Während
Israel Beirut und andere Ziele im Libanon unter
Beschuss nimmt, droht die andauernde Belagerung
des Gazastreifens die palästinensische
Demokratie zu ersticken. Mustafa Barghouti schreibt
aus Gaza und ruft zu internationalen Solidaritätsaktionen
für das palästinensische Volk auf.
Ich schreibe, nachdem ich zwanzig Tage in Gaza
verbracht habe, wo ich wahrscheinlich eine der
schlimmsten Formen kollektiver Bestrafung einer
ganzen Bevölkerung erlebt habe. Wir haben
gesehen, wie Israel die Infrastruktur zerstört
und eine Bevölkerung von 1,4 Millionen
Menschen einer schweren humanitären Krise
und schrecklicher Demütigung aussetzt.
Gleich zu Beginn ihrer Aktionen hat die israelische
Armee das einzige Elektrizitätswerk in
Gaza zerstört. Die Wasser- und Abwasserversorgung
konnten jeden Augenblick zusammenbrechen. Wir
sind extrem beunruhigt über die Möglichkeit
einer ernsten Krise des öffentlichen Gesundheitssystems.
Täglich bombardieren israelische Flugzeuge
den Gazastreifen. Zusätzlich fliegen israelische
F16-Kampfflugzeuge sehr niedrig und verursachen
so massiven psychologischen Stress, besonders
unter Kindern, aber auch bei Erwachsenen. Die
Belagerung ist vollständig und niemandem
wird erlaubt, aus Gaza heraus- oder dort hineinzukommen.
5000 Menschen sitzen am Übergang Rafah
fest, darunter viele Patienten, die außerhalb
des Gazastreifens behandelt wurden und nun nicht
mehr nach Hause können. Hunderte benötigen
dringend eine medizinische Behandlung außerhalb
und können nicht raus.
Das ist nur ein Schlaglicht auf die Situation.
Es geschieht nicht, weil die Palästinenser
einen israelischen Soldaten als Kriegsgefangenen
festgenommen haben. Das ist bloß ein Vorwand.
50 Tage vor dieser Gefangennahme hatte Israel
77 Luftangriffe geflogen und 4000 Bombenangriffe
mit Panzer und Artillerie durchgeführt,
was den Tod von 94 Palästinensern zur Folge
hatte, hauptsächlich Zivilpersonen und
vor allem Frauen und Kinder.
Aber Israel hat auch den demokratischen Prozess
in Palästina erstickt, indem es 27 Abgeordnete
und acht Minister der Regierung entführt
hat. Sie wurden vor Gericht gestellt, als ob
sie nicht einige Monate zuvor vor den Augen
Israels gewählt worden wären. Auf
einmal hat Israel entdeckt, dass es Akten mit
Strafverfahren gegen sie in der Hand hat.
Das alles deutet darauf hin, dass das israelische
Rechtssystem lediglich ein Instrument der israelischen
Besatzungsarmee und der israelischen Regierung
ist, um nach Belieben handeln zu können.
Der sog. Olmert-Plan zerstört die Vorstellung
von Verhandlungen und einer Zwei-Staaten-Lösung,
er verwandelt einen unabhängigen Palästinenserstaat
in gefängnisähnliche Einheiten. Die
Mauer, die gerade gebaut wird, wird viermal
so lang werden wie die Berliner Mauer und dreimal
so lang wie die wirkliche Grenze zwischen dem
Westjordanland und Israel. Das ist kein Friedensplan,
das ist ein Plan zur Annexion von nicht weniger
als 46% des Westjordanlands, einschließlich
ganz Ost-Jerusalems, des gesamten Jordantals
und aller Gebiete, auf denen jüdische Siedlungen
sind. Die Verbindung zwischen den Städten,
Dörfern und Gemeinden im Westjordanland
wird unterbrochen und zerstört.
Mit diesem Plan soll die von Israel in den besetzten
Gebieten geschaffene Apartheid gefestigt werden.
Der Angriff auf Gaza ist Israels Versuch, den
palästinensischen Widerstand gegen die
Besatzung und gegen Olmerts Plan zu brechen.
Diesen Versuch gab es ganz unabhängig von
der Gefangennahme eines israelischen Soldaten.
Der Angriff auf Gaza wurde seit den Wahlen in
den Palästinensergebieten vorbereitet,
seit Israel realisierte, dass es nicht mehr
möglich sein würde, den Palästinensern
Abkommen aufzuzwingen, ohne dass diese von den
gewählten Vertretern in Palästina
gebilligt werden.
Es ist wahrhaft schockierend zu sehen, dass
es keine internationale Verurteilung dieser
Verbrechen gibt und niemand eingreift, um die
elementare Verletzung von Menschenrechten und
des Völkerrechts zu stoppen. Dies hat Israel
in seiner Weigerung bestärkt, auf die Gefangennahme
des israelischen Soldaten im Gaza im Wege der
Diplomatie zu reagieren, ähnlich handelte
es, als zwei Soldaten im Libanon gefangen genommen
wurden.
Der israelische Soldat könnte sicher zu
seiner Familie zurückkehren, wenn Israel
der Freilassung einiger palästinensischer
Gefangener zustimmen würde. Natürlich
hat dieser Gefangene eine Familie und wir empfinden
mit ihr. Ich weiß, dass diese Familie
will, dass die israelische Regierung verhandelt.
Sie hat die Regierung dazu aufgefordert. Stattdessen
führt Israel Krieg.
Es gibt 10000 palästinensische politische
Gefangene in Israels Gefängnissen. Einige
von ihnen sind seit 28 Jahren im Gefängnis.
Darunter sind 450 Kinder und nicht weniger als
150 Frauen. Einige Frauen haben im Gefängnis
Kinder zur Welt gebracht und sind nun zusammen
mit ihren kleinen Kindern im Gefängnis.
Wenn ein Kind, das zusammen mit seiner Mutter
im Gefängnis ist, zwei Jahre alt wird,
wird es von seiner Mutter getrennt, statt dass
die Mutter freigelassen wird.
Zur schrecklichen Situation im Gazastreifen
kommen noch die israelischen Angriffe auf verschiedene
Städte im Westjordanland hinzu —
auf Jenin, Tulkarem, Ramallah, Jericho und viele
andere Gemeinden und Dörfer. Die Armee
— es ist die viertgrößte der
Welt — scheint in den besetzten Gebieten
ihre Waffen testen zu wollen. Sie greift eine
zivile Bevölkerung an, die keine Armee
hat, um sich zu verteidigen. Das kann man nur
als Kriegsverbrechen bezeichnen.
Nur einen Tag vor dem Angriff auf den Gazastreifen
einigten sich alle palästinensischen Gruppen
und politischen Fraktionen auf eine noch nie
da gewesene nationale Plattform. Bekannt als
das "Dokument der Gefangenen", akzeptiert
sie eine Zwei-Staaten-Lösung. Alle Gruppen,
einschließlich Hamas, würden sie
akzeptieren. Alle waren sich einig, sich hauptsächlich
auf einen nicht gewaltsamen Massenwiderstand
der Bevölkerung zu konzentrieren, das Völkerrecht
und die UNO-Charta als Grundlage für eine
Lösung des Konflikts zu akzeptieren und
eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden.
Dieses Dokument ist eine wirkliche palästinensische
Friedensinitiative, für einen Frieden mit
einem Minimum von Gerechtigkeit. Doch wie schon
1982 in Beirut im Libanon und im Jahr 2000 im
Westjordanland untergräbt Israel diese
Bemühungen durch die Eskalation des militärischen
Konflikts.
Israel genießt die Unterstützung
einer gewaltigen internationalen Lobby. Es wird
nicht gestoppt werden, wenn sich ihm nicht eine
internationale Solidaritätsbewegung entgegen
stellt, welche die Rechte der Palästinenser
und die Sache der Gerechtigkeit im Nahen Osten
unterstützt. Die internationale Linke muss
uns auf jede mögliche Weise helfen, die
Wahrheit über das, was in den palästinensischen
Gebieten geschieht, an die Weltöffentlichkeit
zu bringen. Es gibt eine starke Voreingenommenheit
in den internationalen Medien für die israelische
Darstellung der Ereignisse. Es ist absolut wesentlich,
dass die Wahrheit zu den Menschen gelangt. "Alles",
so sagt mein Freund Daniel Barenboim, "alles
beginnt mit Wissen."
Wir brauchen auch Aktionen zur Beendigung der
Besatzung. Dazu gehören auch Sanktionen
gegen das israelische militärische Establishment.
Es ist eine Schande, dass viele Länder,
die behaupten, die Menschenrechte oder die Demokratie
zu unterstützen, nun über dieses Massaker
an der palästinensischen Demokratie schweigen.
Es ist eine Schande, dass so viele Länder,
die behaupten, dass sie die Menschenrechte respektieren,
militärische Ausrüstung aus Israel
importieren.
Israel ist der viertgrößte Rüstungsexporteur
der Welt. Israels Einkommen besteht zu 20% aus
Rüstungsexporten und der Unterstützung
von Kriegen in verschiedenen Teilen der Welt.
Wir rufen auf zu möglichst vielen Aktionen
zur Unterstützung von Sanktionen und Boykottkampagnen
gegen die israelische Besatzung.
Das ist kein Konflikt zwischen zwei Armeen.
Es ist ein Kampf von Menschen, die seit fast
vierzig Jahren unter einer Besatzung leben,
der längsten in der modernen Geschichte.
Es ist ein Kampf von Menschen, die wie alle
nach Frieden und Sicherheit streben. Wir brauchen
eure Unterstützung.
Mustafa Barghouti ist Vorsitzender
der Partei "Unabhängiges Palästina".
Er unterlag Mahmud Abbas bei den Präsidentschaftswahlen
2005.
Übersetzung: Hans-Günter Mull
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