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Italien:

Generalstreik gegen Bildungsreform

Peter Schwarz - von wsws.org - 30. Oktober 2008


In Italien hat sich erstmals seit dem Amtantritt der rechten Regierung Berlusconi im Mai eine massive Protestbewegung entwickelt.

Seit Wochen gehen Schüler, Studenten, Eltern, Lehrer und Professoren gegen die Bildungsreform der Regierung auf die Straße. Demonstrationen, öffentliche Versammlungen und Besetzungen von Schulen und Fakultäten reißen nicht ab. Bis in den tiefen Süden, in kleine, verschlafene Provinzstädtchen hat sich die Protestbewegung ausgebreitet.

Seit dem 1. Oktober sollen laut Innenministerium 300 Demonstrationen stattgefunden haben und aktuell sollen 150 Schulen und 20 Fakultäten besetzt sein. Das scheint aber stark untertrieben. Nach Informationen der Protestbewegung sollen allein in Neapel 60 höhere Schulen besetzt worden sein, in der Region Kampanien 120.

Am vergangenen Freitag gab es im ganzen Land Demonstrationen, an denen sich Hunderttausende beteiligten. Am Samstag protestierten erneut mehrere Hunderttausend in Rom gegen die Regierung. Für den heutigen Donnerstag haben die Oppositionsparteien und die Gewerkschaften zum Generalstreik im Bildungswesen aufgerufen.

Gegenstand der Proteste ist die sogenannte Gelmini-Reform, benannt nach der 35-jährigen Bildungsministerin Mariastella Gelmini aus Berlusconis Partei Forza Italia. Die Reform sieht vor, an den öffentlichen Schulen innerhalb von drei Jahren 87.000 Lehrerstellen und 44.500 Verwaltungsstellen abzubauen. Dadurch sollen acht Milliarden Euro eingespart werden. An den Universitäten soll in den nächsten Jahren durchgängig nur noch jede fünfte freiwerdende Dozentenstelle neu besetzt werden.

Das italienische Bildungssystem gilt seit langem als eines der schlechtesten Europas. Die Schulen sind miserabel ausgestattet, die Lernmethoden veraltet, die Lehrer unterbezahlt, es fehlt an modernen Unterrichtsmitteln wie Computern. Die Universitäten sind chronisch überfüllt.

Die Regierung besitzt nun die Unverschämtheit, ihr Kürzungsprogramm als Antwort auf diese Misere zu verkaufen. Die Reform werde, so Bildungsministerin Gelmini, die Bildung effektiver und leistungsfähiger gestalten, indem sie Bürokratie abbaue und auf Leistung setze.

Inhaltlich verordnet die Reform pädagogische Konzepte, die aus dem 19. Jahrhundert zu stammen scheinen. Statt auf moderne Inhalte, Methoden und Lehrmittel setzt sie auf Zucht und Ordnung. So soll in den Grundschulen an die Stelle von Fachlehrern wieder der Einheitslehrer treten - der "Maestro", bei dessen Eintritt sich alle Schüler zu erheben haben. Eine Art Schuluniform soll Pflicht werden, Zeugnisnoten sollen die bisherigen differenzierten Beurteilungen ersetzen und Betragensnoten über die Versetzung entscheiden.

Die von Gelmini anvisierten Zuchtanstalten sind für das einfache Volk bestimmt. Die Verwirklichung der Reform wird zu einer sprunghaften Zunahme der Privatschulen führen, in denen die Begüterten ihren Nachwuchs erziehen.

Zusätzlich diskriminiert werden Immigranten. Hier ist Gelmini einem Wunsch ihres Koalitionspartners, der rassistischen Lega Nord nachgekommen. Wer bei der Einschulung einen Sprachtest nicht besteht, muss in Zukunft eine Sonderklasse besuchen. Die Lega Nord bezeichnet das zynisch als "positive Diskriminierung" und Beitrag zur "besseren Integration".

Die Bildungspläne Gelminis haben breiten Widerstand provoziert, der nicht nur die Regierung, sondern auch die Oppositionsparteien überrascht hat. Im ganzen Land kam es zu spontanen Protestaktionen, die weitgehend unabhängig von den traditionellen Organisationen stattfanden.

Schüler besetzten gemeinsam mit ihren Lehrern die Schulgebäude. Eltern demonstrierten gemeinsam mit ihren schulpflichtigen Kindern. Professoren hielten auf öffentlichen Plätzen Vorlesungen ab. In Venedig blockierten Lehrer den Autoverkehr zum Festland, in Bari legte ein symbolischer Trauerzug den Verkehr lahm. An den Universitäten von Bologna, Mailand, Turin, Genua, Neapel und Rom wurden Fakultäten besetzt. In der Nähe von Mailand besetzten Schüler einen Bahnhof und blockierten die Bahngeleise.

Die Regierung hat den Widerstand stur ignoriert. Sie hat eine parlamentarische Debatte über die Reform verhindert, indem sie diese als Dekret verordnete und die Abstimmung darüber mit einem Vertrauensvotum verband. Auf diese Weise konnte ohne Debatte darüber abgestimmt werden.

Auf die Proteste reagierten Gelmini und ihr Mentor Berlusconi mit äußerster Arroganz. Gelmini bezeichnete den Widerstand als "terroristisch". Andere Mitglieder des Regierungslagers sprachen sogar von einer "Infiltration der Bewegung durch die Roten Brigaden", einer terroristischen Organisation.

Berlusconi versicherte auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz, er werde "keinen Millimeter" nachgeben und gewaltsam gegen den Widerstand vorgehen. Er werde es nicht dulden, wenn Schulen und Unis besetzt werden, sagte er und drohte: "Ich werde den Innenminister einbestellen. Und ich werde ihm genaue Anweisungen geben, wie er mit den Sicherheitskräften eingreifen muss, damit solche Sachen nicht passieren."

Damit goss er Öl ins Feuer. Die Proteste breiteten sich weiter aus und wurden radikaler. Berlusconi ruderte schließlich zurück und behauptete, er sei missverstanden worden. Doch in der Sache gab er nicht nach. Am gestrigen Mittwoch billigte auch die zweite Parlamentskammer, der Senat, die Reform mit 162 zu 134 Stimmen. Damit kann sie in Kraft treten.

Die Gelmini-Reform knüpft an die Politik der Mitte-Links-Regierung Romano Prodis an, die in ihrer zweijährigen Amtszeit 47.000 Stellen im Bildungsbereich gestrichen hat. Doch angesichts der heftigen Proteste versucht die Demokratische Partei nun, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Die Demokraten sind aus der Kommunistischen Partei hervorgegangen und bildeten den wichtigsten Bestandteil der Prodi-Koalition.

Am vergangenen Samstag riefen die Demokraten zu einer Demonstration in Rom auf, zu der mehrere Hunderttausend Teilnehmer aus ganz Italien erschienen. Einziger Redner war Walter Veltroni, der Vorsitzende der Demokraten. Er hatte Berlusconi noch im Frühjahr, nach seiner empfindlichen Niederlage bei der Parlamentswahl, eine konstruktive Zusammenarbeit angeboten. Nun versuchen die Demokraten, Einfluss auf die Bewegung gegen die Bildungsreform zu gewinnen, um sie unter Kontrolle zu halten.

Das wird ihnen allerdings kaum gelingen. Die Proteste gegen die Bildungsreform sind Bestandteil einer umfassenden sozialen Bewegung, die sich mit den Auswirkungen der Finanzkrise weiter verschärfen wird. In den vergangenen Wochen gab es nicht nur Streiks und Proteste im Bildungssektor, auch der öffentlicher Nahverkehr, das Gesundheitswesen und viele Behörden waren betroffen. Auch Feuerwehrleute, Flugpersonal und viele prekär Beschäftigte in Call-Centern oder Handelsketten wie IKEA beteiligten sich an Streiks.