Weder
der „Chavismus“ noch die „Bolivarianische
Revolution“ sind politische Phänomene,
die im traditionellen Raum der Linken entstanden
sind, dies ist ihre Erbsünde. Sie sind
entstanden aus einer Straßenrevolte,
aus den Aufständen der Kasernen und nicht
aus der radikalen Entscheidung einer Avantgarde
oder eines politischen Blocks der Linken,
die einen revolutionären Prozess bis
zum Sieg lenken würden. Wir sprechen
also über ein extrem komplexes Phänomen,
das mit einem „indigenen Barock“
beladen wurde, das glücklicherweise aber
auch durch die libertärsten und radikalsten
Elemente genährt wurde, die ab einem
gewissen Zeitpunkt unserer Geschichte in die
kleinsten verborgenen Winkel der Gesellschaft
eingedrungen sind, und durch die Volksbewegung,
die heute soweit geht, den Antikapitalismus
und den Sozialismus auf ihre Fahnen zu schreiben.
Aber wir sprechen auch über eine Gesellschaft,
die durch die Anhäufung des Elends und
der Korruption traumatisiert wurde. Eine Gesellschaft,
die auf einem Modell der Akkumulation beruht,
das auf eine „Extraktionswirtschaft“
gegründet ist, das heißt einer
Volkswirtschaft, die vom Staat abhängig
ist, der von der Ölrendite und einer
kapitalistischen Struktur lebt, die dank der
Subventionierung der Profitrate mit Hilfe
eines Umverteilungsabkommens (im übrigen
nicht sehr legal und offen, daher „die
ständige Straffreiheit“, in der
wir leben) zwischen den herrschenden Klassen
und den politischen Eliten an der Macht reproduziert
wurde.
Chavismus:
Auf der Straße, in der Revolte
und in den Kasernen geboren.
Diese strukturelle Basis unserer sozialen
Bildung hat mit der fast ein Jahrhundert andauernden
Existenz einer extrem ungleichen Gesellschaft
zu tun (diejenigen, die von der Ölausbeute
profitieren und diejenigen, die davon ausgeschlossen
werden), sie ist aber gleichzeitig die Motivation
für eine Volksbewegung und für einen
Widerstand derjenigen, die wie alle, die diese
Tatsachen anprangern, für die dringlichsten
und oft elementaren Volksforderungen (Wasser,
Elektrizität, Wohnung, Land, Arbeit,
Erziehung, Gesundheit usw.) kämpfen,
und sie trägt in sich die Schwäche,
eine Bewegung vom Rand aus (aus der „Marginalität“)
zu sein, eine Bewegung, die in ihrer Mehrheit
aus der zentralen Debatte über die Produktion
und die Umverteilung der geschaffenen Reichtümer
ausgeschlossen bleibt. Wenn es überhaupt
eine „Klassenbasis“ gibt, dann
hat sie sich zweifellos im Kontakt mit einigen
kampfbereiten Gruppen der Arbeiter- und marxistischen
Bewegung und insbesondere aus den Debatten
und aus dem Einfluss sehr unterschiedlicher
und unorthodoxer historischer Kampfströmungen
heraus gebildet (kulturelle Widerstände,
die Theologie der Befreiung, das „Cimarronage“1,
die Demokratie der Straße, die Demokratie
in den Vierteln, soziale Bewegungen aller
Arten, spontane Volksaufstände, Bewegungen
nationaler Befreiung, der revolutionäre
Bolivarianismus, der bewaffnete Kampf, der
lateinamerikanische kritische Marxismus, der
„Inus“, usw.)
Hierin liegt also die zweite Erbsünde
„der Bolivarianischen Bewegung“:
ihre ungewöhnliche Vielfalt und ihre
Heterodoxie, die heute durch die Person von
Hugo Chávez verkörpert wird.
DIE
FEHLER EINER GEWISSEN LINKEN KRITIK
Die
„revolutionären Sektoren“,
das heißt diejenigen, die wie wir glauben,
Teil des politischen und sozialen Kampfes
zu sein, indem wir die notwendige Verbindung
zwischen Theorie und Praxis suchen, sind angesichts
einer unermesslichen Herausforderung des Verständnisses
und der Definition einer zusammenhängenden
Aktionslinie mit unserer historischen Verantwortung
sowie mit der komplexen Wirklichkeit, in der
wir leben, konfrontiert. Selbstverständlich
oder einfach war das nicht, und heute noch
wäre es sehr schwierig, einen Pol in
dieser revolutionären Linken zu finden,
der seine Zweifel und Mängel vollständig
geklärt hätte. Jedoch reproduzieren
sich weiterhin offensichtliche Fehler in unserer
Perspektive, vielleicht bedingt durch die
Notwendigkeit, sich in einen Sicherheitsumkreis
zu flüchten, der es der einen oder anderen
Organisation, Gruppe oder Tendenz erlaubt,
sich vor dem Chaos der Wirklichkeit und vor
der Krise der herrschenden Ordnung „ohne
sicheren Ausgang“ in unserem Land zu
schützen. Einerseits radikalisiert ein
Teil der Linken seinen Diskurs anhand seiner
Beurteilung „der Klassennatur“
dieser Regierung (bürgerlich, kleinbürgerlich)
und der „reformistischen“, „nationalistischen“
oder „populistischen“ Abweichungen,
die sie klassenbedingt durchziehen. Sie wäre
demnach eine Regierung, die dazu verurteilt
ist, über ihre Erklärungen hinaus,
die Interessen des nationalen Kapitals und
des Imperialismus zu verteidigen (wir verweisen
auf die Mehrheit der trotzkistischen Strömungen,
heute sehr aktiv in bestimmten Sektoren der
Arbeiterschaft). Es könnte vollkommen
richtig sein, wenn wir uns auf ein formales
und soziologisches Verständniskriterium
beschränken würden, nach dem wir
in unserer Politik diese Regierung (kleinbürgerlichen,
ländlichen Ursprungs oder von der Marginalität)
einer möglichen Regierung entgegensetzen
würden, die von den Delegierten der Arbeiter
und der im allgemeinen ausgebeuteten Klassen
gebildet worden wäre und die als solche
identifiziert werden würde. Aber stellen
wir dann eine Frage, vielleicht eine dumme:
Gab es seit der Pariser Kommune und der ersten
sowjetische Regierung (die Sowjetdemokratie),
von 1917–1919 nur eine einzige Regierung
in der Geschichte, die diesem Kriterium entsprochen
hat, und die mehr als zwei Jahre „an
der Macht“ blieb? Wenn es eine davon
gab, dann schicken Sie bitte das Quellenmaterial.
Wir ziehen es unter diesen Umständen
vor, anzunehmen, dass die Geschichte bewiesen
hat, dass diese Form des politischen Verständnisses
und der Aktion unter unermesslichen Mängeln
und unter politischer Impotenz leidet. Vielleicht
sollten wir den guten Anarchisten, den Autonomen,
den Rätekommunisten, den Kameraden von
Durruti und den Zapatisten bezüglich
der Unmöglichkeit der Befreiung der Arbeit,
mit den Werkzeugen der Avantgardepartei und
der Staatsform, zum Teil recht geben.
Konzentriert diese Staatsform in etwa nicht
(ihre ideologische Zugehörigkeit ist
dabei unwichtig) in sich selbst alle Regeln,
die Kultur, die Protokolle und die Beziehungen,
die historisch die kapitalistische Herrschaft
am Leben erhalten? Das Problem der orthodoxen
Klassenanalyse, Erbin der leninistischen Tradition,
ist ihre übermäßige Verachtung
für die reale gesellschaftliche Situation
(ihre Vielfalt, die Beziehungen, die sich
dort entwickeln, die Verwicklung der sozialen
Themen), auf die sich die herrschende Ordnung
stützt. Aber auch ihre Verachtung für
die letzten historischen Ereignisse, die es
möglich machten, neue politische Werte,
neue Methoden des Widerstandes, neuer Räume
der Wechselwirkung zwischen den ausgebeuteten
Klassen, neue programmatische Perspektiven
zu schaffen, ohne die die Revolution unmöglich
ist, außer in den Köpfen und den
Mythenbildungen selbsternannter Avantgarden.
Wir wollen nicht sagen, dass wir die Rolle
der traditionellen Arbeiterklasse, die Eroberung
und die Kontrolle der Produktionsmittel und
die Schritte in Richtung sehr konkreter Formen
der Selbstorganisation, in denen dieser Sektor
zentral ist, verachten sollten. Die Herausforderung
besteht darin aus unseren Köpfen die
soziologische Zwangsvorstellung der „Klasse“
zu vertreiben. Es geht darum in all den dynamischen
ArbeiterInnenkämpfen einen Ausdruck der
Gesamtheit des Klassenkampfs, der Erfahrung
des Aufstandes und der Bildung neuer Ordnungen
der Gesellschaft zu sehen, die aus dem gleichzeitigen
Aufstand der teten entstehen.
Die Besetzung eines Hauses ist nicht wichtiger
als die eines Stückes Landes, oder die
einer Fabrik. Die wichtigste Tatsache ist
die Multiplikation dieser Phänomene der
Enteignung des Kapitals, ihr Massencharakter,
ihre politische Kreativität und ihre
Fähigkeit zur Verteidigung angesichts
der Angriffe des kapitalistischen Staates.
Eine andere häufig verbreitete Kritik
der Linken ist diejenige, die wir radikal-nationalistisch
nennen. Der Verbindungspunkt dieser Kritiken
liegt nicht mehr in der Klassennatur der Regierung,
sondern in der Frage der Souveränität,
konkreter im Problem der Zweideutigkeit, die
die Regierung bezüglich ihrer „antiimperialistischen“
Haltung gezeigt hat. Sie kritisiert die Tatsache,
dass, während die Erklärungen der
Regierung sich der amerikanischen imperialistischen
Beherrschung widersetzen, sie gleichzeitig
eine Allianz der Privatisierungen mit dem
transnationalen Ölkapital (jetzt ausgedehnt
auf den Raum der Gasförderung) mittels
„gemischter Unternehmen“ eingegangen
ist. Diese Kritik widersetzt sich ebenso der
Aufgabe der Orimulsion2
als alternativer Energiegewinnung. Sie fügt
dem eine ganze Menge von Kritiken bei, die
sich auf die Frage „des produktiven
Modells“ insgesamt beziehen. Man kritisiert,
was nur noch eine bloße Reproduktion
des Modells des Kapitalismus ist: nämlich
produktivistisch, abhängig und räuberisch.
Ebenso wie man, die Pläne für die
Bergbauindustrie, die Kohleförderung,
die Gaspipeline des Südens3,
die Teilnahme Venezuelas am IIRSA4,
die Zahlung der Auslandsschulden usw. kritisiert.
In den extremsten Versionen dieses „radikalen
Nationalismus“ wird Chávez nur
noch als eine „Marionette“ des
Neoliberalismus in einer sozialistischen Verkleidung
gebrandmarkt. Wir sind uns vollkommen einig
über den „strategischen Dualismus“,
den die Regierung und ihre Wirtschaftspolitik
an den Tag legt (Erforschung neuer Produktionsverhältnisse;
Allianz mit dem transnationalen Kapital).
Die Einführung gemischter Unternehmen
ist ohne jeglichen Zweifel eine gewaltige
und unannehmbare Konzession an das Ölkapital.
Projekte wie der Plan zur Entwicklung der
Kohleförderung in der Region von Zulia,
die transnationale Beteiligung in den Territorien,
die gerade auf die Bergbauaktivitäten
(Gold und Diamant in erster Linie) abzielen,
die vorgeschlagenen Entwicklungsmodelle, die
Vorstellung der kontinentalen Integration,
die Zulassung einer bevorzugten Rolle für
das Finanzkapital beweisen außerdem
klar, dass der „Übergang zum Sozialismus“
immer zweifelhaft und widersprüchlich
ist. Aber bedeutet dies alles, dass Hugo Chávez
und seine Regierung nur noch ein Schlüsselwerkzeug
des Imperialismus sind? Erneut wird eine formale
Logik, aller empirischer Fakten entleert,
vollkommen abstrakt und politisch ohnmächtig,
an den Tag gelegt, wie es so oft von diesen
ultranationalistischen Tendenzen praktiziert
wurde. Das Problem ist, dass, obwohl einige
von ihnen „über den Clash von Kulturen“5
und sogar über die Bekämpfung des
Staatskapitalismus sprechen (man dankt im
übrigen diesen Kameraden für ihre
klare, linke ideologische Stellungnahme),
sie nie, andererseits über einfache Anprangerung
und ideologische Propaganda hinausgehen. Nach
ihren Positionen gibt es keine Alternative
außerhalb einer Mystifikation der politischen
Macht oder einer Art Ursprungseigenschaft
und jungfräuliche Gemeinschaft, jenseits
der Geschichte, die als einzig heilbringend
für die Menschheit betrachtet wird. Bei
ihnen gibt es nie ein „Volk der Bewegung,
der wirklichen und derzeitigen gemeinsamen
Aktion für die gesellschaftliche Transformation“.
Diese Reden lassen hören, dass in Wirklichkeit
alles dazu neigt, sich in einer Verschwörung
aufzulösen, die zwischen den Direktionen
geschlossen wurde, oder dank eines Programms,
das erneut den Leviathan des Staates auf den
Plan rufen würde. Ein Staat als Eigentümer
über alles und als Feind jeglichen Imperialismus.
Die radikalsten Vorschläge kehren objektiv
zu den guten alten Programmen eines großen
Teiles der lateinamerikanischen Linken der
dreißiger und vierziger Jahre zurück.
Parteien wie die APRA (Peru), und die demokratische
Aktion (Venezuela), und von denen man heute
weiß, wie sie geendet haben. Wenn das
Problem in Chávez und seiner Regierung
besteht, bedeutet das, dass die echte revolutionäre
Regierung wie ein Gott aus dem Olymp herabsteigt,
der mit seiner göttlichen Kraft und mit
mächtigen Befehlen und Dekreten einen
absoluten souveränen nationalen Staat,
im Rahmen einer neuen zivilisatorischen Vernunft,
etabliert. Im Grunde handelt es sich dabei
um eine Neuauflage des Wahnsinns, in dem viele
alte Linksradikale verfangen waren (wenigstens
deren konsequenteste Eliten), geistige Kinder
sowohl des sowjetischen Marxismus als auch
der Programme zur nationalen Befreiung und
des Voluntarismus, der unserer amerikanischen
Heimat eigen ist.
DIE
GUTE KRITIK
Selbstverständlich
gibt es andere Flügel „der Linken“,
die ihre kritischen Einwände als neue
liberale Linke vortragen, allesamt „Antichavisten“
– „Antibourbonniens“ wie
Petkoff sagt6 –
mit der rechten Opposition im Gefolge. Das
Problem ist dann der „Tyrann-Despot“,
der „Populist“, der „Antidemokrat“
Hugo Chávez, seine politische castristische
Ideologie. Eine Logik, die man in einigen
anarchistischen Gruppen wiederfindet (zum
Beispiel um die Zeitung „Der Libertär“,
leider sehr „salonanarchistisch“,
für die das Problem mehr oder weniger
dasselbe ist: Chávez ist der Militarist,
Chávez ist detäre, usw.)
Aber bei allem Respekt ist es nicht in unserem
Interesse, mit diesen Tendenzen zu diskutieren,
entweder weil wir ihre politischen Feinde
sind, oder einfacher, weil sie zur Debatte
nichts beizutragen haben. Was uns dagegen
interessiert, verfolgt man aus nächster
Nähe und am aufmerksamsten die Entwicklung,
ist eine andere kritische, wenn auch ein bisschen
„naive“ Linke. Wir benutzen den
Begriff „naiv“, weil wir zu denjenigen
gehören, die das Glück gehabt haben,
ein minimales theoretisches und politisches
Gerüst zu erwerben, das uns erlaubt,
diese Schwäche zu identifizieren. Aber
dieses persönliche intellektuelle Privileg
ist ohne Bedeutung hinsichtlich der Tatsachen.
Aus dieser privilegierten Position heraus
nehmen wir uns das Recht, diese Kritik, vielleicht
zu Unrecht, „populär-moralisierend“
zu nennen. Ihre Kritik und politische Haltung
als solche sind sehr simpel. Sie behaupten,
dass Chávez ein ehrlicher Mann, ein
wahrer Revolutionär, ein seinen Idealen
verpflichteter Mann des Volkes ist, aber umgeben
von einer Bande von Verrätern, korrumpierten
heuchlerischen Leuten, die von seiner Autorität
profitieren. Sie sind hauptsächlich in
den Parteien der Regierung (s. Kasten) organisiert,
die sie ihrerseits als die Hauptwerkzeuge
zur Aneignung von Regierungsfunktionen und
Posten im Allgemeinen, sowohl im Staat als
auch in einem guten Teil der organisierten
Volksöffentlichkeit, benutzen. Ihre Kritik
folgt der Argumentation, dass die Hauptschwierigkeiten
der Bolivarianischen Revolution die Korruption
und die Bürokratie ist, und sie wiederholt
ihre Gesamtunterstützung für den
Präsidenten, entfernt sich aber immer
mehr von den neuen Eliten, die den politisch
repräsentativen Charakter des revolutionären
Prozesses an sich reißen. Die wichtigste
Dimension dieser Kritik ist nicht die Genauigkeit
ihrer Analyse oder ihre theoretische Tiefe
(ihre offensichtliche Schwäche ist die
Idealisierung von Chávez, der Personifizierung
der Macht), sondern, dass sie die einzige
Kritik ist, die einen Massencharakter erworben
hat. Sie machte sich „populär“
in allen Bedeutungsschattierungen dieses Begriffs,
und nach und nach sah sie sich genötigt,
qualitative Sprünge zu machen, die sie
gezwungen haben, sich vom Kommentar der politischen
Situation zu einem politischen Faktor und
zur Konstruktion von politischen Strategien
zu entwickeln, um den verhassten Feind der
Bestechung und des Bürokratismus zerschlagen
zu können. Diese Kritik ist möglich
und auch notwendig in der aktuellen Phase
des Klassenkampfs, um es einmal angemessen
marxistisch auszudrücken. Es ist das,
was wir im Projekt „Unser Amerika“
die Konstruktion einer „Vernunft für
alle“ nennen. Sie ist nicht die erleuchtete
„Vernunft“ des Selbstbewusstseins
oder der hegelschen Selbstreflexion. Sie ist
einfach der konkrete Raum des gemeinsamen
Denkens, in dem der revolutionäre Prozess
in seiner produktivsten und umgestaltendsten
Matrize sich ausdrückt. Sie gebiert bereits
großartige Mobilisierungsvorgänge
von sozialer Respektlosigkeit, von Radikalisierung
des anarchistischen und egalitären Geistes,
von Selbstorganisierung die, in der Tat der
Kernpunkt, das Wesentliche ist, was von der
Bolivarianische Revolution im ideologischen
Feld möglich gemacht wurde. Es ist auch
der Raum, in dem alle unsere Hoffnungen Zuflucht
suchen, nicht als arrogante AvantgardistInnen,
sondern als revolutionäre SoldatInnen,
die sowohl unter ihren materiellen Bedingungen
wie auch nach ihrer Gefühlslage identisch
mit diesem Volk sind.
WAS
KÖNNEN WIR SAGEN UND WAS KÖNNEN
WIR TUN ALS LINKE?
Über
die Interpretationen in den Kreisen der Avantgarde
oder der Öffentlichkeit hinaus ist es
unserer Meinung nach in diesen Zeiten wichtig,
wahrzunehmen, wohin sich eine soziale Bewegung
entwickelt. Mag sie auch manches Mal dazu
verleitet worden sein, sich entlang bürokratischer
Regierungsstrukturen zu organisieren (Komitee
für die Vergabe von Land, kommunale Räte,
Komitees für Gesundheit, Energie und
Wasser), so ist sie doch dabei, auf Distanz
zu diesen Regierungsformen zu gehen und ihre
eigenen Politiken und Strategien zu erarbeiten,
indem sie eine kritische Einstellung gegenüber
dem Staat insgesamt an den Tag legt und sich
von Tag zur radikalisiert.
Mit den wichtigsten unabhängigen sozialen
Bewegungen (Bauern, enteignete Betriebe, Studierende,
Indigenas), ist diese organisierte Basis der
Volksbewegung der unumgängliche Klassenbezug
für die Ve der Revolution.
Wenn sie keine gemeinsame Bühne für
die politische Aktion und den Aufbau eines
Gesellschaftsprojekts findet, ist es sehr
wahrscheinlich, dass die Bolivarianische Revolution
in den nächsten Jahren einen so großen
Niedergang erleidet, dass sie als wirklicher
Prozess der Ausübung der sozialen Gerechtigkeit,
der Freiheit und des Aufbaus der nationalen
Souveränität verschwindet, unabhängig
von Chávez.
Wir erleben heute eine Zeit der „maximalen
Konfusion“. Einerseits haben wir den
imperialistischen Angriff gegen Venezuela,
die Entwicklung des „Plans Balboa“
und des „Plans Colombia“ als militärische
Angriffpläne gegen Venezuela und den
Druck der Wahlen – die Kampagne der
zehn Millionen Stimmen7
trägt zum Zusammenhalt der Volksbasis
um Chávez herum und der Position der
Regierung bei. Andererseits die institutionelle
Zersetzung, in der wir immer offenkundiger
leben, bei den städtischen und föderalen
Regierungen (Rathäuser, Provinzen, in
ihrer unermesslichen Mehrheit in den Händen
„des Blocks der Änderung“)
hat eine totale Erschöpfung zur Folge,
die manchmal an Verzweiflung heranreicht.
Tatsächlich sind auch die institutionellen
Gremien an der Macht beunruhigt, was sie dazu
verleitet, immer mehr zu versuchen, sowohl
die sozialen Prozesse der Selbstverwaltung
als auch die produktiven Arbeitererfahrungen
im Bereich der Genossenschaften und der enteigneten
Betriebe zu kontrollieren. Eine Situation
höchster Verwirrung, in der die Führungen
an der Basis dazu neigen, das seit mindestens
vier Jahren immer wieder angewendete Schema
zu wiederholen, nämlich: Schweigen, abwarten,
die Lage verfolgen, sich von den Feinden nicht
täuschen lassen; aber es reicht längst
nicht mehr. Es ist jetzt notwendig, gemeinsam
einen Schritt nach vorn zu machen. Bis heute
waren die Versuche interessant, aber ungenügend
(die Mobilisierung, die von Sektoren der Indigenabewegung,
der Bergarbeiter, der Bauern und der Arbeiterschaft
nitiiert wurde).
Wir haben außerdem das Problem des Staates
als „Kooptationsmaschinerie“ und
der Regulierung der aufständischen Prozesse.
Der Staat versucht, sie zu neutralisieren,
wenn er, wie bei den Bergarbeitern, unfähig
ist, sie zu unterdrücken, indem er sie
in Zentren der Verwaltung der Ressourcen umwandelt,
die er ihnen für ihre Entwicklung abgibt.
Diese Einbeziehung nimmt ihnen jede Kampfbereitschaft,
indem sie die Tendenz zur „Entpolitisierung“
ihrer Aktion verstärkt, und indem sie
sie als Körperschaft statt als bewusste
Klasse festigt (dies ist die Situation eines
guten Teiles der alternativen Kommunikatmmenhänge).
Dieser Zusammenhang spornt uns an, gemeinsam
einen qualitativen Sprung nach vorn zu schaffen,
um eine neue Lage zu begründen, die das
Verhältnis zwischen der Regierung und
der „nicht verwalteten“ Volksbewegung
radikal ändern würde. Heute sind
kritische und kampfbereite Gruppen im gesamten
Land entstanden, und sie umfassen praktisch
die Gesamtheit des an der Basis organisierten
Umfelds. Sie richten sich aus verstreuten
Kämpfen in Verteidigung der Bolivarianischen
Revolution wieder auf, aber sind gleichzeitig
ein zuverlässiger Ausdruck der Erschöpfung
des institutionellen Schemas des Staates als
eines zentralen Hebels des gesellschaftlichen
ltungsprozesses.
Wir haben vorgeschlagen, Schritte nach vorn
im künftigen Präsidentschaftswahlkampf
(Dezember 2006) zu machen, indem wir eine
alternative Dynamik schaffen, die auf die
Synthese all dieser Programme durch Dialog
und Mobilisierung der Massen ausgerichtet
wird, und indem wir die Fahne des Antibürokratismus
und der Bekämpfung der Korruption, gegen
Kapitalismus und die imperialistische Aggression
hissen. Wir schlagen als Motto vor: „Zehn
Millionen drücken ihren Willen aus, die
Revolution zu vertiefen“. Wir haben
diese Kampagne „für alle unsere
Kämpfe“ genannt. Eine „andere“
Kampagne8 auf dem
venezolanischen Territorium, damit in seinem
Zentrum die wirklichen Kämpfe atmen können,
damit die passenden Worte gefunden werden,
damit Basisgruppen sich organisieren, damit
wir in der notwendigen Mobilisierung für
die Grundlagen eines „unabhängigen
Übergangsprogramms“, das von allen
Gemeinschaften im Kampf geteilt wird, nicht
alleinstehen. Die Idee besteht nicht darin,
dieses Land auf die Wahlen zu begrenzen. Sie
besteht darin, ihren Rahmen zu überschreiten,
um am kommenden 27. Februar9
die Grundlagen eines Programms und eines gemeinsamen
Plans in unseren Händen zu halten, der
die wirksame Vertiefung des revolutionären
Prozesses erlaubt. Es wird sogar davon gesprochen,
einen Wahlzettel zu drucken, der allen Bewegungen
gemeinsam ist, die an dieser Initiative teilnehmen,
um ein Gegengewicht zu den Parteien der Regierung
herzustellen.10
Es handelt sich um eine wichtige Entscheidung,
aber, die immer im Hintergrund hinsichtlich
der vorrangigen Zielsetzungen der Mobilisierung,
der Zusammenkunft, des einander Zuhörens,
des gegenseitigen Beistandes, der Erarbeitung
eines Programms „der Armen“ bleiben
wird, um ab dem nächsten Jahr eine neue
Etappe des revolutionären Prozesses einzuleiten,
der durch die Autonomie und die vereinheitlichte
Radikalisierung der Volkskämpfe sich
auszeichnet. Diese Kampagne muss in einem
oder zwei Monaten beginnen, sobald wir erfolgreich
in der Einberufung einer Einheitskonferenz,
die „die Führung für alle
unsere Kämpfe bilden soll“, geworden
sind. Unsere Kreativität und unser politischer
Wille werden für ihren Ausgang entscheidend
sein, und wir wünschen uns, uns in einem
gänz lich anderen Gelände wiederzufinden,
in dem die Gleichheit und der Kampf für
die Würde des Anderen und nicht die politische
Instrumentalisierung des Kollektivs Priorität
haben wird.
Die
Regierung
Die
Regierungskoalition setzt sich zusammen
aus MVR (Bewegung für eine fünfte
Republik), PODEMOS (wörtl. „Wir
können!“, steht für
POr la DEMOcracia Social), PPT („Vaterland
für alle“, Patria para
Todos) und aus anderen. Die Parteien
sind meistens nur Wahlapparate, einzig
autorisiert, bei den Wahlen Kandidaten
aufzustellen. Historisch betrachtet
ist der Wechsel von Wahlallianzen
häufig und es ist oft mehr das
Ergebnis von Verhandlungen um Postenvergabe
im Staatapparat als das von politischen
Projekten. Heute, trotz einer massiven
Unterstützung für die Bolivarianische
Revolution, misstraut die Basis weiterhin
diesen Strukturen, die oft als Hindernisse
für die Radikalisierung oder
für die direkte Demokratie angeprangert
wurden. Die MVR ist im Jahre 1997
gegründet worden, um Chávez
eine Präsenz bei den Wahlen zu
ermöglichen. Chávez ist
im Prinzip der allgemeine Koordinator.
Er drückt die Sensibilität
sowohl von Soldaten als auch von Zivilisten
in einem breiten politischen Rahmen
aus. Man findet dort ehemalige revolutionäre
Militante, Befürworter eines
starken und zentralisierten Staates,
sowie Liberale und Sozialisten. Aber
diese Partei hat bis jetzt weder einen
Kongress abgehalten noch eine Führung
gewählt. PODEMOS ist die prochavistische
Abspaltung der MAS, deren Führung
die chavistische Koalition im Jahre
2000 verließ, um gegen die Radikalisierung
der Maßnahmen zu protestieren.
Die PPT besteht seit 1997. Sie ist
die Folgepartei von La Causa Radical,
eine Abspaltung der KP Venezuelas
Anfang der siebziger Jahre. Sie war
in ihrer Zeit die vielversprechendste
Partei der radikalen Linken des Landes
mit großem Einfluss in den Arbeiterkämpfen,
den Stadtvierteln, der Lehrerbewegung.
Im Jahre 1993 ist ihr Kandidat Erster
bei den Präsidentschaftswahlen
gewesen. Er wurde durch Betrug um
seinen Sieg gebracht. Er beschloss,
sich eher zu beugen, als den Weg der
außerparlamentarischen Auseinandersetzung
zu gehen. Seine Gegner in der Partei
warfen ihm Kapitulation vor und gründeten
die PPT. Die Beziehungen der PPT mit
Chávez waren oft zäh,
aber es ist eine Tatsache an der PPT,
dass Chávez aus ihr seine wichtigsten
Regierungskader für gute und
schlechte Zeiten rekrutieren konnte.
Unter den Parteien der Regierungskoalition
muss man noch die KP Venezuelas erwähnen:
die „rostfreie“ venezolanische
kommunistische Partei. Gelenkt durch
80-jährige Greise konnte sie
sich seit 50 Jahren an alle politischen
Kurswechsel anpassen. Säule der
demokratischen Revolution von 1958
gegen die Diktatur, ist sie Zielscheibe
der Feindseligkeit der Sozialdemokraten
geworden, die sie verfolgten und sie
in einen Kurs der Guerilla (1962-1965)
zwängten, die sie dann aber verließ,
indem sie die durch Kuba unterstützten
Truppen der PRV von Douglas Bravo
als „linksradikal“ gebrandmarkt
hat. Neu eingefügt im politischen
Leben nimmt sie an der letzten christdemokratischen
Regierung vor Chávez teil,
die sie im Jahre 1998 unterstützt.
Sie bekommt viel Sauerstoff unter
der Regierung Chávez, denn
sie ist die einzige, die in ihrem
Namen eine antikapitalistische Perspektive
trägt.
|
*
Roland Denis ist Aktivist im Projekt Unser
Amerika – Bewegung des 13. April, einer
der Strömungen der venezolanischen radikalen
Linken. Wir haben bereits die Gelegenheit
gehabt, in der französischen Inprecor
die Analysen der AktivistInnen vorzustellen,
die an dem Aufbau der Partei der Revolution
und des Sozialismus beteiligt sind. (vgl.
n° 510 Oktober 2005 und n° 515/516
von März/April 2006) Roland Denis legt
hier eine etwas andere Orientierung vor.
Übersetzt
aus dem Spanischen durch R.C.P., die Fußnoten
sind von der Redaktion von Inprecor.
Übersetzung aus dem Französischen:
Ron Dibani
1
Das „cimarronage“ ist eine der
originellsten Komponenten des kulturellen
Synkretismus „der Neuen Welt“,
resultierend aus zahlreichen neuen künstlerischen
Formen, die auf die Mischung der Kulturen
der amerikanischen Indianer, der afrikanischen
und der europäischen Kulturen zurückzuführen
ist.
2
Ein Brennstoff, der in Venezuela aus einer
Kombination von Wasser und des bituminösen,
besonders schweren Erdöls geschaffen
wurde.
3
Ein einheitliches Gasnetz, das von Venezuela
bis nach Argentinien reicht.
4 Die Initiative zur Integration der regionalen
Infrastruktur von Südamerika ist ein
ausgedehntes Bauprogramm neuer Straßen,
Brücken, Flusswege, energetischen Verbindungen
und der Kommunikationsnetze besonders in den
tropischen und Anden-Zonen. Es ist ein Teil
der ALBA (Bolivarianische Alternative für
America).
5
Das Zitat ist von Douglas Bravo. Douglas Bravo,
ein langjähriger antiimperialistischer
Aktivist, war Mitglied der Partei der Venezo¬lanischen
Revolution (PRV) und leitete ihren bewaffneten
Flügel, die Streitkräfte für
die nationale Befreiung (FALN, 1962-1969).
Er ist heute die Hauptführungskraft der
Bewegung „Tercer Camino“ (Dritter
Weg), einer Weiterentwicklung der PRV-FALN,
deren Mitglied Hugo Chávez bis zum
Jahre 1986 gewesen ist.
6
Teodoro Petkoff, ehemaliges Mitglied der PRV
und der KP Venezuelas, gründet im Jahre
1971 die Bewegung für Sozialismus (MAS)
auf einer Linie demokratischer Kritik des
Stalinismus, bevor er sich in Richtung auf
sozialdemokratische und sogar deutlich liberale
Positionen entwickelt. Unter der Regierung
von Rafael Caldera (letzte christdemokratische
Regierung vor Chávez) war er Minister
für Planung (Cordiplan) und hat ein neoliberales
Programm zur Reduzierung der Inflation und
der Größe der Verwaltung (Agenda
Venezuela) umgesetzt. Er hat die MAS verlassen,
als die Mehrheit beschloss, Chávez
1997 zu unterstützen. Er ist heute der
sozialliberale Hauptvertreter der antichavistischen
Linken und hat sich als Kandidat für
die Präsidentschaftswahlen (Dezember
2006) angekündigt.
7
Damit kann die Legitimität der nächsten
Wahlen – da die Rechte sich bereits
als Verliererin sieht und beabsichtigt, die
Wahl zu boykottieren – nicht bestritten
werden. Chávez hat von angestrebten
10 Millionen Stimmen gesprochen.
8
Der Autor verweist hier deutlich auf die Zapatisten.
9 Hinweis auf den Volksaufstand vom 27. Februar
1989.
10 In Venezuela wählt man durch eine
Partei. Man kann so für Chavez abstimmen,
indem man für die PCV, die MVR oder jede
andere Gruppe stimmt, die ihn als ihren Kandidaten
aufstellt.