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Marx reloaded

Verbrechen Weltmarkt
Die Wiederkehr des ordinären Kapitalismus.
Serie / Teil I:
Die Globalisierung der Ungleichheit

von Winfried Wolf

 

Als das ZDF 2004 eine Umfrage nach den »größten Deutschen« durchführte, waren die ersten zwei Plätze mit Konrad Adenauer und Martin Luther keine großen Überraschungen. Doch auf Platz drei landete – zur Verblüffung vieler und zum Ärger einiger – Karl Marx. Ein Ausrutscher? 2005 führte der Spiegel eine Umfrage zur Bedeutung von Karl Marx durch. Danach sind – mit nur geringen Unterschieden zwischen Ost und West – 50 Prozent der Deutschen der Ansicht, daß »die Kritik von Karl Marx am Kapitalismus heute noch ihren Sinn« hat. 56 Prozent finden gar, daß der Sozialismus »eine gute Idee (ist), die bislang schlecht ausgeführt wurde.« Ansichten einer aussterbenden Spezies von Ostalgikern? Der Spiegel ergänzte entsetzt: »Hier fiel die Zustimmung bei den Jüngeren sogar noch höher aus.«

Der Ökonom und Nobelpreisträger Milton Friedman betonte jüngst in einem ausführlichen Interview in der Welt, daß sich diese 56 Prozent der deutschen Bevölkerung gründlich irren. Friedman: »Sozialismus im traditionellen Sinne bedeutete, daß eine Regierung und ein Staat über die Produktionsmittel, auch den Boden, verfügen. Außer in Nordkorea würde heute niemand mehr Sozialismus so definieren. Das wird auch nie wieder geschehen. Der Fall der Berliner Mauer hat mehr für den Siegeszug der Freiheit getan als all die Bücher, die von mir, Hayek oder anderen geschrieben wurden. Sozialismus heute bedeutet nur noch, daß eine Regierung Einkommen von den Wohlhabenden nimmt und denen, die nichts haben, etwas gibt. Dabei handelt es sich um einen Transfer von Einkommen, nicht von Eigentum. Diese Form des Sozialismus gibt es natürlich immer noch.«

Milton Friedman, der das marktradikale britische Wirtschaftsmodell unter der Premierministerin Margaret Thatcher als Vorbild für die zukünftige weltweite Entwicklung sieht, hob in dem Gespräch vor allem die angebliche zivilisatorische Tendenz des modernen Kapitalismus hervor. Auf die Frage »Prophezeien Sie, daß es mit der Freiheit und mit den freien Märkten weiter vorangeht im 21. Jahrhundert?« antwortete Friedman: »Ja. Die Welt hat als Ganzes mehr oder weniger den Freiheitsbegriff angenommen. (...) Die Welt ist freier geworden durch den Kollaps der Sowjetunion und durch die Wandlung Chinas. Alle Satellitenstaaten, die in Folge dieser beiden Transformationen befreit wurden, haben demokratische Regierungen (...) Das Fundament des freien Marktes wird sich erweitern auf andere Länder, die noch nicht so frei sind. Jeder weiß heute, daß der Weg zum Erfolg für unterentwickelte Länder nur in freieren Märkten und in der Globalisierung liegt.«


Geschlossener Club der Reichen: Die Staats- und Regierungschefs George W. Bush (USA), Paul Martin (Kanada), Jaques Chirac (Frankreich), Junichiro Koizumi (Japan)und Anthony Blair (Grossbritannien) während des G8-Gipfeltreffens im schottischen Gleneagles (8. Juli 2005)

 

Marx’ Prophezeiung

Tatsächlich erleben wir seit 1990 einen doppelten Prozeß: Weltweit setzt sich die moderne kapitalistische Produktionsweise durch – alles wird dem Verwertungszwang des Kapitals und dem Diktat der Profitmaximierung unterworfen. Dieser Prozeß wird unscharf als Globalisierung bezeichnet. Gleichzeitig mit dem Siegeszug der kapitalistischen Produktionsweise kommt es jedoch zur Wiederkehr des ordinären Kapitalismus: eines Kapitalismus, der in den westlichen Wirtschaftslehrbüchern längst als überholt galt, der gewalttätig ist, der Konkurrenz, Krisen, Finanzkrachs, Zerstörung und Kriege produziert. Und ein Kapitalismus, der vor allem weltweit Verarmung, Massenarbeitslosigkeit und krasse soziale Ungleichheit schafft.

Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben diese sehr spezifische Art von Globalisierung im »Kommunistischen Manifest« von 1848 wie folgt: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie (die kapitalistische Klasse; W.W.) über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten (...) Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation (Ausbeutung) des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. (...) Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Land selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. (...) An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. (...) Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt (...) Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.« (MEW 4, S. 465f.)

Im gleichen Atemzug liest man in diesem Text den Verweis: »Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert (konzentriert), die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in (...) eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse (...)« (a.a.O., S. 466 f.)

Ohne Zweifel hat sich die kapitalistische Produktionsweise seit 1990 nicht nur kontinuierlich ausgeweitet. Sie hat sich vor allem verdichtet: Im Zeitraum 1987 bis 2005 lag das Wachstum von Exporten und Importen (= Welthandel) bei jahresdurchschnittlich 6,6 Prozent. Das weltweite Bruttoinlandsprodukt (World Real Gross Domestic Product) wuchs dagegen mit 3,4 Prozent im Jahresdurchschnitt nur rund halb so stark. Das heißt, die weltwirtschaftliche Verflechtung hat stark zugenommen. Auch wurden »unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen (...) zusammengedrängt«, etwa in den Wirtschaftsblöcken der Europäischen Union (EU) und in der NAFTA (USA, Kanada und Mexiko). Es kam auch zur Verstärkung internationaler Institutionen wie dem Weltwährungsfonds und der Weltbank und zur Bildung der Organisation WTO, die weltweit die Marktwirtschaft und die Freiheit des Waren- und Kapitalverkehrs fördern soll. Auch werden zunehmend – so mit dem TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) – »die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen (...) Gemeingut«. Und der Verweis auf die »wohlfeilen Preise (von) Waren« als »schwere Artillerie, mit der alle chinesischen Mauern in den Grund« geschossen werden, wirkt angesichts der Eingliederung der chinesischen Ökonomie in den Weltkapitalismus heute wie ein prophetischer Satz.

Doch dieser Prozeß führte nicht zu dem, was mit dem Wort Globalisierung eigentlich ausgedrückt wird – zu einer weltweit gleichmäßigen Entwicklung. Vielmehr wurde die regionale Ungleichheit verstärkt. Die Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums auf wenige kapitalistische und imperialistische Zentren hat sich erhalten und teilweise verfestigt. Die Zahlen (in Tabelle 1) zur Struktur des weltweiten Bruttosozialprodukts sprechen eine deutliche Sprache.

Danach entfielen im Jahr 2003 auf die westlichen imperialistischen Länder in Nordamerika und Europa, auf Japan und Australien, in denen nur knapp 14 Prozent der Weltbevölkerung leben, 76 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Im Jahr 1993 lag dieser Anteil nur leicht höher, bei 80 Prozent. Die USA, deren Bevölkerung nur 4,6 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, konnten aufgrund ihrer relativ hohen Wachstumsraten ihren Anteil am Welt-BIP noch steigern – von 27 Prozent 1993 auf knapp 32 Prozent 2003. Westeuropa (die EU mit 15 Mitgliedstaaten, ergänzt um die Schweiz, Norwegen und Island) verzeichnete einen leichten Rückgang – von einem 32,5-Prozent-Anteil auf 27,9 Prozent im Jahr 2000. Doch die zwischenzeitliche Erweiterung der EU um zehn neue Mitgliedstaaten – die in der Tabelle nicht berücksichtigt wird – hat diesen Bodenverlust mehr als wettgemacht. Der deutliche Rückgang des japanischen Anteils am weltweiten Bruttoinlandsprodukt (von 16,7 auf 12,7 Prozent) ist Ergebnis der tiefen Krise, in die der japanische Kapitalismus im Zeitraum 1992 bis 2002 geriet.

Reiche Regionen legen zu

Den überproportionalen Anteilen am Welt-BIP und damit am weltweiten gesellschaftlichen Reichtum der industrialisierten westlichen Staaten stehen die unterproportionalen Anteile der »übrigen Welt« gegenüber. Besonders kraß ist dies im Fall des afrikanischen Kontinents, dessen 820 Millionen Menschen 13,4 Prozent der Weltbevölkerung ausmachten, die jedoch 2003 nur über ein Bruttoinlandsprodukt verfügen, das 1,6 Prozent des weltweiten entspricht.

Dieses Beispiel für eine Entwicklung kontinuierlicher absoluter Einkommensverluste steht in offenem Gegensatz zu den Behauptungen der Globalisierungsbefürworter. Doch die relativen Ungleichgewichte sind nicht nur regional vorhanden, sie sind global bestimmend. So kann selbst die Gruppe der 13 aufgeführten Schwellenländer – unter ihnen die sogenannten asiatischen Tigerstaaten –, in denen 18,1 Prozent der Weltbevölkerung lebt (also deutlich mehr als in den aufgeführten westlichen Industriestaaten), nur knapp zehn Prozent des weltweiten BIP auf sich vereinen.

Das einzige Land, das nicht zum traditionellen imperialistischen Sektor zählt und dessen Teilhabe am weltweiten gesellschaftlichen Reichtum deutlich wuchs, ist die Volksrepublik China. Diese konnte ihren Anteil von knapp drei Prozent 1993 auf 4,6 Prozent 2003 steigern. Berücksichtigt man eine massive Korrektur der Statistik vom Dezember 2005, wonach laut Angaben von Peking das chinesische BIP um 17 Prozent höher ausfällt, so kommt China inzwischen auf einen Anteil am Welt-BIP von fünf Prozent. Allerdings entspricht die chinesische Bevölkerung mehr als einem Fünftel (oder 21 Prozent) der Weltbevölkerung. Damit verglichen sind die fünf Prozent Anteil am weltweiten BIP ebenfalls erheblich unterproportional.

Ein vergleichbares Bild wie im Fall der Verteilung des weltweiten Bruttoinlandsproduktes ergibt sich, wenn wir einen Blick auf die zweite Tabelle, die Entwicklung der Weltmarktanteile – auf die Anteile am weltweiten Warenexport – werfen.


Hier kommt im Jahr 2004 allein die Gruppe der fünf klassischen imperialistischen Länder USA, BRD, Japan, Frankreich und Großbritannien auf einen Anteil von rund 35 Prozent aller Warenexporte. Dieser Anteil reduzierte sich zwar in den letzten eineinhalb Jahrzehnten. Doch andere Industriestaaten holten auf oder stießen zu dieser führenden Gruppe hinzu. Allein die Exporte der zwölf Staaten der Eurozone entsprechen im Jahr 2004 31,3 Prozent aller Exporte. Der Internationale Währungsfonds benutzt in seinen Statistiken den Begriff der »Advanced Economies« und faßt darunter die folgenden 29 Staaten zusammen: USA, Kanada, Japan, Australien, Neuseeland, die »alte« EU mit 15 Mitgliedstaaten, Schweiz, Norwegen, Island und Zypern, aus Asien Hongkong, Südkorea, Singapur und Taiwan und Israel. Die Bevölkerung in diesen 29 Staaten entspricht nur 15,4 Prozent der Weltbevölkerung. Doch ihr Anteil an den Weltexporten liegt bei 71,6 Prozent (2004).

Beim Welthandel erscheint der Aufstieg Chinas noch deutlicher. Der Weltmarktanteil Chinas liegt 2004 erstmals über demjenigen Japans. China wurde 2004 zum drittgrößten Warenexporteur der Welt. Inwieweit sich daraus ableiten läßt, daß sich das Gravitationszentrum des Weltkapitalismus nach China verschiebt – so wie es sich nach dem Ersten Weltkrieg von Großbritannien nach den USA verschoben hat –, müßte gesondert debattiert werden.


Ungleiche Konzernmacht

Eine Untersuchung der Unternehmen, die den Weltmarkt bestimmen, verstärkt den Eindruck eines geschlossenen Clubs weniger Staaten, der die Konzentration von Kapital und Marktmacht bestimmt. In der Gruppe der 200 umsatzstärksten Unternehmen der Welt hatten im Jahr 2003 187 ihre Firmensitze in 13 klassisch-imperialistischen Ländern: 77 in den USA, 28 in Japan, je 20 in der BRD und in Frankreich, 16 in Großbritannien (einschließlich zweier britisch-niederländischer Firmen), sieben in den Niederlanden, sechs in der Schweiz, fünf in Italien, drei in Spanien, zwei in Norwegen und jeweils eines in Finnland, Luxemburg und Belgien. Weitere sieben Länder der Dritten Welt und der Schwellenstaat Südkorea beheimaten die restlichen 13 Unternehmen. Dabei kann in dieser Gruppe nur Südkorea mit vier Unternehmen als ernstzunehmender Mitspieler bezeichnet werden. Bei den übrigen Firmen handelt es sich bis auf eine Ausnahme um staatliche Ölunternehmen, denen ein Sonderstatus zukommt (so Pemex in Mexiko, PDVSA in Venezuela und Petronas in Malaysia).

In dieser Top-200-Gruppe sind zwei chinesische Mineralölkonzerne gelistet: Sinopec (Rang 53) und China National Petroleum (Rang 73). Während die westlichen Ölkonzerne bei weit größeren Umsätzen nur 100000 und weniger Beschäftigte zählen, weisen Sinopec 854000 und China National Petroleum mehr als eine Million Beschäftigte aus. Die Produktivität der westlichen Konzerne – und damit deren Wettbewerbsfähigkeit – liegt also deutlich höher.

Doch in der kapitalistischen Gesellschaft sind auch Umsätze oder Arbeitsplätze nur ein sekundärer Indikator für Macht und Größe. Als entscheidend gilt immer und überall: Was kostet das? Also hier: Was ist der Kaufpreis der Konzerne oder deren »Börsenwert«, die Summe aus Aktienkurswert multipliziert mit der Zahl der ausgegebenen Aktien? Hier sind die Machtverhältnisse nochmals deutlicher – und Ausdruck der extremen Ungleichheit innerhalb der »globalisierten« Weltwirtschaft (siehe Tabelle 3 ).

Danach entspricht selbst in der doch recht großen Gruppe der 1200 teuersten Konzerne der Welt die Marktmacht allein der US-amerikanischen Unternehmen knapp 50 Prozent. Diejenige der in den drei NAFTA-Staaten angesiedelten Unternehmen kommt auf 52,5 Prozent. Nimmt man die Marktmacht der anderen zwei imperialistischen Blöcke EU (rund 30 Prozent) und Japan (knapp zehn Prozent) hinzu, dann entspricht die Kapitalmarktmacht der nordamerikanischen, japanischen und westeuropäischen Konzerne mehr als 90 Prozent des Börsenwerts der 1 200 größten Unternehmen in der Welt. Allein die schweizerischen Unternehmen in dieser Gruppe sind (mit drei Prozent Anteil) doppelt so marktmächtig wie die chinesischen (mit 1,5 Prozent Marktanteil). Die zum Teil erheblichen Wachstumssprünge 2004 gegenüber dem Vorjahr (etwa im Fall Mexiko um 53 und im Fall Norwegen um 78 Prozent) sind Ergebnis des rasanten Anstiegs der Energiepreise und der Tatsache, daß bei diesen Ländern und auf dieser Liste der 1200 Konzerne die Öl- bzw. Gas-Öl-Konzerne bestimmend sind.

Karl Marx fragt in den »Theorien über den Mehrwert«: »Ohne nationale Verbrechen – wäre je der Weltmarkt entstanden?« (MEW 26.1, S. 364) Vor dem Hintergrund der konkreten Auswirkungen der sogenannten Globalisierung erscheint diese Feststellung als Untertreibung. Der Weltmarkt als solcher – und die damit verfestigte Ungleichheit – ist ein Verbrechen. In den afrikanischen Ländern südlich der Sahara (»Sub-Saharan Africa«) sank seit 1980 sogar das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt absolut. In der Folge sinkt dort seit 1990 auch die Lebenserwartung: Sie lag 1990 bei 50 Jahren. 15 Jahre nach Beginn der Globalisierung liegt sie bei 46,5 Jahren.

Doch das ist erst der Anfang. Diese Art Globalisierung soll fortgesetzt werden. In dem zitierten Interview wurde Milton Friedman gefragt: »Erleben wir heute die freieste Weltwirtschaft aller Zeiten?« Friedmans Antwort: »Oh nein! Im 19. Jahrhundert hatten wir eine weit freiere Wirtschaft. Heute haben wir weniger Globalisierung als damals.«

Friedman hat im doppelten Sinne recht. Erstens sind die gegenwärtigen Staaten und Blöcke trotz all des Freihandels und dem Abbau des Sozialstaats bisher noch weit stärker von Schutzmechanismen (»Protektionismus«) und sozialstaatlichen Elementen geprägt als die Ökonomien des 19. Jahrhunderts. Zweitens hat die sogenannte Globalisierung erst vor zwanzig oder fünfzehn Jahren begonnen. Vor dem Hintergrund des 300 Jahre alten Kapitalismus ist dies eine eher kurze Periode. Das, was an neuer Ungleichheit bisher erreicht wurde, ist beträchtlich. Doch es ist noch deutlich steigerbar – indem das Gewaltverhältnis, das sich im Kapital ausdrückt, noch deutlicher zutage tritt – und gleichzeitig immer mehr Mechanismen, die Schwache teilweise schützten, hinweggefegt werden.

Milton Friedman weiß, wovon er redet, wenn er auf das 19. Jahrhundert verweist, also auf den Manchesterkapitalismus, in dem der »Normalarbeitstag« bei zwölf und mehr Stunden lag und Dutzende Millionen Kinder für den Profit der Konzerne schuften mußten. Just darauf läuft es hinaus. Der Nobelpreisträger Friedman war in den siebziger Jahren wirtschaftspolitischer Berater des chilenischen Diktators Augusto Pinochet. Friedman sieht auch heute noch das damals durch Putsch, Terror und Folter aufgezwungene »freie Wirtschaftsmodell« in Chile als Vorbild für die Zukunft des Kapitalismus. Das heißt, Gewalt, Folter und Verneinung von Zivilisation, die vor drei Jahrzehnten die Pinochet-Diktatur in Chile bestimmten, waren kein Sonderfall. Sie waren konstitutiv für den ordinären Kapitalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Und sie müssen als Vorspiel für den ordinären Kapitalismus verstanden werden, den wir heute wieder erleben. Die Ähnlichkeit zwischen den Pinochet-Folterkellern in der Deutschensiedlung »Colonia Dignidad« von 1973 bis in die achtziger Jahre und den aktuellen Ereignissen in Abu Ghraib und Guantánamo ist keine zufällige. Sie hat einen ökonomischen Unterbau. Die Wiederkehr des ordinären Kapitalismus in Chile 1973ff droht sich als Vorspiel zu erweisen für die Wiederkehr des ordinären Kapitalismus im globalen Maßstab.

 

* Einige Quellen:
– Angaben zu Marx-Umfragen nach: Der Spiegel 34/2005;

– Interview mit Milton Friedman in: Die Welt v. 2.12.2005;

– Statistische Angaben zur aktuellen Weltwirtschaft u.a. nach: World Economic Outlook, November 2005, IMF/ International Monetary Fonds und Statistisches Jahrbuch 2005, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, Band Ausland;

– Angaben zur Sahel-Zone nach: Financial Times (London) v. 16.3.2005;

– Angaben zu den weltweit größten Konzernen nach: Fortune, New York, »Global 500«, Ausgabe v. 26.7.2004;

– Angaben zu den Börsenwerten der 1 200 teuersten Unternehmen in der Welt nach: Business Week v. 26.12.2005.