf einen allgemeinen Anstieg der Rohstoffpreise 1979/80 verwiesen werden. Als es 1990/91 zu einer weiteren internationalen Krise kam, hieß es hierzulande, diese habe mit den »Lasten der deutschen Einheit« zu tun. Die jüngste weltweite Krise, diejenige der Jahre 2001/2002, wurde dann weitgehend als typischer, zyklischer Betriebsunfall der kapitalistischen Produktion hingenommen.

Tatsächlich hat sich damit die kapitalistische Normalität – der ordinäre Kapitalismus – eingestellt. Oder in den Worten von Karl Marx: »Die Weltmarktkrisen müssen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie gefaßt werden.« (MEW 26.2, S. 510) Die BRD-Ökonomie war spätestens Mitte der siebziger Jahre Teil des internationalen Krisenzyklus (siehe Tabelle in der Printausgabe).
Bei der Darstellung der längerfristigen Entwicklung des deutschen Kapitalismus und den Zahlen in der Tabelle sticht ins Auge: Wir erleben nicht nur eine Wiederkehr der Zyklizität von Krisen. Es gibt vor allem eine spezifische »negative Dynamik«: Die wirtschaftlichen Wachstumsraten nahmen von Zyklus zu Zyklus ab. Seit dem fünften Zyklus – seit 1967 – steigen die Arbeitslosenquoten erneut an.
Dies deckt sich mit einer weiteren Erkenntnis über die Bewegungsform des modernen Kapitalismus: mit der Theorie der »langen Wellen«. Danach gibt es ergänzend zur klassischen Bewegung von Fünf- bis Zehnjahreszyklen eine diese überlagernde Bewegungsform: die von »langen Wellen der Konjunktur«. Als ihre theoretischen Väter gelten die Ökonomen Parvus (Alexander Helphand), Nikolai D. Kondratieff und Joseph Schumpeter. In jüngerer Zeit war es Ernest Mandel, der diese Theorie aktualisierte. Danach kann im Kapitalismus auch eine längerfristige, rund ein halbes Jahrhundert währende Bewegungsform der Konjunktur belegt werden. Diese sieht wie folgt aus: Am Beginn der »langen Welle« gibt es die klassischen Rezessionszyklen von relativ hohen Wachstumsraten und niedrigerer Arbeitslosigkeit. In dieser Phase äußern sich Krisen »nur« in reduzierten Wachstumsraten. Im zweiten Verlauf der »langen Welle« kommt es am Ende der Zyklen zu offenen Krisen. Die Arbeitslosigkeit steigt stark an und erweist sich als strukturelle. Die Wirtschaftskrisen werden ergänzt durch Finanz- und Börsenkrachs. Vergleichbar dem fixen Kapital, das in den normalen Zyklen bestimmend wirkt, spielt die Einführung grundlegender neuer Technologien, die am Beginn einer »langen Welle« erfolgt, eine wichtige Rolle. So war die vorausgegangene »lange Welle«, die Ernest Mandel auf den Zeitraum 1894 bis 1939 datiert, von den Technologien des Benzinmotors und der Elektrizität bestimmt. Es gab in ihr im Zeitraum 1894 bis 1913 eine aufsteigende Tendenz: Zyklen mit hohen Wachstumsraten. Und im Zeitraum 1914 bis 1939 eine rückläufige Phase: Zyklen mit niedriger Wachstumsrate und schweren Wirtschaftskrisen. Die jüngste lange Welle, die nach dieser Definition 1940 (USA) bzw. 1945 (Westeuropa) einsetzte, ist geprägt von den Technologien der Elektronik, der Atomkraft und der »Ölwirtschaft«, letztere mit dem Schwerpunkt Autoindustrie. Hier gab es bis Ende der sechziger Jahre eine aufsteigende Phase mit relativ hohen Wachstumsraten. Seither erleben wir eine absteigende Phase, mit der beschriebenen Wiederkehr internationaler Krisen.

Es gab auch wieder Börsenkräche – so in den Jahren 1987 und 2001. Und vor allem gibt es eine massiv ansteigende Massenerwerbslosigkeit und immer schärfere soziale Gegensätze. All dies findet weltweit statt. Mit der sogenannten Globalisierung wird auch auf dem Gebiet des kapitalistischen Zyklus die Wiederkehr des ordinären Kapitalismus dokumentiert.


Einige Quellen:
– Max Wirth, Die Geschichte der Handelskrisen, Frankfurt/M. 21874, S.8; zitiert nach: Fred Oelßner, die Wirtschaftskrisen – die Krisen im vormonopolistischen Kapitalismus, Berlin/DDR 1949, S.177;

– Börsenwerte 2005 von General Electric und Siemens nach: Business Week, The Business Week Global 1200, December 26, 2005;

– Oskar Vetter-Zitat nach: ARD-Fernsehen vom 7.6.1977, wiedergegeben in: Ernest Mandel/Winfried Wolf, Ende der Krise oder Krise ohne Ende?, Berlin/W. (Wagenbach) 1977, S.231;

– Georg Fülberth, G Strich. Kleine Geschichte des Kapitalismus, Köln 2005 (PapyRossa), S. 261;

– Theorie der langen Wellen u.a. nach: Ernest Mandel, Der Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1972, S.124ff.