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Eine verratene Revolution

von Zbigniew Marcin Kowalewski
aus Inprekorr Nr. 408/409 Nov./Dez. 2005

Dieser Artikel erschien zuerst in der Monatszeitschrift Nowy Robotnik (Der neue Arbeiter) Nr. 18 vom 15. August 2005. Nowy Robotnik löste die Monatszeitung Robotnik Slaski (Der schlesische Arbeiter) ab, als die Redaktion dieser Zeitschrift der neuen polnischen Linken erweitert wurde und durch ihre Verbreitung eine nationale Dimension erhielt.

Zbigniew Marcin Kowalewski, von Beruf Ethnologe, ist Autor mehrerer auch ins Englische und Französische übersetzter Bücher über die lateinamerikanische Guerilla, den Rap und die Solidarnosc . 1980/81 war er Mitglied des Präsidiums der Regionalen Solidarnosc-Leitung in Lódz und Delegierter des ersten Gewerkschaftskongresses, wo er an der Ausarbeitung des beschlossenen Programms beteiligt war. Am Vortag des Staatsstreichs von General Jaruzelski (13. Dezember 1981) befand er sich auf Einladung der französischen Gewerkschaften CGT und CFDT in Paris, wurde verbannt und organisierte die Solidaritätskampagne mit Solidarnosc. Er beteiligte sich an der Redaktion der zwischen 1981 und 1990 in Polen im Untergrund verbreiteten Zeitschrift Inprekorr. Gegenwärtig ist er Redakteur der gewerkschaftlichen Wochenzeitung Nowy Tygodnik Popularny und der Theoriezeitschrift Rewolucja (Revolution).

Übersetzung aus dem Französischen: Tigrib

25 Jahre nach dem Kampf für eine unabhängige Gewerkschaft in Polen zeigt Zbigniew M. Kowalewski, wie durch den Staatsstreich des Generals Jaruzelski im Jahr 1981 klerikale und antikommunistische Kräfte in der Solidarnosc erst richtig Oberwasser bekamen.

Die lärmigen Feiern rund um den Aufschwung der Solidarnosc (Solidarität) sollen über den wahren Charakter dieser Bewegung, die eine Arbeiterrevolution im Namen der Verteidigung wahrhaft sozialistischer Werte war, hinwegtäuschen.

„Eine Revolution kann auf zweierlei Weise zugrunde gerichtet werden: durch Niederschlagung und durch Verrat. Die Tragödie der polnischen Revolution von 1980/81 liegt darin, dass sie zwei Niederlagen erlitten hat: Sie wurde zuerst niedergeschlagen und dann verraten. Verraten von all jenen aus der heutigen politischen Führung, die sich auf August 1980 und ihre ,solidarische‘ Vorgeschichte berufen. Durch Restauration des Kapitalismus haben sie die in dieser Revolution vertretenen sozialen Interessen verraten und sich von all den Hoffnungen abgewandt.“ Das schrieb ich aus Anlass des 20. Jahrestags des August 1980 in Robotnik Slaski. 1

„Im Rahmen einer generellen Fälschung des Wesens und der Geschichte von August 1980 und der Ereignisse der 16 Folgemonate wird heute versucht, sie in einen ‚antikommunistischen Aufschwung‘ umzuinterpretieren, mit dem sie nichts gemein hatten. Gleichzeitig werden – glücklicherweise nicht immer erfolgreich – alle irgendwie auslöschbaren Spuren ausgelöscht, die darauf hinweisen, dass es sich um eine typische, klassische proletarische Revolution gehandelt hat. Seit der Durchsetzung der kapitalistischen Herrschaft vor über 150 Jahren haben auf der ganzen Welt von Zeit zu Zeit solche Revolutionen stattgefunden, in denen ArbeiterInnen versuchten, ihre Rechte, ihre Würde und die Interessen ihrer gesellschaftlichen Klasse durchzusetzen.

Die Tatsache, dass diese Revolutionen gegen den Kapitalismus gerichtet sind, während sich die polnische Revolution von 1980/81 gegen ein Regime gerichtet hat, das sich als sozialistisch ausgab, ändert daran nichts. Der so genannte ‚real existierende Sozialismus‘ ist nach einem kombinierten Prozess aufgekommen, in dem einerseits der Kapitalismus gestürzt und andererseits die politische und wirtschaftliche Macht, die auf die Arbeiterklasse hätte übergehen sollen, von einer parasitären Bürokratie in Beschlag genommen wurde. Letztere dominierte die Arbeiterklasse und lebte von der Ausbeutung ihrer Arbeit, obwohl im Gegensatz zum kapitalistischen System die Ausbeutungsverhältnisse ihre gesellschaftlichen Wurzeln nicht mehr in den Produktionsverhältnissen hatten.“ 2

Die Möglichkeit, die Diktatur der Bürokratie zu stürzen und trotzdem die staatliche Planwirtschaft beizubehalten und auf dieser Grundlage die Arbeitermacht zu begründen und einen selbstverwalteten, demokratischen Sozialismus der ArbeiterInnen aufzubauen, war durchaus gegeben. Diese Wahrheit versucht man heute zu verbergen. Warum wird aber heute die Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarität (NSZZ Solidarnosc) mit der Restauration des Kapitalismus in Verbindung gebracht, die zehn Jahre nach August 1980 einsetzte? Diese Restau-ration hat der Arbeiterklasse eine verschärfte, rücksichtslose Ausbeutung gebracht, die von Neuem den Produktionsverhältnissen, der absoluten Diktatur des Kapitals gehorcht und sogar möglich macht, dass geleistete Arbeit nicht bezahlt wird, bei der alle sozialen Errungenschaften verloren gingen, Massenarbeitslosigkeit und -verarmung eingekehrt sind und auf der Suche nach Arbeit und Brot die Auswanderung erwogen wird.

EINE VERWANDELTE SOLIDARNOSC

Niemand fragt sich, ob zwischen der Solidarnosc, die im Zuge der Ereignisse von August 1980 entstanden ist, und der heutigen gleichnamigen Gewerkschaft eine Kontinuität besteht. Doch das ist keineswegs so eindeutig. Es gibt eine Art von Kontinuität, aber auch eine augenfällige Diskontinuität. Die entscheidende Frage ist, was überwiegt. Und das ist die Diskontinuität. Deshalb beruft sich die heutige Solidarnosc zwar auf ihre Wurzeln, ist aber völlig unfähig, die wahre Solidarnosc - Geschichte von 1980/81 darzulegen, weshalb diese verfälscht wird.

Das ist auch der Grund, warum die Feiern zum 25. Jahrestag der August- Ereignisse, die von den Medien so sehr inszeniert werden, mit so wenigen TeilnehmerInnen begangen werden, die überwältigende Mehrheit der damaligen AktivistInnen der Solidarnosc nicht mitmacht und sich die Arbeiterklasse nicht dafür interessiert. Aus diesem Grund nehmen auch die westeuropäischen VertreterInnen aus Gewerkschaften und Solidaritätskomitees nicht teil, die der Solidarnosc in der Zeit des Kriegsrechts 3 zu Hilfe gekommen waren und dafür ihre eigene Sicherheit aufs Spiel setzten, weil sie von klassenund internationalistischen Motiven beseelt waren und nicht vom Antikommunismus.

Der durch das Kriegsrecht zerstörten Solidarnosc gelang es nicht mehr, als autonome Massenbewegung der Arbeiterdemokratie wiederzuerstehen.Was ihr zugestoßen ist, lässt sich leicht erklären. Während des stürmischen Anschwellens von Arbeitskämpfen kann sich eine solche Bewegung eine gewisse Zeit lang aus sich selbst entwickeln. Um aber nach einer Niederlage dauerhaft bestehen und sich wieder aufbauen zu können – ganz zu schweigen von einem entscheidenden Sieg, der nur durch die Errichtung der Arbeitermacht möglich ist – , braucht es unbedingt eine Partei, die in der Lage ist, die politischen Errungenschaften zu bewahren, die Klassenunabhängigkeit zu gewährleisten und die Bewegung mit einem entsprechenden Programm und einer effizienten Kampfstrategie zu bewaffnen.

Der Entwurf für ein solches Programm der antibürokratischen Arbeiterrevolution und demokratischen Arbeiterräte entstand in Polen 15 Jahre zuvor. Gemeint ist der „Offene Brief an die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei“ von Karol Modzelewski und Jacek Kuron. 4 Nach März 1968 5 verabschiedeten sich die beiden Autoren und die um sie gruppierte Opposition diskret von diesem Programm und mit ihm vom Marxismus.

Den AktivistInnen der Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) 6 war das Programm des „Offenen Briefs“ bereits nicht mehr bekannt, als sie unter den ArbeiterInnen Einfluss gewannen. Im Herbst 1980 bereinigte Kuron die Angelegenheit, als er, zum Marxismus befragt, feststellte, es handle sich um „eine seit langem überholte Philosophie der sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts“. Gegen Ende seines Lebens bezeichnete er sich im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Restauration des Kapitalismus, zu der er selbst beigetragen hatte, wieder als Marxist. Am Rande der Sitzungen der Programmkommission für den ersten Solidarnosc -Kongress bezeichnete mich Kuron als „Naivling, der noch an die Dummheiten glaubt, die Karol und ich in unserem offenen Brief geschrieben haben“.

Betrachtet man die Entwicklung der „demokratischen Opposition“ aus historischer Perspektive, ist man erstaunt über ihr instrumentelles Verhältnis zur Arbeiterklasse, das sehr an die Haltung Pilsudskis 7 und seiner AnhängerInnen erinnert. Kazimierz Kelles-Krauz, der in der Sozialistischen Partei Polens (PPS) die Vorstellung vertreten hatte, die „Unabhängigkeit Polens komme dem Proletariat zugute“, warnte vor jenen, die de fakto „das Proletariat als Instrument der Unabhängigkeit“ betrachteten. Sie wollten es als schlagkräftige Armee einsetzen, um mit seiner Hilfe den Weg für den Aufbau eines bürgerlichen Staates zu bahnen. Daher auch der viel zitierte Ausstieg der Pilsudskisten aus der roten Tram. Die „Schatten der berühmten Vorfahren“, auf die sich Adam Michnik berief, waren ein inspirierendes Beispiel. 8

KAPITALISMUSEXPERTEN

Das von Kuro´n und den ihn umgebenden Oppositionellenkreisen aufgege-bene Programm wurde von keiner politischen Organisation oder Gruppe aufgegriffen. Das ist ein Paradox. Die bedeutenden Klassenkämpfe haben normalerweise einen belebenden programmatischen und politischen Einfluss auf linke Kreise. Sie führen zum Aufschwung bestehender revolutionärer Organisationen, zur Entstehung neuer solcher Organisationen, wo es sie noch nicht gibt, und zur Radikalisierung der linken Flügel in den reformistischen Parteien. Im Dezember 1970 gab es ein solches Aufrütteln, das, auch wenn der neue Vorsitzende der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei (PZPR) Edward Gierek die Spannung abbauen konnte – wenn auch nur relativ, wie der Streik in Lódz zeigte –, zumindest zur Entstehung einer radikalen linken Opposition, wenn nicht zu einer neuen revolutionären Partei hätte führen sollen.

Doch nichts dergleichen geschah. Auch nicht nach Juni 1976, der als Vorbote eines heftigen Sturms hätte interpretiert werden sollen. Ja nicht einmal der August 1980 brachte in dieser Hinsicht eine Veränderung.

Zwar wurde die linke Opposition von der politischen Polizei streng überwacht und von einer scharfen Repression getroffen. Der Prozess von Kuron und Modzelewski und der „Prozess der drei Trotzkisten“ wie auch die Unterdrückung der BefürworterInnen des Bruchs zwischen China und Albanien in den 60er Jahren sind eindeutig. Das ging so bis zum Schluss, wie der 1987 im polnischen Innenministerium verfasste und in den Archiven der ostdeutschen Stasi aufbewahrte Bericht zeigt, aus dem hervorgeht, dass die Mittel und Kräfte, die zur Verfolgung der TrotzkistInnen eingesetzt wurden, in keinem Verhältnis zu deren Zahl und Einfluss standen und dass ihnen sogar eine Konferenz der Spezialdienste der „Bruderländer“ in Moskau gewidmet war.

Doch wesentlich wichtiger war etwas anderes: Die „marxistisch-leninistische Ideologie“ des Regimes, die in Polen von fast allen mit Marxismus gleichgesetzt wurde, entbehrte jeglichen Klasseninhalts. Sie war völlig unbrauchbar für die Entwicklung eines Programms mit unmittelbaren oder Übergangsforderungen, die für eine echte autonome Arbeiterbewegung von Nutzen gewesen wäre, wie auch für strategische oder taktische Überlegungen. Mit dieser Ideologie musste man folglich brechen und den Marxismus neu entdecken – als Theorie der Bedingungen, Formen und Folgen des Klassenkampfs und als politisches Programm.

Die Ereignisse von März 1968 9 zeitigten langfristig eine ausgesprochen große Wirkung, die im Allgemeinen unbemerkt bleibt. In der gesamten Nachkriegsphase verfügte die nationalistisch- klerikale Rechte, gestützt auf das Abkommen zwischen Piasecki und General Serow 10 , über eine legale institutionelle und organisatorische Basis. Mit der Kampagne von General Moczar im März 1968 konnte sie wieder aktiv werden und ihren Einfluss ausweiten. In dem damals geschaffenen ideologischen Klima breitete sich diese Rechte auch in der Opposition aus, ohne im Übrigen ihre unzähligen Verbindungen mit RegimevertreterInnen aufzugeben.

Die erneute tiefe Krise des „real existierenden Sozialismus“ im Jahr 1980 verstärkte die Restaurationstendenzen innerhalb der Bürokratie, insbesondere des Wirtschaftssektors, und bei Teilen der Intelligenz. Viele restaurationsfreudige Intellektuelle schwankten zwischen Bürokratie und Solidarnosc hin und her und empfahlen beiden eine marktwirtschaftliche Reform. Sie nahmen Einfluss auf die nationale Führung insbesondere des Apparats und seiner Ableger, die sich der demokratischen Kontrolle der ArbeiterInnen wesentlich besser entziehen konnten als die Betriebskommissionen oder die regionalen Führungen. Auf dieser Ebene missbrauchten die BeraterInnen und ExpertInnen auf gravierende Weise ihre Funktion, um die Solidarnosc -Politik zu bestimmen.

DIE UNTERDRÜCKTE DEMOKRATIE

Die ungestüme Entwicklung der Selbst organisation und der unabhängigen Ar-beitertätigkeit, die zunehmenden Erfahrungen im Bereich der Arbeiterdemokratie und des Klassenkampfs, die Bewusstseinsentwicklung, der immer drängendere Wunsch der ArbeiterInnen, die Betriebe zu kontrollieren, die Arbeiterselbstverwaltung und die demokratische Planung waren eine Seite der Medaille. Die andere Seite, die im Lauf der Zeit immer mehr in eine Sackgasse zu münden drohte, war das Fehlen einer politischen Arbeiterpartei.

Auf dieser Ebene verträgt es keine Leerstelle, und sie wird durch politische Strömungen aufgefüllt, die andere soziale Interessen vertreten. Am nationalen Solidarnosc-Kongress fand im Untergrund ein nur vereinzelt und kurz offen aufbrechender Kampf zwischen der KOR-Strömung, der nationalistischen Rechten und den weit zahlreicheren, aber isolierten Kräften, die sich nach ihrem Gewissen oder sogar ihrem Klassenbewusstsein richteten, zwischen der radikalen Strömung der Bewegung für Unternehmensselbstverwaltung und Kräften, die nicht nur versöhnlicher gegenüber der Regierung waren, sondern auch mehr oder weniger deutlich ausgeprägte, wenn auch verdeckte Restaurationstendenzen vertraten, zwischen den AnhängerInnen und den GegnerInnen der Arbeiterdemokratie, der Unabhängigkeit von der katholischen Kirche und des Kampfs für die Arbeitermacht statt.

In wesentlichen Fragen obsiegte im Allgemeinen die Klassenlinie. Doch wenn die Angelegenheiten aus den Händen einer demokratischen Versammlung wie dem Delegiertenkongress auf den nationalen Apparat übergingen, war das Schlimmste zu befürchten. Die schärfste Auseinandersetzung gab es an diesem Kongress zweifellos in der Frage der vom Parlament verabschiedeten Gesetze über die Selbstverwaltung der Betriebe und über die Staatsbetriebe. In Missbilligung des Kompromisses, den Lech Walesa hinter dem Rücken der Gewerkschaft mit dem Parlament geschlossen hatte, beschloss der Kongress, „die Abschnitte der beiden Gesetze, die in flagranter Weise gegen die Haltung des Gewerkschaft verstoßen und damit die Selbstverwaltung bedrohen, einem Referendum in den Betrieben zu unterstellen“. Derselbe Kongress beschloss, dass die Gewerkschaft „in ihrem Kampf für Arbeiterselbstverwaltung und vergesellschaftete Betriebe weiter in Übereinstimmung mit dem Wunsch der Beschäftigten handeln wird“, und rief zur „Bildung von wahren Arbeiterräten nach den Grundsätzen auf, die mit der Haltung der Gewerkschaft übereinstimmen“ und nicht mit den erwähnten Gesetzen. Nach der Abstimmung, die von den meisten Delegierten mit Beifall bedacht wurde, sagte mir Jacek Merkel, einer der wichtigsten Walesa-Anhänger im Präsidium der nationalen Kommission und später einer der liberalen Führer von Danzig: „Ihr habt gewonnen, na und? Nach dem Kongress werden wir dieses Referendum sowieso begraben.“ So war es auch, und der Kompromiss wurde verteidigt. Trotz der Kongressabstimmung wäre ein weiterer interner Kampf erforderlich gewesen. Hätte es nicht das Kriegsrecht gegeben, wären die Chancen gut gestanden, diesen Kampf zu gewinnen. Denn in der Solidarnosc war es nicht so einfach möglich, sich über die ArbeiterInnen der Großbetriebe hinwegzusetzen. Wer ihren Rückhalt genoss, konnte leicht gewinnen, auch gegen Walesa.

GEGEN DIE ARBEITERINTERESSEN

Nachdem mit Hilfe des Kriegsrechts die Massenbewegung der ArbeiterInnen zerschlagen worden war, änderte sich alles. Schon bald wurde das, was die ArbeiterInnen wollten, nicht mehr berücksichtigt und war nicht mehr entscheidend. Solidarnosc erfuhr einen tiefgreifenden Wandel. Eine Massenorganisation machte kleinen Gruppen und Strukturen Platz, die sich weitgehend in Richtung Kirchen drängen ließen und von rechten, konservativen, nationalistisch-klerikalen und liberalen Gruppen überflutet wurden. Ihr gemeinsames Programm war der Antikommunismus, das Bündnis mit dem Imperialismus und die Restauration des Kapitalismus.

Die auf dieser Grundlage wieder aufgebaute Solidarnosc verlor ihre Klassenunabhängigkeit. In arbeiterfeindlichen Interessen verfangen, konnte sie nur noch vortäuschen, die Interessen der ArbeiterInnen zu vertreten, die sie in Wirklichkeit ausverkaufte. Damit spielte sie die schändliche Rolle eines gewerkschaftlichen Feigenblatts für die neoliberale, kapitalistische Transformation. Kein Wunder also, dass sie nicht mehr die Organisation der Mehrheit der Arbeiterklasse ist und nur noch eine kleine Minderheit organisiert.

 

1 Die im Juli 1980 infolge einer Preiserhöhung
losgelöste Streikwelle hielt den ganzen Sommer
an und weitete sich aus, als die Danziger
Lenin-Werft am 14. August 1980 in den Streik
trat und die Werft besetzte. Dieser Streik, der
sich auf alle Betriebe der Region ausweitete,
zwang die Bürokratie zu Verhandlungen vor
der Vollversammlung der Delegierten der
Streikkomitees. Am 31. August musste Vizepremier
M. Jagielski ein Abkommen unterzeichnen,
das den Streikkomitees das Recht
einräumte, „neue unabhängige, selbstverwaltete
Gewerkschaften“ zu bilden. Am 4. September
setzte das Streikkomitee der vor allem auf
die Grube „Manifest Lipcowy“ in Jastrzebie
konzentrierten oberschlesischen Bergarbeiter
ein ähnliches Abkommen durch. Vgl.
Inprekorr JULI/SEPTEMBER 1980.

2 Robotnik Slaski., August 2000.

3 In der Nacht vom 12. zum 13. Dezember 1981
führte General Jaruzelski, Premierminister und
Generalsekretär der PZPR, einen Staatsstreich
durch und rief das Kriegsrecht aus. Tausende
von GewerkschaftsaktivistInnen wurden festgenommen,
Kommunikationsmittel eingestellt,
eine Ausgangssperre verhängt und der
Generalstreik von einem Betrieb zum anderen
durch die Armee niedergeschlagen (in der Wujek-
Grube in Schlesien, wo die ArbeiterInnen
zur Selbstverteidigung griffen, setzte die Armee
Schusswaffen ein und tötete mehrere Personen).
Die Gewerkschaft organisierte sich
rasch wieder im Untergrund, doch die wirksame
Repression (Verhaftungen und vor allem
wiederholte Entlassungen) schnitt die Gewerkschaftsstrukturen
letztlich von ihren Wurzeln
in den Betrieben ab. Die Gewerkschaftsführung
im Untergrund erwies sich als unfähig, im
spontanen Aufstand am 31. August 1982, der
mehrere Tausend DemonstrantInnen auf die
Straßen brachte, die Führung zu übernehmen.
Nach diesem Misserfolg flutete die Massenbewegung
zurück.


4 Offener Brief an die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei,
Isp-Verlag, Frankfurt/M. 1968.


5 Im März 1968 demonstrierte die polnische Opposition
gegen die Zensur eines Theaterstücks.
In Reaktion auf die Repression gegen diese
Demonstration traten die Studierenden der
meisten polnischen Städte in den Streik. Diese
Bewegung wurde hart unterdrückt, und das Regime
brach auf Betreiben von Innenminister
M. Moczar eine antisemitische Kampagne vom
Zaum, um die kommunistische Linke zu liquidieren.
Dieser Repression folgte eine Auswanderungswelle.

6 Die Komitees zur Verteidigung der Arbeiter
wurden nach der Niederschlagung der Streiks
von Juni 1976 von Oppositionellen gegründet.

7 Der Anfang des Jahrhunderts für den Militärapparat
der Polnischen Sozialistischen Partei
(PPS, der unabhängige Flügel der polnischen
Arbeiterbewegung) zuständige Józef Pilsudski
brach nach dem Scheitern der Russischen Revolution
1905 mit seinem Sektor. Er organisierte
im Ersten Weltkrieg die polnische Legion
in der österreichischen Armee und übernahm
am 11. November 1918 in Warschau die
Macht, indem er die Unabhängigkeit des Landes
verkündete und sich öffentlich vom sozialistischen
Gedankengut lossprach (daher der
Ausdruck „an der Haltestelle 'Unabhängigkeit‘
aus der roten Tram aussteigen“). 1926
führte er mit Unterstützung der Gewerkschaften,
die durch einen Streik die loyalen Sektoren
der Armee am Eingreifen hinderten (!), einen
Staatsstreich durch und richtete ein autoritäres
Regime ein, das die Arbeiterbewegung – einschließlich
der PPS – unterdrückte, aber
gleichzeitig ein Scheinparlament aufrecht erhielt.

8 Ende der 70er-Jahre verbreitete Adam Michnik,
der 1966 mit der Gründung des Studentenclubs
der „Widerspruchssucher“ seine oppositionelle
Tätigkeit aufnahm und eine der tragenden
Figuren der Studentenbewegung des Jahres
1968 war, einen Essay mit dem gleichlautenden
Titel, in dem er die Traditionen der nationalistischen
polnischen Rechten rehabilitierte.

9 Siehe Fußnote 5.

10 Piasecki, ein Führer des faschistischen Flügels
des polnischen Widerstands, wurden 1945 von
der Sowjetarmee festgenommen und schloss
ein Abkommen mit dem stalinistischen General
und Gouverneur von Warschau, Serow, in
dem er sich verpflichtete, die klerikale polnische
Rechte an das neue Regime heranzuführen.
Dafür verfügte er bis zu seinem Tod über
ein Verlagshaus und institutionellen Rückhalt
und versuchte sogar zeitweise, der katholischen
Hierarchie Konkurrenz zu machen.