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Venezuela

Revolution in der Revolution

von Stuart Piper aus INPREKORR 406/407, September/Oktober 2005


Der sich in Venezuela entfaltende politische Kampf ist in der heutigen Welt zum wichtigsten Bezugspunkt sowohl für die Linke als auch für die Global-Justice-Bewegung geworden. Sehr deutlich wurde dies in Porto Alegre beim 5. Weltsozialforum, als Chavez – im Gegensatz zum brasilianischen Präsidenten Lula – ein grandioser Empfang bereitet wurde. In einer Zeit, in der die enorme Bewegung gegen den Irak-Krieg mit der Formulierung von politischen Zielen Schwierigkeiten hatte; in einer Zeit, in der die Erfahrungen mit anderen linken Regierungen in Lateinamerika enttäuschend und von Verrat gekennzeichnet waren; in einer solchen Zeit scheint Venezuelas „Bolivarische Revolution“ zu beweisen, dass es vielleicht doch einen anderen Weg, eine Alternative gibt.

Die meisten von uns Linken haben nur sehr langsam erkannt, was in Venezuela wirklich geschieht. Es ist daher um so wichtiger, jetzt den Prozess in Venezuela zu beobachten und zu diskutieren, damit wir uns einerseits besser an der internationalen Solidaritätsbewegung beteiligen können, die die venezolanische Bevölkerung so dringend braucht und verdient, und damit wir andererseits diesen komplexen und einmaligen politischen Prozess verstehen und von ihm lernen können.


EINE NEUE PHASE

Der Augenblick ist gut gewählt. Mit den entscheidenden Siegen bei den Umfragen des letzten Jahres begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte Venezuelas. Eine Mehrheit von 60% stimmte bei dem Referendum am 15. August 2004 für Hugo Chavez und für die Fortführung seiner Politik und stellte sich denen, die versuchten, Chavez abzusetzen, entgegen. Nachdem die Opposition schon dramatische Niederlagen bei dem Putschversuch im April 2002 und bei dem Versuch, die Ölindustrie lahmzulegen, erlebt hatte (beides konnte durch spektakuläre Massenmobilisierungen verhindert werden), scheiterte sie jetzt auch mit ihrem letzten Trumpf – einem legalen und „verfassungsgemäßen“ Referendum. Sie befindet sich seitdem in einem Zustand der völligen Konfusion, wobei ein Teil der venezolanischen Business-Klasse versucht, mit Teilen der Regierungsmaschinerie neue Arrangements zu treffen, um weiterhin Geld machen zu können. Die letzten VertreterInnen aus Washington wurden mit faulen Eiern beworfen und wissen nun nicht, wie ihr nächster Schachzug aussehen könnte. Die hohen Siege bei den Landtags- und Kommunalwahlen im Oktober 2004 bestätigen, dass die Bevölkerung den eingeschlagenen Weg weitergehen möchte.

Natürlich sind auch nach diesen Siegen die Chavez-Regierung und der begonnene Prozess weiterhin bedroht, sowohl durch innere als auch durch internationale GegnerInnen. Aber die momentane Abwehr der Opposition gibt neuen Spielraum. Chavez und seine ihm am nächsten stehenden UnterstützerInnen sprechen jetzt von einer „neuen Phase“, von einem „Sprung nach vorne“, von der „Revolution in der Revolution“. Im November fand ein Treffen zwischen ihnen und allen neugewählten BürgermeisterInnen und GouverneurInnen statt, um mit dem Entwurf eines neuen „strategischen Plans“ zu beginnen. Seitdem wendet sich Chavez immer mehr nicht nur gegen den „Neoliberalismus“, sondern direkt gegen den Kapitalismus. Beispielsweise wies er zu Beginn diesen Jahres auf die Notwendigkeit hin, sozialistische Lösungen für das 21. Jahrhundert (wieder) in Betracht zu ziehen. Im April dann sprach er es endlich deutlich aus: „Ich bin ein Sozialist.“ Und: „Sozialismus.

Darauf steuern wir zu.“ Der Bolivarischen Revolution wurde auch von außerhalb Venezuelas viel Sympathie entgegengebracht (v. a. von LateinamerikanerInnen) und immer mehr von uns Außenstehenden wurde klar, dass hier etwas geschieht, was sehr ernst zu nehmen ist. Natürlich müssen wir uns Zeit nehmen, um den dortigen Ereignissen folgen zu können und um sie zu verstehen, und wir sollten es unbedingt vermeiden, zu rasch ein Urteil zu fällen. Aber trotzdem sollten wir versuchen, einige der Hauptcharakteristiken dieses Prozesses zu identifizieren.


STÄRKEN UND SCHWÄCHEN

Auch auf die Gefahr hin, zu stark zu vereinfachen, kann bei dem in Venezuela stattfindenden Prozess von zwei großen Stärken und von zwei große Schwächen gesprochen werden.

Mobilisierung
Eine der wichtigsten Stärken der Bolivarischen Revolution beruht auf der enormen Mobilisierungsfähigkeit der venezolanischen Bevölkerung. Diese Fähigkeit hat sich während der letzten Jahre auf viele unterschiedliche Arten gezeigt und findet ihren Beginn im Caracazo von 1989, als sich Zehntausende Menschen aus den Slums (oder „Ranchos“) von Caracas gegen ein Strukturanpassungsprogramm des IWF wendeten und in einem spontanen Aufstand die Straßen eroberten. (Wie viele Menschen bei den darauffolgenden Repressionen getötet wurden, ist nicht bekannt. Vermutlich handelte es sich um mehrere Tausend.)

Viele Chavez-AnhängerInnen und auch Hugo Chavez selbst betrachten den Caracazo als den Beginn ihrer Revolution (was wahrscheinlich eher einen symbolischen als einen realen Charakter hat). Die Ereignisse vom Februar 1989 zeigten jedoch deutlich den Willen der – hauptsächlich in Städten lebenden – armen Bevölkerung Venezuelas, auf eigene Rechnung etwas zu unternehmen, auch wenn die Chancen auf einen Sieg gering sind und sie nicht auf bereits existierende Organisationsformen zurückgreifen können .
Chavez, der in den internationalen Medien regelmäßig als „Autoritärer“ und „Putschplaner“ bezeichnet wird, hat einen Rekord an Wahlsiegen aufgestellt.

Auch noch während der vergangenen sechs Jahre, der Jahre der eigentlichen Bolivarischen Revolution, hat sich diese Mobilisierungsfähigkeit einige Male gezeigt, aber jetzt immer ganz klar zur Verteidigung des einen undiskutierten Führers, nämlich Hugo Chavez. Das wichtigste Ereignis war hierbei sicherlich der Aufstand vom 11. – 13. April 2002, der den von Washington unterstützten Staatsstreich stoppte und Chavez nur 48 Stunden nachdem er gezwungen worden war, den Präsidentenpalast zu verlassen, im Triumph dorthin zurückbrachte.

Diese Mobilisierungsfähigkeit hat sich auch an den Wahlurnen gezeigt – acht- oder neunmal in den letzten sechseinhalb Jahren. Chavez, der in den internationalen Medien regelmäßig als „Autoritärer“, „Linker“, „Einheizer“ und „Putschplaner“ bezeichnet wird, hat damit einen Rekord an Wahlsiegen aufgestellt, der bisher von keinem anderen bürgerlichen Demokraten der Welt gebrochen werden konnte. Und dabei von Wahlbetrug keine Spur. Ihren stärksten Ausdruck fand diese Art der Mobilisierung in dem Referendum vom letzten Jahr. Zehntausende Menschen beteiligten sich an den Unidades de Batalla Electoral (Organisationseinheiten, die beim Referendum aktiven Wahlkampf für Chavez machten) und an den Patrullas (diese hatten die Aufgabe, sicherzustellen, dass möglichst Viele über die nötigen Papiere verfügten, um am Referendum teilnehmen zu können), die eine entscheidende Rolle bei dieser entscheidenden Nochmal-Legitimierung des revolutionären Prozesses spielten. Sie ersetzten völlig die fade und fraktionelle Kampagne, die von den Pro-Chavez orientierten politischen Parteien, die im Ayacucho Command zusammen kamen, initiiert worden war.

Jedoch waren diese beiden Mobilisierungen hauptsächlich defensiver Natur. Sie demonstrierten, dass eine Mehrheit des venezolanischen Volkes bereit ist, zu kämpfen (auch auf der Straße, wenn nötig), um das zu verteidigen, was die Menschen als ihre Regierung, als ihre Führung, als ihre Revolution betrachten.

Weniger offensichtlich und im Maßstab eingeschränkter, aber vielleicht auf lange Sicht wichtiger, waren die offensiveren Formen von Mobilisierung: Teile der Bevölkerung wurden nicht nur für die Verteidigung des Erreichten aktiv, sondern auf ganz unterschiedliche Weise begannen die Menschen, sich auch für das noch nicht Erreichte einzusetzen. Zum Beispiel bildeten die BewohnerInnen der städtischen Elendsviertel Komitees, die sich mit der Land-, der Gesundheits- und der Wasserfrage auseinandersetzen und die einige der außerhalb der Ministerien angesiedelte Sozialprogramme der Regierung, die sogenannten Misiones unterstützen und „managen“.

Außerdem gab es mehrere Versuche (die allerdings immer wieder von den pro-Chavez eingestellten lokalen RegierungsvertreterInnen vereitelt wurden), lokale oder kommunale Planungsräte einzurichten, die Investitionspläne und den lokalen Regierungshaushalt aufstellen und implementieren sollten.

Als Antwort auf den Ruf der Regierung, eine „endogene“, das heißt integrierte, selbstversorgende Entwicklung voranzutreiben, wurden mehr als 40.000 städtische und ländliche Kooperativen unterschiedlichster Art gegründet, von denen jedoch die meisten noch nicht verwirklicht sind, sondern sich noch in der Planungsphase befinden.

Zu guter letzt gibt es auch einige zaghafte und vorsichtige Versuche in einigen Fabriken und an einigen Arbeitsplätzen, eine Art von ArbeiterInnenkontrolle einzuführen.

Der ehrgeizigste Versuch dieser zuletzt erwähnten Form von Selbstorganisierung fand während der Lahmlegung der Ölindustrie im Jahr 2002/ 2003 statt. Hierbei bemühten sich einige Beschäftigte des staatlichen Ölkonzerns PDVSA (z.B. in der Raffinerie in Puerto de la Cruz) aus der bloßen Verteidigung dieser wirtschaftlichen Schlüsselressource des Landes öffentliche Kontrolle über den Konzern entstehen zu lassen. Aber noch bevor die Krise beendet wurde, scheiterten diese Bemühungen, und die Debatte, die seit dem über das genaue Timing und die Taktik solcher Maßnahmen, die Venezuelas einzige ökonomische Lebensader und somit auch die der Bolivarischen Revolution betreffen, geführt wird, ist sicher gerechtfertigt. Aber auf diesen Versuch folgten weitere und symbolisch sehr wichtige Versuche, die in weniger sensiblen Bereichen stattfanden, wie z.B. der Bankrott der Papierfabrik Venepal, welche von der Regierung dieses Jahr enteignet und unter der Kontrolle der ArbeiterInnen als Invepal wieder eröffnet wurde, oder wie z.B. die kleinere Nationale Ventil Gesellschaft, wo sich die ArbeiterInnen für eine ähnliche Aktion einsetzen. Auch in viel größeren Industrien, wie der staatlichen Aluminiumgesellschaft Alcasa, gibt es Anfänge für ArbeiterInnenkontrolle oder Co-Management, wenn auch über das Ausmaß und den genaue Charakter noch keine Klarheit besteht.

Chavez’ Entwicklung

Die zweite große Stärke, die sich bei dem politischen Prozess in Venezuela beobachten lässt, sind die sich entwickelnden Führungsqualitäten, die Chavez und seine engsten MitarbeiterInnen zeigen. Zwar wurde darüber schon viel geschrieben, es gäbe aber noch viel mehr darüber zu berichten. Hier soll dazu nur gesagt werden, dass Hugo Chavez sowohl ideologisch als auch in seiner Praxis sehr unterschätzt worden war – sowohl von seiner venezolanischen und internationalen Gegnerschaft als auch von uns Linken. Bis zu einem gewissen Grad kann man sagen, dass die Regierung unter Chavez in Venezuela genau das gemacht hat, wozu die Regierung unter Lulas PT in Brasilien weder den Mut noch die Überzeugung hatte – nämlich sich dem Imperialismus entgegenzustellen und auf einen klaren Bruch mit seinen neoliberalen Grundsätzen hinzuarbeiten.

Ja, es gibt bei Chavez Aspekte von linkslastigem Populismus, militärischem Nationalismus und von purem Pragmatismus – was ihn lebendig macht – gepaart mit einem Gutteil flammender Rhetorik. Aber nichts davon trifft Chavez’ Sinn für Taktik, seine großen pädagogischen Fähigkeiten oder seine tiefe, radikale Überzeugung, die bei seiner Regierungstätigkeit immer deutlicher zu Tage treten.

Seine Prinzipien können in vier grundlegenden Punkten zusammengefasst werden:

• Souveränität: Venezuela (und auch ganz Lateinamerika) muss die völlige Kontrolle über seine Ressourcen, sein Territorium und seine Entscheidungsprozesse zurückerlangen;

• Partizipatorische Demokratie: Die einzige Möglichkeit Armut abzuschaffen, ist, den Armen Macht zu geben;

• Eine neue Wirtschaft: das neue notwendige Wirtschaftsmodell kann nicht innerhalb des Kapitalismus verwirklicht werden;

• Internationalismus: Es gibt keine Lösungen rein auf der nationalen Ebene.

Während der letzten Monate der „neuen Phase“ der Bolivarischen Revolution sprach Chavez seine Überzeugungen immer deutlicher aus und er zeigte immer mehr seine persönliche Verpflichtung dem Sozialismus gegenüber. Das gefällt sicher vielen von uns. Man kann sich nur schwer an ein Staatsoberhaupt erinnern, dass vor einem großen internationalen Publikum sagte, dass wir aus der Debatte zwischen Stalin und Trotzki lernen sollten und dass, soweit er es beurteilen kann, Trotzki Recht hatte.

Während der letzten Monate der „neuen Phase“ der Bolivarischen Revolution zeigte Chavez immer mehr seine persönliche Verpflichtung dem Sozialismus gegenüber.

Natürlich sollten wir uns nicht von unseren Gefühlen hinreißen lassen. In der gleichen Rede an späterer Stelle stimmt Hugo Chavez fast so etwas wie einen Lobgesang auf Putin, Chirac, Ghaddafi oder Ayatollah Khomeini an; auch kommt er Lula zu Hilfe, zum Beispiel als gegen Ende des Weltsozialforums in Porto Alegre die brasilianische Regierung vom Publikum im Saal lautstark angegriffen wurde. Bis zu einem gewissen Grad mag es sich dabei um diplomatische Zugeständnisse gehandelt haben. Es scheint sich hier aber auch eine neue Art von „Blockdenken“ widerzuspiegeln; ein „Blockdenken“, das die Welt unterteilt in diejenigen, die für das Weiße Haus sind und diejenigen, die in welchem Sinne auch immer „dagegen“ sind. Hier zeigen sich immer wieder Widersprüche zwischen den von Chavez vertretenen radikalen Prinzipien und der Wirklichkeit.

Es bleibt jedoch die Tatsache bestehen, dass wir seit der kubanischen Revolution (oder vorher) keinen Führer eines revolutionären Prozesses mehr gesehen haben, der seine sozialistischen Überzeugungen so deutlich zum Ausdruck bringt und der sie anscheinend auch ernsthaft in die Praxis umsetzen möchte.

Venezuelas Ölreichtum hat den VenezolanerInnen ein Vermächtnis tiefer ökonomischer und sozialer Verzerrungen hinterlassen, aber in Kombination mit den hohen Weltmarktpreisen macht es einen revolutionären Prozess möglich.

Es gibt natürlich einen wichtigen Faktor zum Vorteil für den in Venezuela statt findenden Prozess, einen Vorteil, der wenig mit der politischen Kreativität von Chavez oder den VenezolanerInnen zu tun hat, nämlich das Öl. Venezuela ist nicht nur der fünftgrößte Ölproduzent der Welt und der Hauptlieferant allen Treibstoffs, der an der Ostküste der Vereinigten Staaten verbraucht wird. Es wird auch gerechnet, dass Venezuela die größten Ölreserven der Welt hat, wenn man das superschwere Rohöl (super heavy crude) im Orinoco-Gürtel dazuzählt. In der Vergangenheit wurde dieses super heavy crude von den Ölfirmen gar nicht als Öl definiert, sondern als Bitumen, das als eine Art von Kohle zählte. (Sie konnten auf diese Weise Steuern sparen.) Moderne Raffinerie- Technologien machen es aber relativ einfach, dieses super heavy crude in hochwertigen Treibstoff zu verwandeln. Venezuelas Ölreichtum hat den VenezolanerInnen ein Vermächtnis tiefer ökonomischer und sozialer Verzerrungen hinterlassen, aber in Kombination mit den hohen Weltmarktpreisen macht es einen revolutionären Prozess möglich, der eine noch nie dagewesenen Menge an ökonomischen Muskeln spielen lassen kann.

Jedoch können wir den in Venezuela stattfindenden Prozess nur verstehen, wenn wir diese Stärken in Verbindung setzen zu den deutlichen Schwächen, die die Bolivarische Revolution aufweist – oder besser gesagt: zu den großen Herausforderungen, die es zu überwinden gilt.

Fehlende Organisation

Die größte Herausforderung ist wahrscheinlich die extreme Schwäche der sozialen Bewegungen und der linken politischen Parteien in Venezuela.

Das Fehlen von sozialen Bewegungen scheint paradox zu sein in einem Prozess, der so gekennzeichnet ist von Massenmobilisierungen. Es gibt aber nichts in Venezuela, was sich, unabhängig von deren Organisationsproblemen oder Perspektivenkrisen, auch nur im Entferntesten mit der Landlosenbewegung in Brasilien, den indigenen Bewegungen in Ecuador oder Bolivien bzw. den Piqueteros in Argentinien vergleichen lässt.

Die Gründe dafür sind sehr komplex. Ein Erklärungsansatz könnte mit der Tatsache zusammenhängen, dass das, was an Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen in Venezuela existiert hatte, sehr stark an die Demokratische Aktion (AD) geknüpft war. Bei der AD handelte es sich um die höchstkorrupte, möchtegern „sozialdemokratische“ Partei Venezuelas, die an vorderster Front stand bei der Einführung neoliberaler Politik in den 80er und 90er Jahren und die zum Zentrum der Opposition der herrschenden Klasse gegen Chavez wurde.

Aber was auch immer die Gründe sein mögen für das Fehlen von starken, unabhängigen sozialen Bewegungen, die Folgen sind weitreichend. Zum einen führt es dazu, das Organisierungen, die rund um Mobilisierung entstehen, eine Tendenz zur Kurzlebigkeit haben. Die „Bolivarischen Zirkel“ beispielsweise sind schon längst wieder verschwunden. Ihre Energie wurde zum Teil in die Misiones und in die Gesundheits-, Land-, und Wasserkomitees gesteckt. Politisch gesehen bereiteten sie die UBEs und die Patrullas vor, die letztes Jahr die Kampagne für das Referendum führten. Diese wiederum sollen sich jetzt in Unidades de Batalla Endógena (Organisationseinheiten zum Kampf gegen die Armut) umwandeln, um die Entstehung von integrierten, kooperativen Entwicklungsprojekten zu schützen. Und als das Verhältnis zu den USA immer angespannter wurde, entstanden aus lokalen Gemeinschaften und am Arbeitsplatz erste lokale Selbstverteidigungsstrukturen. Diese verschiedenen Vorhaben mögen völlig gerechtfertigt sein. Aber die Instabilität der Organisationsformen macht es sehr schwierig, aus unterschiedlichen Sektoren heraus zu einer gemeinsamen Plattform mit kohärenten Perspektiven und Forderungen zu finden.

Zum zweiten stellt sich deshalb die Frage nach dem autonomen Charakter solcher Massenmobilisierungen bzw. -organisationen. Das Fehlen von starken nationalen Bewegungen mit ihren eigenen spezifischen Forderungen kann zu einer akuten Abhängigkeit von Initiativen, die aus dem Zentrum der Macht, aus dem Staatsapparat oder gar von Chavez selbst kommen, führen. Genau diese direkte und absolut zentrale Beziehung zwischen der Führung und den Massen lässt den Eindruck entstehen, dass es sich hier um Populismus handelt. Dieser Eindruck entspricht sicherlich zum Teil – was die Form betrifft, nicht den Inhalt – der Wahrheit.

Die einzige wirkliche Ausnahme von diesem Phänomen ist der neue Gewerkschaftsdachverband UNT (Unión Nacional de los Trabajadores), der in den letzten zwei Jahren in gewisser Weise begann, den Raum zu füllen, den der Zusammenbruch der alten Bürokratie der CTV (Confederación de Trabajadores de Venezuela) hinterließ, der seiner schmachvollen Rolle in dem missglückten Putsch und der Lahmlegung der Ölindustrie im Jahr 2002 folgte.

Eine Ausnahme ist die UNT hauptsächlich deshalb, weil sie als die einzige soziale Bewegung bezeichnet werden kann, die in ihren Reihen und in ihrer Leitung eine bedeutende Strömung von autonom organisierten RevolutionärInnen hat – speziell die von OIR. Es handelt sich hierbei um eine Umgruppierung von revolutionären MarxistInnen, die sich noch im Prozess der Formierung befinden, von denen viele – aber nicht alle – von der trotzkistischen Moreno-Tradition kommen. Für die Hauptparteien, die die Bolivarische Revolution unterstützen, gehören sie sicher zum schwächsten Teil. Die kleineren Parteien (PPT, Podemos, kommunistische Partei und UVP) mögen einige wichtige Kader stellen, aber als politische Parteien, als Organisatorinnen von kollektiver politischer Aktion und von politischen Ideen sind sie völlig uneffektiv. Die größte Partei der Chavistas, die MVR (Bewegung der fünften Republik), ist nicht wirklich eine Partei. Es hat noch nie ein Kongress stattgefunden, es gibt kein parteiinternes Leben, das der Rede Wert wäre, und sie hat kein ideologisches oder programmatisches Profil. Bei dieser Partei handelt es sich eher um eine Verschmelzung von Gruppen, Clans und Interessen, von denen viele ernste Anliegen haben mögen, von denen aber auch ein guter Teil opportunistisch bzw. rein auf Wahlen ausgerichtet ist.

Chavez und sein Team sind sich der oben beschriebenen Probleme sicherlich bewusst. Aber es ist völlig unklar, wie es ihnen gelingen soll, unter diesen Umständen eine echte militante Partei aufzubauen. Wenn es ihnen aber gelingt, dann wird die entscheidende Frage sein, inwieweit sie „konstruktiv kritische“ Stimmen wie OIR einbauen können.

Der Staat
Alle diese Schwierigkeiten stehen in Zusammenhang mit der anderen großen Herausforderung, vor der die Bolivarische Revolution steht: ihr Verhältnis zum Staat. Das, was wir in Venezuela im Moment beobachten können, ist das Paradox einer Revolution (bzw. eines revolutionären Prozesses), die bisher noch nicht in der Lage war, den entscheidenden Bruch mit dem bürgerlichen Staatsapparat herbeizuführen.

Es gab teilweise Brüche und neue Arrangements. Nach der Wahl von Chavez im Jahr 1998 begann Venezuelas traditionelle Elite die politischen Führungsposten, von denen aus sie den Staat eine so lange Zeit lang wie ihr Privateigentum behandelt hatte, zu verlieren. Der Entwurf einer neuen Verfassung durch eine verfassungsgebende Versammlung im Jahr 2000 gab dem Spiel einige neue Spielregeln. Die Aufstände der Bevölkerung, die im April 2002 den Putsch niederschlugen, begleitet von einer Revolte von jungen Offizieren und Soldaten, brach dem offenen Widerstand innerhalb des Staatsapparates das Rückgrat, am besten sichtbar in den höheren Rängen der Streitkräfte.

Zweifellos existiert immer noch eine unterschwellige Opposition innerhalb von Teilen der Streitkräfte, der Polizei und des Justizapparates. Vorfälle aus jüngster Zeit, wie zum Beispiel der Mord an dem Staatsanwalt Danilo Anderson oder die Entführung des kolumbianischen Guerrillaführers Rodrigo Granada durch venezolanisches, in Kolumbien eingesetztes Militär, oder die scheinbare Lähmung bei Versuchen, jemanden vor Gericht zu bringen, weisen darauf hin, dass die Sache nicht so ruhig läuft, wie es die Regierung gern hätte.

Aber das wirkliche Problem ist ein viel grundsätzlicheres: Die Bolivarische Revolution versucht, ihr Programm einer radikalen Umformung mit der gesamten administrativen, legislativen und judikativen Maschinerie des alten bürgerlichen Staatsapparates und mit einem Großteil seines Personals zu vollziehen. Streng genommen gab es gar keine Revolution – nur einen revolutionären Prozess, der immer noch im bürgerlichen Staat gefangen ist.

Es wäre aber falsch, darin politisches Versagen zu sehen. Chavez und seine Mannschaft sind sich des Problems sehr bewusst. Ihr „neuer strategischer Plan“ beschäftigt sich mit der Frage, auf welchem Weg man eine neue Ökonomie und einen neuen Staat aufbauen kann.

Ihrer Meinung nach wäre es beim gegenwärtigen internationalen und regionalen Kräfteverhältnis selbstmörderisch, einen expliziten Bruch mit dem, was als „Legalität“ empfunden wird, zu vollziehen. Der frontale Angriff auf privates Eigentum wäre ein solcher Bruch, und ihr Weg scheint vielmehr der zu sein, teilweise durch die existierenden Institutionen hindurch und teilweise um sie herumgehen zu wollen.

Natürlich handelt es sich hierbei um ein Dilemma, das weit über Venezuela hinaus als solches empfunden wird. Die Kunst ist es nun, den Mechanismus von Massenorganisationen und gesellschaftlicher Beteiligung zu finden, der in der Lage ist, eine neuartige Legitimität für neuartige Institutionen zu schaffen. Und dabei befindet sich Venezuela auf einem Weg, der uns allen die Richtung zeigen könnte.

 

Übersetzung: Rachael