Seit
dem 1. Oktober sollen laut Innenministerium
300 Demonstrationen stattgefunden haben und
aktuell sollen 150 Schulen und 20 Fakultäten
besetzt sein. Das scheint aber stark untertrieben.
Nach Informationen der Protestbewegung sollen
allein in Neapel 60 höhere Schulen besetzt
worden sein, in der Region Kampanien 120.
Am
vergangenen Freitag gab es im ganzen Land
Demonstrationen, an denen sich Hunderttausende
beteiligten. Am Samstag protestierten erneut
mehrere Hunderttausend in Rom gegen die Regierung.
Für den heutigen Donnerstag haben die
Oppositionsparteien und die Gewerkschaften
zum Generalstreik im Bildungswesen aufgerufen.
Gegenstand
der Proteste ist die sogenannte Gelmini-Reform,
benannt nach der 35-jährigen Bildungsministerin
Mariastella Gelmini aus Berlusconis Partei
Forza Italia. Die Reform sieht vor, an den
öffentlichen Schulen innerhalb von drei
Jahren 87.000 Lehrerstellen und 44.500 Verwaltungsstellen
abzubauen. Dadurch sollen acht Milliarden
Euro eingespart werden. An den Universitäten
soll in den nächsten Jahren durchgängig
nur noch jede fünfte freiwerdende Dozentenstelle
neu besetzt werden.
Das
italienische Bildungssystem gilt seit langem
als eines der schlechtesten Europas. Die Schulen
sind miserabel ausgestattet, die Lernmethoden
veraltet, die Lehrer unterbezahlt, es fehlt
an modernen Unterrichtsmitteln wie Computern.
Die Universitäten sind chronisch überfüllt.
Die
Regierung besitzt nun die Unverschämtheit,
ihr Kürzungsprogramm als Antwort auf
diese Misere zu verkaufen. Die Reform werde,
so Bildungsministerin Gelmini, die Bildung
effektiver und leistungsfähiger gestalten,
indem sie Bürokratie abbaue und auf Leistung
setze.
Inhaltlich
verordnet die Reform pädagogische Konzepte,
die aus dem 19. Jahrhundert zu stammen scheinen.
Statt auf moderne Inhalte, Methoden und Lehrmittel
setzt sie auf Zucht und Ordnung. So soll in
den Grundschulen an die Stelle von Fachlehrern
wieder der Einheitslehrer treten - der "Maestro",
bei dessen Eintritt sich alle Schüler
zu erheben haben. Eine Art Schuluniform soll
Pflicht werden, Zeugnisnoten sollen die bisherigen
differenzierten Beurteilungen ersetzen und
Betragensnoten über die Versetzung entscheiden.
Die
von Gelmini anvisierten Zuchtanstalten sind
für das einfache Volk bestimmt. Die Verwirklichung
der Reform wird zu einer sprunghaften Zunahme
der Privatschulen führen, in denen die
Begüterten ihren Nachwuchs erziehen.
Zusätzlich
diskriminiert werden Immigranten. Hier ist
Gelmini einem Wunsch ihres Koalitionspartners,
der rassistischen Lega Nord nachgekommen.
Wer bei der Einschulung einen Sprachtest nicht
besteht, muss in Zukunft eine Sonderklasse
besuchen. Die Lega Nord bezeichnet das zynisch
als "positive Diskriminierung" und
Beitrag zur "besseren Integration".
Die
Bildungspläne Gelminis haben breiten
Widerstand provoziert, der nicht nur die Regierung,
sondern auch die Oppositionsparteien überrascht
hat. Im ganzen Land kam es zu spontanen Protestaktionen,
die weitgehend unabhängig von den traditionellen
Organisationen stattfanden.
Schüler
besetzten gemeinsam mit ihren Lehrern die
Schulgebäude. Eltern demonstrierten gemeinsam
mit ihren schulpflichtigen Kindern. Professoren
hielten auf öffentlichen Plätzen
Vorlesungen ab. In Venedig blockierten Lehrer
den Autoverkehr zum Festland, in Bari legte
ein symbolischer Trauerzug den Verkehr lahm.
An den Universitäten von Bologna, Mailand,
Turin, Genua, Neapel und Rom wurden Fakultäten
besetzt. In der Nähe von Mailand besetzten
Schüler einen Bahnhof und blockierten
die Bahngeleise.
Die
Regierung hat den Widerstand stur ignoriert.
Sie hat eine parlamentarische Debatte über
die Reform verhindert, indem sie diese als
Dekret verordnete und die Abstimmung darüber
mit einem Vertrauensvotum verband. Auf diese
Weise konnte ohne Debatte darüber abgestimmt
werden.
Auf
die Proteste reagierten Gelmini und ihr Mentor
Berlusconi mit äußerster Arroganz.
Gelmini bezeichnete den Widerstand als "terroristisch".
Andere Mitglieder des Regierungslagers sprachen
sogar von einer "Infiltration der Bewegung
durch die Roten Brigaden", einer terroristischen
Organisation.
Berlusconi
versicherte auf einer eigens einberufenen
Pressekonferenz, er werde "keinen Millimeter"
nachgeben und gewaltsam gegen den Widerstand
vorgehen. Er werde es nicht dulden, wenn Schulen
und Unis besetzt werden, sagte er und drohte:
"Ich werde den Innenminister einbestellen.
Und ich werde ihm genaue Anweisungen geben,
wie er mit den Sicherheitskräften eingreifen
muss, damit solche Sachen nicht passieren."
Damit
goss er Öl ins Feuer. Die Proteste breiteten
sich weiter aus und wurden radikaler. Berlusconi
ruderte schließlich zurück und
behauptete, er sei missverstanden worden.
Doch in der Sache gab er nicht nach. Am gestrigen
Mittwoch billigte auch die zweite Parlamentskammer,
der Senat, die Reform mit 162 zu 134 Stimmen.
Damit kann sie in Kraft treten.
Die
Gelmini-Reform knüpft an die Politik
der Mitte-Links-Regierung Romano Prodis an,
die in ihrer zweijährigen Amtszeit 47.000
Stellen im Bildungsbereich gestrichen hat.
Doch angesichts der heftigen Proteste versucht
die Demokratische Partei nun, sich an die
Spitze der Bewegung zu stellen. Die Demokraten
sind aus der Kommunistischen Partei hervorgegangen
und bildeten den wichtigsten Bestandteil der
Prodi-Koalition.
Am
vergangenen Samstag riefen die Demokraten
zu einer Demonstration in Rom auf, zu der
mehrere Hunderttausend Teilnehmer aus ganz
Italien erschienen. Einziger Redner war Walter
Veltroni, der Vorsitzende der Demokraten.
Er hatte Berlusconi noch im Frühjahr,
nach seiner empfindlichen Niederlage bei der
Parlamentswahl, eine konstruktive Zusammenarbeit
angeboten. Nun versuchen die Demokraten, Einfluss
auf die Bewegung gegen die Bildungsreform
zu gewinnen, um sie unter Kontrolle zu halten.
Das
wird ihnen allerdings kaum gelingen. Die Proteste
gegen die Bildungsreform sind Bestandteil
einer umfassenden sozialen Bewegung, die sich
mit den Auswirkungen der Finanzkrise weiter
verschärfen wird. In den vergangenen
Wochen gab es nicht nur Streiks und Proteste
im Bildungssektor, auch der öffentlicher
Nahverkehr, das Gesundheitswesen und viele
Behörden waren betroffen. Auch Feuerwehrleute,
Flugpersonal und viele prekär Beschäftigte
in Call-Centern oder Handelsketten wie IKEA
beteiligten sich an Streiks.