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als 5000 Beschäftigte des Volkswagen-Werkes
in Brüssel haben seit vergangenem Freitag
die Arbeit niedergelegt. Anfang der Woche besetzten
die Arbeiter auch Teile des Werks, um den Abtransport
von fertigen Autos und die Demontage von Maschinen
zu verhindern. Am Mittwochvormittag fand vor
dem Haupttor eine Massenversammlung der Arbeiter
statt, auf der über das weitere Vorgehen
beraten wurde.
Seit
Monaten war über die Zukunft des Brüsseler
VW-Werks spekuliert worden. Gerüchte über
einen geplanten Arbeitsplatzabbau wurden von
der deutschen Konzernzentrale in Wolfsburg immer
wieder dementiert. Am vergangenen Freitag war
dann bekannt geworden, dass die Geschäftsleitung
im Rahmen von umfassenden Sparmaßnahmen
die gesamte Produktion des VW-Golf aus dem Brüsseler
Werk abziehen und nach Deutschland zurückverlagern
will. Dadurch soll die Produktion "optimiert"
und auf die beiden deutschen Werke in Wolfsburg
und im sächsischen Mosel verteilt werden.
Nur
so könne dem internationalen Konkurrenzdruck
begegnet werden, erklärte ein Sprecher
der Konzernleitung am Mittwoch. Damit sind in
Brüssel fast 4000 der insgesamt 5400 Arbeitsplätze
bedroht, da dort außer dem Golf nur relativ
geringe Stückzahlen des kleineren VW-Polo
gefertigt werden.
Die
Brüsseler VW-Arbeiter reagierten wütend.
In der Nacht zum Samstag wurde die Hauptverkehrsstrasse
im Brüsseler Stadtteil Vorst mehrere Stunden
lang blockiert. Arbeiter errichteten brennende
Barrikaden. Es wird erwartet, dass die Protestaktionen
die ganze Woche weitergehen. Am Montag haben
die Gewerkschaften aufgerufen, Streikposten
vor dem Werk aufzustellen.
Als
ein Unternehmenssprecher die aufgebrachten Arbeiter
beschwichtigen wollte und eine Erhöhung
der Produktionszahlen für den Polo in Aussicht
stellte - der gegenwärtig hauptsächlich
im spanischen Pamplona gebaut wird - stieß
er auf Unglauben und Ablehnung. "Sie versuchen,
eine Belegschaft gegen die andere auszuspielen",
erklärte ein belgischer Gewerkschafter
gegenüber der Presse.
Obwohl
die Geschäftsleitung eine Total-Schließung
des Brüsseler Werkes zum gegenwärtigen
Zeitpunkt ausschließt, befürchten
die betroffenen Arbeiter genau das.
Eine
besonders üble Rolle spielen die IG Metall
und der Wolfsburger Betriebsrat. Denn der unmittelbare
Hintergrund für die Verlagerung des VW-Golf
ist die von der IG Metall gebilligte Arbeitszeitverlängerung
für die deutschen VW-Beschäftigten
von 28,8 auf 33 Stunden in der Woche ohne Lohnausgleich.
Im Gegenzug hatte VW zugesagt, die deutschen
Werke besser auszulasten. Die Folgen davon sind
jetzt in Belgien zu beobachten.
Die
Behauptung des Betriebsratsvorsitzenden Bernd
Osterloh, der auch Vorsitzender des Europäischen
Konzernbetriebsrats ist, für ihn seien
die Nachrichten aus Belgien völlig überraschend
und unerwartet gewesen, ist mehr als unglaubwürdig.
In einer Pressemitteilung versuchte Osterloh
sich zu rechtfertigen: "Es war nie die
Absicht - und dies war auch mit dem Vorstand
besprochen - zu Lasten anderer Standorte die
Arbeitszeiten an den westdeutschen Standorten
zu erhöhen". Ziel sei es vielmehr,
"im Rahmen unserer internationalen Arbeit
die Marktchancen und -risiken möglichst
gerecht zu verteilen". Belgische Gewerkschaftsvertreter
warfen laut Financial Times Deutschland der
deutschen Gewerkschaft Verrat zu Lasten anderer
europäischer Standorte vor.
Wie
sehr der Betriebsrat in Wolfsburg von der VW-Konzernleitung
im wahrsten Sinn des Wortes gekauft ist, wurde
in den vergangenen Monaten sehr deutlich. Nicht
nur hatte der frühere Betriebsratschef
Volkert zu seinem Festgehalt einen Bonus und
Sonderbonus von insgesamt 693.000 Euro jährlich
erhalten - knapp 60.000 Euro im Monat! Darüber
hinaus wurde mehreren Betriebsräten Luxusreisen
samt Bordellbesuchen finanziert. Weil Klaus
Volkert Presseberichten zufolge die staatsanwaltschaftlichen
Ermittlungen behindern wollte, wurde er vor
wenigen Tagen verhaftet.
Die
Konzernleitung ist sich vollständig darüber
bewusst, dass sie den Betriebsrat in der Tasche
hat. Das macht ihr arrogantes Auftreten deutlich.
VW-Produktionsvorstand Reinhard Jung betonte,
dass die Produktionsverlagerung nach Deutschland
nicht zur Folge habe, dass auf die geplanten
Rationalisierungsmaßnahmen an den deutschen
Standorten verzichtet werde. Volkswagen müsse
auf die großen Überkapazitäten
in Westeuropa reagieren. Der Automobilmarkt
in Westeuropa sei weitgehend gesättigt.
"Daher hat Volkswagen an deutschen Standorten
eine tief greifende Restrukturierung eingeleitet.
Wesentlicher Bestandteil ist ein Abbau von bis
zu 20.000 Mitarbeitern in Deutschland, der bereits
zu einem wichtigen Teil umgesetzt wurde. Weitere
Optimierungen in Deutschland sind geplant,"
gab Jung bekannt.
Obwohl
die Beschäftigten an allen Standorten betroffen
sind, weigert sich der Europäische Konzernbetriebsrat
einen gemeinsamen Kampf zu organisieren und
versucht stattdessen nach wie vor einen Standort
gegen den anderen auszuspielen.
Daher
richtet sich die Empörung vieler Arbeiter
nicht nur gegen die VW-Konzernleitung sondern
auch gegen die Betriebsräte. In zahlreichen
Stellungnahmen gegenüber den belgischen
Medien machten sie ihrem Zorn Luft. Sie schilderten
die katastrophalen Auswirkungen, die der Verlust
von so vielen Arbeitsplätzen auf diese
schon jetzt von Arbeitslosigkeit hart getroffene
Region hätte. Ein völlig verbitterter
Arbeiter sagte: "Seit Freitag hat sich
nichts getan, da sehen wir nicht ein, dass wir
die Arbeit wieder aufnehmen sollen."
Die
christliche Gewerkschaft CSC (Confédération
des Syndicats Chrétiens) schrieb am Dienstag
auf ihrer Internetseite unter dem Titel "Soziale
Katastrophe bei VW in Forest": "Die
Arbeitskosten wurden schon um 5,63 Prozent gesenkt
und sollen bis zum 1. Juli 2007 noch einmal
um 10,7 Prozent gesenkt werden. Also kann die
Firma die Lohnkosten nicht als Grund angeben,
auch nicht die Produktivität und die Flexibilität.
Diese Katastrophe betrifft das gesamte Land:
das Werk beschäftigt 38% Wallonen, 56%
Flamen und 6% Brüsseler. Letztere sind
wegen der vielen Zulieferfirmen noch mehr betroffen.
Gestern haben die Gewerkschafter den Premier
Guy Verhofstadt getroffen, der VW in Deutschland
kontaktiert hat, um zu erreichen, dass neue
Modelle in Forest gebaut werden... Eine Gewerkschaftsdelegation
von den Ford Werken in Genk wird bei den Streikenden
erwartet, die 2003 bereits ähnliches erlebten:
damals wurden in Genk ca. 3.000 Stellen abgebaut."
Auch
Beschäftigte von verschiedenen Zulieferfirmen
wie Meritor, Johnsson Control oder Alcoa, sowie
Automative Park nahmen an den Kundgebungen vor
dem Werkstor von VW teil. Mehrere Tausend Arbeitsplätze
wären auch hier bedroht, wenn die Golfproduktion
abgezogen würde.
In
den vergangenen zehn Jahren haben schon 3000
Renault-Arbiter in Belgien ihre Jobs verloren.
General Motors (Opel) in Antwerpen baute seine
Belegschaft im gleichen Zeitraum um etwa 4000
Arbeiter ab.
Die
soziale Lage ist in ganz Belgien zurzeit sehr
angespannt. Am gestrigen Mittwoch streikten
1200 bis 1500 Arbeiter des Öffentlichen
Dienstes in Brüssel und demonstrierten
vor dem Finanzministerium Guy Vanhengels (VLD).
Die Beschäftigten vor allem der Sozialämter
und Krankenhäuser verlangen 20 Euro mehr
Lohn. Sie verdienen meistens weniger als 1000
Euro im Monat.
In
Antwerpen bestreikt die Gewerkschaft SIC (Syndicat
Indéependant pour Cheminots) den Hauptbahnhof.
Zwei von drei Zügen fahren seit heute Morgen
nicht mehr Die Bahnarbeiter protestieren gegen
neue Dienstpläne, die die SNCB (Belgische
Bahn) Mitte Dezember einführen will. Die
neuen Pläne sind für die Arbeiter
mit großen Verschlechterungen verbunden.
Es wird nicht ausgeschlossen dass andere Depots
sich solidarisch anschließen.
In
Nivelles droht die Schließung der französischen
Papierfabrik Arjo Wigins, 147 Stellen sind davon
betroffen. Bei Exxon Mobil gab es nach sechs
Tage Streik eine Versammlung, auf der beschlossen
wurde, die Arbeit wieder aufzunehmen. Aber das
Werk bleibt von ständigen Streikposten
blockiert. Rohstoffe werden nicht hineingelassen.
450 Arbeiter stehen dort im Arbeitskampf.
Fluglotsen
und Techniker haben gestern in Liège
und Charleroi (Wallonien) eine Stunde gestreikt,
um gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu protestieren.
Kraft Foods Belgien (1700 Arbeiter) will 93
Stellen abbauen und nach Frankreich und Deutschland
verlagern.
Angesicht
dieser vielfältigen sozialen Konflikte
sind Regierung, VW-Geschäftsleitung und
die Gewerkschaften sehr bemüht den Streik
bei VW unter Kontrolle zu halten, um zu verhindern,
dass er zum Funken für einen sozialen Flächenbrand
wird. |