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Agenda 2010

Sozialer Krieg des europäischen Kapitals
an der Heimfront

von Peter Streckeisen aus Debatte Nr. 6, Juni/Juli 2003

Noam Chomsky hat uns am Beispiel der USA gelehrt, die Aussenpolitik einer Regierung mit ihrer Innenpolitik in Verbindung zu setzen : Die imperialistischen Kriege des Pentagons gehen einher mit Angriffen auf die Bevölkerung an der Heimfront (home front). In Europa ist der Rentenabbau inzwischen zum Inbegriff der neo-konservativen Politik aller Regierungen geworden, auch wenn es sich in der Regel "nur" um ein Element in einer ganzen Palette von Massnahmen handelt. Der folgende Beitrag konzentriert sich in erster Linie auf die aktuelle Situation in der BRD, dem Land des "Friedenskanzlers".

 

Am 14. März 2003, wenige Tage vor der Invasion des Irak durch amerikanische und britische Truppen, hat Gerhard Schröder vor dem Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung abgegeben. Der Bundeskanzler, damals in den Medien gerne als unerschrockener Friedensapostel und Verfechter des Völkerrechts dargestellt, erklärte dabei den Lohnabhängigen im eigenen Land den Krieg.

 

 

Deutschlands Rolle in der Welt

Indem er seine Rede unter das Motto "Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung" stellte, lieferte er auch gleich die Begründung für den Zusammenhang dieser beiden Themen : Deutschland (und Europa) werde "seine Rolle in der Welt" nur behaupten können, "wenn wir wirtschafts- und sozialpolitisch beweglicher und solidarischer" werden : "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen." Im Klartext heisst dies : Um in der imperialistischen Konkurrenz insbesondere gegenüber den USA bestehen zu können, verschärft das europäische Kapital den sozialen Krieg an der Heimfront. Zugleich spiegelte die Ablehnung des Angriffskriegs im Irak den Versuch, eigene (deutsche, französische oder russische) Interessen und Einflussmöglichkeiten im Nahen Osten zu verteidigen.

Unter dem Titel "Agenda 2010" treibt die rot-grüne Bundesregierung nun also ein umfassendes Paket von "Strukturreformen" voran, um "Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze zu bringen." Mehrere Gesetzesrevisionen wurden bereits in die Wege geleitet. Zugleich wird an frühere Massnahmen wie die laufende Steuerreform (Entlastung der Unternehmen und der Reichen) und die Rentenreform von 2001 angeknüpft. Der folgende Überblick zeigt, dass die Agenda 2010 keinen Kernbereich der Sozialpolitik verschont.

Kampf gegen die Arbeitslosen

Im Bereich der Beschäftigung wird an die Vorschläge der Hartz-Kommission angeknüpft, die eine so genannte "aktive Arbeitsmarktpolitik" propagieren : Im Kern geht es darum, Arbeitslose zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit unter schlechteren Bedingungen zu zwingen, indem deren Überwachung verschärft, die sozialstaatlichen Leistungen gekürzt und die Kriterien der Zumutbarkeit gesenkt werden.

Zur Erinnerung : Schröder hatte die Bundestagswahl von 1998 unter anderem mit dem Versprechen gewonnen, die Arbeitslosigkeit drastisch zu senken. Doch verharrte die Arbeitslosenquote auf demselben Niveau, und zwei Monate vor der nächsten Bundestagswahl überstieg die Zahl der Arbeitslosen im Juli 2002 wieder einmal die Barriere von vier Millionen Lohnabhängigen (9.7 %). Mit Blick auf den anstehenden Wahlkampf bildete der Bundeskanzler eine Kommission unter der Leitung des VW-Managers Hartz, um geeignete "Massnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" vorzuschlagen. Damit machte sich die Regierung direkt die Leitlinien der Personalpolitik des Auto-Konzerns zu eigen. Bekämpft werden nun in erster Linie die Arbeitslosen und ihre Rechte.

Nach der knappen Wiederwahl Schröders am 22. September 2002, die nicht zuletzt der "nationalen Solidaritätswelle" angesichts der Hochwasserkatastrophe und der Ablehnung des drohenden Irak-Kriegs geschuldet war, wurde die Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission zur Chefsache erklärt. Bereits am 1. Januar 2003 sind das erste und das zweite "Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" (Hartz-Gesetze) in Kraft getreten. Die Bundesanstalt für Arbeit wird aus der Verwaltung ausgegliedert und nach privatwirtschaftlichem Vorbild organisiert. Die Arbeitsämter schliessen Verträge mit so genannten Personal-Service-Agenturen (meistens private Arbeitsvermittler) ab, um die Leiharbeit systematisch zu fördern und den Arbeitslosen aufzuzwingen. Der zuständige Minister Wolfgang Clement sagte vor dem Bundestag, es gehe darum, die Leiharbeit in Deutschland "aus der Schmuddelecke" herauszuholen und doppelte in Der Zeit vom 5. Juni 2003 nach : "Jede legale Arbeit ist prinzipiell zumutbar. Wir können in Deutschland nicht nur mit Hosenträgern herumlaufen." Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ist Clements Aufforderung unverzüglich gefolgt und hat in den letzten Wochen zwei verschiedene (!) Tarifverträge für Zeitarbeit mit den Verbänden der Temporärbranche BZA (Manpower, Adecco, Randstad, u.a.) und iGZ abgeschlossen. Zugleich erklärte DGB-Verhandlungsführer Dombre die bis vor kurzer Zeit aus gewerkschaftlicher Sicht grundsätzlich abgelehnte Zeitarbeitsbranche zu einer "völlig normalen Wirtschaftsbranche".

Ich-AG, Minijobs und Job Floater

Weitere Massnahmen der Agenda 2010 bestehen aus der Reduktion sozialstaatlicher Leistungen : So sind insbesondere eine radikale Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf 12 Monate bzw. 18 Monate ab Alter 55 und die Zusammenführung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe vorgesehen. Ausserdem sollen der Kündigungsschutz abgebaut und die Entwicklung des Tieflohnsektors und der Scheinselbständigkeit gefördert werden. Diesem Zweck dient die so genannte Ich-AG (Zuschüsse und Steuerabzüge bei der Gründung von Kleinstunternehmen) ebenso wie die Minijobs (Steuerbefreiung und reduzierte Sozialversicherungsbeiträge bei Stellen mit einem Verdienst von einigen Hundert Euro) und der Job Floater (staatliche Kredite und Darlehen für Unternehmen, die Arbeitslose einstellen).

Die Agenda 2010 zielt auf eine umfassende Reorganisation des "verkrusteten" deutschen Arbeitsmarktes und der "bürokratischen" Arbeitsämter ab. Zugleich hat Schröder angedeutet, die Regierung könnte in die Tarifautonomie der "Sozialpartner" eingreifen und gesetzliche Öffnungsklauseln durchsetzen, wenn die Tarifverträge sonst nicht flexibilisiert werden : Dies wäre von historischer Bedeutung, hat doch die Tarifautonomie in Deutschland formell Verfassungsrang (Art. 9 des Grundgesetzes).

Länger arbeiten für weniger Rente

Auch im Bereich der Rentenversicherung steht die rot-grüne Bundesregierung den anderen europäischen Regierungen in keiner Weise nach und bereitet einen massiven Angriff auf die Renten vor. 2001 wurde die Förderung der privaten Altersvorsorge (nach schweizerischem Vorbild) eingeführt, um die zukünftige Reduktion der staatlichen Renten schon mal vorzubereiten (und zugleich der Versicherungsindustrie ein schönes Geschenk zu machen). Zudem hat der Schröder eine "Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme" (Rürup-Kommission) eingesetzt, deren Vorschläge im Rahmen der Agenda 2010 umgesetzt werden sollen : (1) Die Rentenanpassung soll sich nur noch an der Entwicklung der versicherungspflichtigen Einkommen orientieren, nicht mehr an der Bruttolohnentwicklung. (2) Das Rentenalter soll ab 2011 stufenweise - pro Jahr um einen Monat - von 65 auf 67 Jahre ansteigen. (3) Die Rentenanpassungsformel soll um einen "Nachhaltigkeitsfaktor" ergänzt werden, der die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Beitragszahlern und Rentnern ausgleicht und dadurch die Rentenanpassung verlangsamt. Auch in Deutschland sollen die Lohnabhängigen also länger arbeiten, um weniger Rente zu erhalten...

Gesundheitsreform macht krank

Eine breite Palette von Massnahmen umfasst die so genannte Gesundheitsreform, in deren Zentrum die "Kostendämpfung" durch Abwälzung von Kosten auf die Kranken steht. Das Krankengeld soll aus der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) herausgenommen und ab der 6. Woche den Lohnabhängigen allein aufgebürdet werden. Der Leistungskatalog der GKV wird überarbeitet : Bestimmte Leistungen sollen gestrichen, d.h. in Zukunft nicht mehr bezahlt werden. Wer ohne ärztliche Überweisung einen Facharzt aufsucht, soll eine Strafgebühr bezahlen, usw. Hinzu kommen Massnahmen zur Gestaltung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen wie die Auflösung des Vertragsmonopols der kassenärztlichen Vereinigungen, die Förderung der Fusion von Krankenkassen, die Einführung des Hausarztmodells, usw. Insgesamt handelt es sich um eine Mischung aus neoliberalem Gesundheitsmarkt und Abbau öffentlicher Dienstleistungen, wie sie für die Politik der europäischen Sozialdemokratie so typisch ist.

Die Agenda 2010 umfasst zusätzliche Massnahmen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Ohne Zweifel handelt es sich um den umfassendsten Angriff auf die sozialen und ökonomischen Rechte der deutschen Lohnabhängigen seit der Zeit des Faschismus. Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der "Deutschland AG" und der kapitalistischen Profite wird durch die rituelle Beschwörung des rheinischen Modells des Kapitalismus genau so wenig gestoppt wie durch den Mythos vom sozialen Europa, der immer noch in den Köpfen von Politikern und Journalisten herum geistert.

Perspektiven des Widerstands

Im Gegensatz zu anderen Ländern Westeuropas hat sich in Deutschland bislang noch keine breite Protestbewegung gegen die soziale Kriegserklärung des Bundeskanzlers entwickelt. Die PDS ist nach der vernichtenden Wahlniederlage vom September 2002 in erster Linie mit sich selbst und mit der Entfernung unliebsamer Stimmen aus den Führungsgremien beschäftigt. Die Spitzen der Gewerkschaftsbürokratie haben ihren leidenschaftlichen Reden vom 1. Mai keine Taten folgen lassen. Die in den Medien hochstilisierte Opposition innerhalb der SPD hat sich am Sonderparteitag in Berlin vom 1. Juni als laues Sommerwindchen herausgestellt : 90 Prozent der Delegierten stimmten für die Agenda 2010. Was im Übrigen vom "linken Flügel der SPD" zu halten ist, zeigt zum Beispiel ein Interview in der NZZ am Sonntag vom 25. Mai, in dem sich der Bundestagsabgeordnete Ottmar Schreiner zu den "Vorzügen des schweizerischen Rentensystems" äussert...

Am ehesten könnte sich Widerstand gegen den Angriff der rot-grünen Sozialabbauer wohl aus den Kreisen der Gewerkschaftslinken und der "Anti-Globalisierungs-Bewegung" heraus entwickeln, wenn Kernelemente der Agenda 2010 im Parlament beraten werden (v.a. im kommenden Herbst). Bereits gibt es zahlreiche Initiativen, die aber noch kaum zusammenfliessen. So beteiligten sich am 29. April in Schweinfurt 4000 Lohnabhängige an einem Proteststreik der IG Metall gegen die Agenda 2010. Am 1. Juni demonstrierten 2000 Menschen auf Initiative des Berliner Sozialforums und kritischer Gewerkschafter vor dem Hotel Estrel in Berlin, in dem der Sonderparteitag der SPD abgehalten wurde. Das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische Ver. di (Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft) hat einen Aufruf lanciert, der die Durchführung einer bundesweiten Demonstration und eines 24-stündigen Generalstreiks propagiert. ATTAC ruft die Gewerkschaften zum Widerstand auf und organisiert öffentliche Veranstaltungen zum Sozialabbau, usw.

Was sich aus solchen Initiativen entwickeln kann, bleibt vorerst ungewiss. Ohne Zweifel aber steht angesichts der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Deutschlands für die Lohnabhängigen in ganz Europa bei der Agenda 2010 viel auf dem Spiel. In den nächsten Monaten müssen Aktionsformen gefunden werden, die es erlauben, den Protest gegen den imperialistischen Krieg auf europäischer Ebene auch in einen gemeinsamen Protest gegen den sozialen Krieg der sich mit falschen Friedensfedern schmückenden Regierungen zu verwandeln. In einem solchen Prozess könnte sich auch die Diskussion über grundlegende Alternativen und die Konturen eines sozialistischen und demokratischen Europa produktiv entfalten.