Vergangenen November
sprach Bill Weinberg mit Gilbert Achcar über
die Lage im Irak. Weinberg ist Aufnahmeleiter
bei Radio WBAI, einem freien Radio in New York.
Das Gespräch berührt alle wichtigen
Fragen, die sich heute im Zusammenhang mit dem
Widerstand im Irak stellen.
Von
vielen Seiten wurde der Irakkrieg mit dem Hinweis
kritisiert, er werde nur Chaos und Bürgerkrieg
bringen. Die Ironie der Geschichte will, dass
genau dies jetzt eintritt, aber für das
Weiße Haus ist es nur ein Argument, seine
Truppen im Irak zu belassen.
Das
ist wirklich eine Ironie der Geschichte dieses
Krieges. Als die Gegner des Krieges vorbrachten,
ein Einmarsch im Irak werde zu Chaos und einer
sehr gefährlichen Situation führen,
erklärten die Befürworter, der Krieg
werde ein Spaziergang werden, die US-Truppen
würden mit Blumen und Kamellen begrüßt
werden. Aber es ist eingetreten, was wir vorhergesagt
haben, für das irakische Volk ist das sehr
traurig und absolut tragisch. Dieselben Leute
erklären uns jetzt, die Truppen müssten
auf jeden Fall im Land bleiben, sonst werde
es Chaos geben.
Ich denke, wir können dieses Argument nicht
einfach umkehren. Wir können nicht erklären,
wenn die Besatzung beendet wird, wird im Irak
plötzlich das Paradies einkehren. Niemand
kann vorhersagen, was passiert, wenn die Besatzungstruppen
sich zurückziehen. Aber eins steht meines
Erachtens absolut außer Zweifel: Seit
Beginn der Besatzung hat sich die Lage im Land
nur verschlimmert. Deshalb gebietet die Logik,
den sofortigen Abzug der Besatzungstruppen aus
dem Irak zu fordern — in der Hoffnung,
dass die Iraker darin einen machtvollen Antrieb
finden werden, ihre Angelegenheiten geregelt
zu bekommen und wieder Grundlagen für eine
Koexistenz und den Wiederaufbau des Staates
zu finden. Anzeichen dafür gibt es. Wenn
wir bedenken, dass die Anhänger des Aufstands
hauptsächlich unter den arabischen Sunniten
zu finden sind und diese eine Minderheit der
Bevölkerung darstellen, denn die arabischen
Schiiten sind dreimal so viele und die Kurden
sind zwar zahlenmäßig so stark wie
die arabischen Sunniten, aber militärisch
wesentlich besser organisiert, dann denke ich,
wird die große Mehrheit der arabischen
Sunniten — abgesehen von einer winzigen
Minderheit von Verrückten — verstehen,
dass ein Kompromiss zwischen den drei Bevölkerungsteilen
auch in ihrem Interesse ist. Ein Bürgerkrieg
wäre für die arabischen Sunniten ein
Desaster, denn sie würden von den militärisch
starken Kurden und der Bevölkerungsmehrheit
der Schiiten in die Zange genommen.
Das
scheint sie aber nicht sehr zu beeindrucken,
zumindest jetzt noch nicht.
Das
stimmt. Das verhindert die Präsenz der
Besatzungstruppen, die macht jede unmittelbare
Konfrontation zwischen den drei Bevölkerungsteilen
unmöglich. Die Präsenz der Besatzungstruppen
verleiht aber andererseits zumindest den Widerstandsaktionen,
die von den verschiedenen bewaffneten Gruppen
im Irak geführt werden, eine Legitimation.
Die arabischen Sunniten halten den bewaffneten
Kampf natürlich für gerechtfertigt,
wobei man unterscheiden muss zwischen den Aktionen
gegen die Besatzungstruppen und Aktionen gegen
die Zivilbevölkerung, die einen sektiererischen
Charakter haben: Die Morde an Schiiten und an
Zivilisten werden auch von der Mehrheit der
arabischen Sunniten nicht gut geheißen.
Die meisten halten das für Verbrechen,
selbst die Vereinigung Muslimischer Gelehrter
macht immer einen Unterschied zwischen dem,
was sie den «ehrenwerten Widerstand»
nennt, der sich ausschließlich gegen die
Besatzungstruppen richtet, und dem, was sie
selbst als «Terrorismus» bezeichnet,
nämlich Aktionen gegen die Zivilbevölkerung
oder irakische Kollegen…
Die
Vereinigung Muslimischer Gelehrter, ist das
eine irakische Organisation?
Das
ist die einflussreichste Organisation unter
den arabischen Sunniten im Irak. Weil es zur
Zeit Saddams keine gut organisierte Opposition
unter den arabischen Sunniten geben konnte,
hat sich unter ihnen keine Führung für
die Zeit nach Saddam herausgebildet, wie das
bei den Schiiten und Kurden der Fall war. Aber
es gibt eine Reihe von Gruppen, und die Vereinigung
Muslimischer Gelehrter wird allgemein als die
einflussreichste von ihnen betrachtet.
Auch diese Organisation sagt: Wenn ein Termin
für den Abzug der Truppen festgelegt ist,
müssen alle bewaffneten Aktivitäten
eingestellt werden. Es gibt also eine reale
Grundlage für die Annahme, dass die verschiedenen
Bevölkerungsteile im Irak eine Formel der
Koexistenz finden werden, wenn die Besatzungstruppen
abziehen.
Der
Widerstand
Das
sind aber doch dieselben Gruppen, die jetzt
Aktionen gegen US-Truppen und gegen Zivilisten
unternehmen?
Nicht
in jedem Fall sind es dieselben. Es gibt viele
verschiedene Gruppen, die im Irak bewaffnete
Aktionen durchführen. Zu Beginn der Besatzung
war ihr Urheber oft die örtliche Bevölkerung.
Der Irak ist ein Land, in dem die Bevölkerung
allgemein Waffen trägt, das liegt an der
Stammestradition…
Das
war unter Saddam erlaubt?
Das
war auch unter Saddam erlaubt. Niemand hätte
gewagt, die Waffen gegen das Regime zu richten,
weil das Regime so brutal war und organisatorisch
um soviel überlegener, es wäre Selbstmord
gewesen. Aber das Regime hat nicht versucht,
der Bevölkerung die leichten persönlichen
Waffen zu nehmen, die sie traditionell in diesem
Teil der Welt trägt.
Reden
wir hier über Jagdgewehre oder Maschinengewehre?
Selbst
Maschinengewehre. Im Nahen Osten ist es nichts
Ungewöhnliches, bei jemandem zu Hause eine
Kalaschnikow zu finden. Das Tragen von Waffen
hat eine sehr alte Tradition und für jede
Regierung ist es schwer, das vollständig
zu unterbinden. Mit dem Zerfall des Regimes
zu Beginn der Invasion sind die Leute an alle
möglichen Waffen gekommen. Deshalb geht
man davon aus, dass zu Beginn viele bewaffnete
Widerstandsaktionen von örtlichen Bevölkerungsgruppen
durchgeführt wurden, selbst Einzeltäter
und kleine Zellen kommen in Frage — Leute,
die sich auf Grund ihrer Erfahrungen gegen die
Besatzung auflehnten.
Andererseits gab es ein aktives organisiertes
Netzwerk, nämlich den Rest des alten Regimes.
Nach den Erfahrungen mit dem Golfkrieg I (1991)
haben Saddam und seine Leute verstanden, dass
sie gegen die Militärmacht der USA keine
Chance haben würden. Deshalb haben sie
ein Netzwerk vorbereitet, das nach der Invasion
Widerstandsaktionen gegen die Besatzer führen
konnte. Sie schafften eine Menge Waffen, Sprengstoff
und Geld beiseite. So gab es schon am Anfang
Widerstandsaktionen von verschiedenen Gruppen,
mit der Zeit sind dann andere organisierte Netzwerke
hinzugekommen.
Große organisierte Netzwerke des bewaffneten
Kampfs unterhalten die Baathisten (die Anhänger
der Baath-Partei), diese stehen aber niemals
mit ihrem eigenen Namen für bewaffnete
Aktionen ein, es gibt nie ein Kommuniqué
von ihnen, das sagt: «Unsere Leute haben
dies und das getan.» Von den Baathisten
gibt es nur politische, keine militärischen
Kommuniqués, man nimmt an, dass sie sich
hinter islamischen Namen verbergen…
Warum?
Wird die Rolle der Baathisten im bewaffneten
Widerstand nicht überschätzt?
Warum
sie sich verstecken? Weil sie wissen, dass ihr
Name nicht sehr populär ist, wenigstens
ist das die Begründung, die man sich zusammenreimt.
Dass die Baathisten einen wichtigen Teil des
Widerstands darstellen, steht außer Frage.
Unklar ist nur, wie hoch unter ihnen der Anteil
derer ist, die noch loyal zu Saddam Hussein
stehen, und wie hoch der Anteil derer, die mit
ihm gebrochen haben. Daneben gibt es Al Qaeda
oder die Gruppe um Zarqawi, die Bin Laden «Al
Qaeda im Irak» genannt hat, und noch vier,
fünf andere größere Gruppen
mit islamischen Namen.
Was
wissen wir über sie?
Im
Allgemeinen spiegeln sie drei politische Grundströmungen
wider. Es gibt die islamischen Fundamentalisten,
die reichen von der extremistischen Gruppe um
Zarqawi bis zu den Gemäßigteren.
Es gibt die Nationalisten, die nicht Baath-Anhänger
sind, und es gibt die Baathisten. Leider gibt
es überhaupt keine fortschrittliche Gruppe
darunter — das ist das Ergebnis der historischen
Niederlage aller fortschrittlichen und linken
Strömungen im Nahen Osten; sie hat zu einem
Vakuum geführt, das jetzt von den Fundamentalisten
gefüllt wird. Das ist Teil der Tragödie
in diesem Teil der Welt.
Es lässt sich schwer unterscheiden zwischen
Gruppen, die ihre Aktionen nur gegen die Besatzungstruppen
richten, und solchen, die sich ausschließlich
gegen Schiiten wenden. Meistens geht beides
Hand in Hand und es werden zwei Kriege zugleich
geführt: der eine gegen die Besatzer, der
sich Befreiungskrieg nennt, der andere, der
ein Bürgerkrieg ist. Man kann die Auffassung
vertreten, dass der Befreiungskrieg legitim
ist, der Bürgerkrieg hingegen ein Verbrechen.
Einige Gruppen, die den bewaffneten Kampf führen,
sehen in den Schiiten aber Agenten des Iran
und setzen die US-Besatzung mit der «iranischen
Besatzung» gleich. Sie sehen ihren Kampf
als Fortsetzung des Krieges von Saddam Hussein
gegen den Iran. Dieser Krieg ist jedoch absolut
reaktionär. Er enthält keinerlei befreiende
Dimension.
Die nationalistische und nichtbaathistische
Komponente des Widerstands ist nicht groß,
sie speist sich hauptsächlich aus spontanen,
lokalen Aktionen der Bevölkerung, die die
Nase voll haben von der Besatzung und wie die
US-Truppen die Bevölkerung behandeln, wie
sie die Häuser durchkämmen und das
alles. Das drängt die Menschen, zu den
Waffen zu greifen und die US-Soldaten anzugreifen,
auch ohne dass sie sich zu einer Ideologie wie
dem islamischen Fundamentalismus oder dem Baathismus
bekennen. Dahinter steht keine größere
organisatorische Kraft — leider, möchte
ich sagen, denn das wäre besser als die
beiden anderen Strömungen, die Baathisten
und die islamischen Fundamentalisten. Das sind
leider die einzigen, die gut organisiert sind.
Am
meisten hört man von einer Gruppe, die
sich «Al Qaeda in Mesopotamien»
nennt. Die anderen haben alle Namen wie «Armee
Mohammeds» oder so ähnlich. Was weiß
man von denen?
Das
ist schwierig. Man findet schiitische Hinweise,
dass diese oder jene Gruppe baathistisch sei.
Ein wichtiger Indikator war das Referendum vom
15.Oktober über die Verfassung. Anders
als bei den Parlamentswahlen im Januar 2005
hatten die arabischen Sunniten am Referendum
teilgenommen — sie haben zwar aufgerufen,
mit «Nichtteilnahme» zu stimmen,
aber sie haben sich doch wenigstens an der Wahl
beteiligt. Am Tag der Volksabstimmung gab es
nur wenig Gewaltakte. Die irakische Regierung
und Washington haben das auf ihr Konto verbucht,
aber das ist Blödsinn, in Wirklichkeit
haben vier der fünf größeren
bewaffneten Netzwerke für diesen Tag einen
Waffenstillstand ausgerufen, weil sie die Bevölkerung
aufgerufen haben, an der Abstimmung teilzunehmen
und «Nichtteilnahme» anzukreuzen.
Das war neu. Ich denke, das hat die Haltung
aller anderen beeinflusst, selbst der Gruppe
um Zarqawi, die vehement gegen jede Teilnahme
an Wahlen ist, gleich ob sie unter der Besatzung
stattfindet oder nicht — auch sie hat
am Tag der Wahl keine Aktionen durchgeführt.
Die Baathisten auch nicht, obwohl sie zum Wahlboykott
aufgerufen hatten. Die empfanden die Wahlen
als etwas, was sich gegen ihr Bestreben richtet,
an die Macht zurückzukehren. Das ist aber
ein verrückter Traum, ihre Macht ist gebrochen.
In einem offenen Bürgerkrieg könnten
sie es militärisch mit den Kurden und den
Schiiten nicht aufnehmen, letztere würden
außerdem noch vom Iran unterstützt.
Die fünfte Gruppe, die sich nicht geäußert
hatte, ist Ansar Sunna, «Partisanen der
Sunni». Sie hat mehrere antischiitische
Operationen für sich reklamiert. Politisch
ist sie schwer einzuordnen, aber an der Haltung
zu den Wahlen sieht man, dass es zwischen den
bewaffneten Gruppen Differenzen gibt. Deshalb
sage ich, wenn die Besatzung im Irak aufhört,
besteht begründete Hoffnung, dass sich
eine politische Lösung anbahnen kann und
die antischiitischen Kräfte allmählich
isoliert werden. Solange die Besatzung jedoch
anhält, können bewaffnete Gruppen
arabischer Sunniten ihre Angriffe gegen Schiiten
hinter Angriffen gegen Besatzer verstecken.
Irak
dreigeteilt?
Viele
Menschen fürchten, dass ein Rückzug
der USA eine Dreiteilung des Landes in drei
Ministaaten nach sich ziehen würde: ein
schiitisch-iranisches Protektorat im Süden,
ein Kurdenstaat im Norden und ein extrem repressives
sunnitisches Talibanregime in der Mitte. Und
dass dies ausländische Interventionen anziehen
würde: z.B. der Türken im Norden,
um einen unabhängigen Kurdenstaat zu verhindern.
Die
Besatzung verhindert das alles nicht, im Gegenteil.
Es war Washingtons Politik des «Teile
und herrsche», die von Beginn an die Konflikte
zwischen den großen Bevölkerungsgruppen
im Irak geschürt hat. Trotz aller Bemühungen
hat der US-Botschafter im Irak, Zalmay Khalizad,
die Schiiten nicht überreden können,
ihre Forderung fallen zu lassen, dass eine Klausel
in die Verfassung aufgenommen wird, wonach irakische
Provinzen, die das per Mehrheitsabstimmung wollen,
ihre Autonomie erklären können.
Die
USA waren dagegen?
Nun,
sie konnten nicht offen dagegen auftreten. Aber
sie waren damit nicht glücklich. Denn aus
der Sicht Washingtons ist eine autonome Schiitenregion
im Süden, wo die größten Ölvorkommen
lagern, nichts weiter als eine Plattform für
die Ausweitung des iranischen Einflusses. Das
betrachten die USA als einen Angriff gegen ihre
Interessen in der Region. Angenommen, die Schiiten
würden die Klausel in Realität umsetzen.
Glauben Sie, Washington würde seine Truppen
dagegen mobilisieren? Das ist unmöglich.
Es ist also wenig überzeugend zu sagen,
die Präsenz der US-Truppen würde ein
Auseinanderfallen des Landes verhindern. Nur
das Bewusstsein, dass ein solcher Schritt für
jede der beteiligten Seiten sehr teuer würde,
kann ihn verhindern. Niemand kann ein Interesse
daran haben.
Die Kurden hätten am ehesten ein Recht
auf einen unabhängigen Staat, wenn sie
ihn wollen. Denn sie sind eine eigene Nation,
und wie jeder Nation muss ihnen das Recht auf
Selbstbestimmung zustehen — nicht nur
im irakischen Teil Kurdistans, auch im türkischen,
iranischen oder syrischen. Die Kurden hatten
ein Referendum darüber in Kurdistan, das
fast einstimmig zugunsten der Unabhängigkeit
ausgegangen ist. Die kurdische Führung
weiß, dass ihre Wählerinnen und Wähler
die Unabhängigkeit sehr wünschen und
sind gar nicht glücklich darüber,
dass die Verfassung den Kurden das Recht auf
Selbstbestimmung nicht zugesteht. Trotzdem sagt
sie ihnen immer wieder: Habt Geduld, der Tag
der Unabhängigkeit, proklamierten Unabhängigkeit
(denn faktisch agiert Kurdistan seit 1991 wie
ein unabhängiger Staat) wird kommen. Aber
jetzt sind die Bedingungen noch nicht reif.
Die türkische Bedrohung ist real. Von der
Formalisierung ihrer Unabhängigkeit hätten
die Kurden mehr zu verlieren als zu gewinnen.
Was die Schiiten und die Sunniten betrifft,
wird oft ein verzerrtes Bild der Verhältnisse
gezeichnet. Es gibt kein Land der Schiiten und
Land der Sunniten, es gibt Provinzen mit einer
sunnitischen und einer schiitischen Bevölkerungsmehrheit,
daneben gibt es sehr gemischte Provinzen, selbst
einzelne Stämme sind von beiden Religionen
durchzogen, es gibt viel Durchmischung zwischen
beiden Gemeinden. In Bagdad sind sie alle da.
Außerdem wissen die Schiiten, sollten
sie sich abspalten, gäbe das nicht nur
einen sehr blutigen Bürgerkrieg, sie hätten
auch die arabischen Nachbarländer gegen
sich. Meines Erachtens wissen die Schiiten auch,
dass sie sich mit einer Teilung des Landes ausschließlich
vom Iran abhängig machen. Die arabischen
Schiiten aber haben ihren eigenen Stolz und
wollen vom Iran nicht abhängig sein —
auch wenn einige Leute das behaupten.
Mindestens
eine Fraktion der Schiiten neigt sehr zum Iran,
nämlich der Oberste Rat der Islamischen
Revolution.
Der
Rat hat sehr enge Beziehungen zum Iran, aber
er ist kein «Agent» des Iran. Das
ist nicht dieselbe Beziehung wie zwischen den
Kommunistischen Parteien und der Sowjetunion.
Die arabischen Schiiten sind stolz, zu der Nation
zu gehören, die den Propheten des Islam
und Ali als ihren wichtigsten religiösen
Bezugspunkt hervorgebracht hat.
Es
gibt eine Verschwörungstheorie, die sagt,
das oberste Ziel der Neokonservativen in Washington
sei die Teilung des Irak.
Das
war ihr Plan B. Auch der Plan B der Freunde
Sharons in Israel, die über den Zerfall
des Irak und selbst über einen Bürgerkrieg
nicht traurig wären, so wie Washington
es acht Jahre lang genossen hat, wie sich der
Iran und der Irak gegenseitig bekämpften.
Die Neokonservativen waren bei der Planung und
Durchführung der Invasion und in der ersten
Zeit nach der Invasion sehr einflussreich —
aber nur in den ersten sieben Monaten. Das Ergebnis
ihrer Politik war aber ein solches Desaster
und alle ihre Planungen erwiesen sich als so
haltlos, dass die Bush-Regierung einen Kurswechsel
vornehmen musste. Das State Departement und
die CIA verfolgen andere Ziele als das Pentagon.
Das
Pentagon war mehr auf der Linie der Neokonservativen?
Ja,
der Rücktritt von Paul Wolfowitz von seinem
Posten als stellvertretender Verteidigungsminister
ist ein Anzeichen für den Kurswechsel.
Im Irak selbst kam er im Konflikt zwischen Paul
Bremer (Chef der Besatzungsbehörde bis
zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit
des Irak im Juni 2004) und Ahmad Chalabi zum
Ausdruck, Washingtons Handlanger im Irak, als
die Neokonservativen noch den Ton in der Irakpolitik
angaben. Die Neokonservativen und Chalabi wollten
die vollständige Demontage des alten Staatsapparats
und einen völlig neuen Staat aus dem Boden
stampfen, einen neutralen Staat mit einer kleinen
Armee, eine Art arabische Schweiz, die freundschaftliche
Beziehungen zu Israel haben sollte. Völlig
verrückt…
Das
war Plan A der Neokonservativen, und ihr Plan
B war die Teilung des Irak?
Ja.
Aber Plan B entspricht nicht den grundlegenden
imperialen Hegemonieinteressen der USA. Er würde
zuviel aufs Spiel setzen. Als autonomer Staat
wären die Schiiten viel eher ein Verbündeter
des Iran als ein Verbündeter Washingtons;
das würde die gesamte Region destabilisieren
und außerdem Sezessionstendenzen in anderen
Gebieten befördern, z.B. die Abspaltung
der schiitischen Provinz in Saudi-Arabien (besser
gesagt: vom saudischen Königreich, Saudi
ist der Name der Dynastie, nicht des Landes).
Auch hier sitzen die Schiiten auf dem Öl.
Für Washington wäre das ein Alptraum.
Und
dann gibt es noch die Drohung mit der türkischen
Intervention.
Ja,
und es hätte unabsehbare Folgen für
den Ölmarkt.
Was
bleibt von der irakischen Linken?
Mit
welchen Kräften können wir solidarisch
sein? Zeichnet sich irgendeine fortschrittliche,
säkulare Alternative ab?
In
der gesamten Region sind derzeit linke, fortschrittliche,
emanzipatorische Kräfte randständig,
wegen der historischen Niederlage, von der ich
gesprochen habe. Die einflussreichsten Kräfte
in der Massenbewegung sind islamistische Fundamentalisten.
Irak ist ein Land, in dem es eine sehr starke
Kommunistische Partei mit einer Tradition im
Aufbau einer Arbeiterbewegung gegeben hat. Man
hätte sich deshalb gewünscht, dass
deswegen wenigstens eine fortschrittliche Strömung
überlebt, aber die KP hat sich entschlossen,
der Übergangsregierung unter Paul Bremer
beizutreten und dadurch jede Glaubwürdigkeit
als antiimperialistische Kraft eingebüßt
— obwohl sie gegen den Krieg gewesen war.
Bei den Wahlen im Januar hat sie sehr schlecht
abgeschnitten, weniger als 1% der Stimmen, trotz
eines sehr dynamischen Wahlkampfs. Diese Partei
konnte in den 50er Jahren einmal über eine
Million Menschen auf die Straße bringen!
— es ist ein Desaster. Bei den Parlamentswahlen
im Dezember kandidierte sie auf der Liste von
Allawi!
Es gibt eine weitere linke Organisation namens
Arbeiterkommunistische Partei Irak, die ihre
Wurzeln in einer kurdischen Gruppe mit Namen
Komala hat, die operierte sowohl im Irak wie
im Iran. Unter der Diktatur arbeitete sie vorwiegend
in Kurdistan, als Kurdistan nach 1991 eine autonome
Region wurde, hatte sie hier ihre Hochburg.
Mit den bürgerlichen kurdischen Führern
legte sie sich an. Nach dem Sturz Saddams breitete
sie sich in anderen Landesteilen aus, hauptsächlich
in Bagdad, doch ihre wesentliche Anhängerschaft
ist nach wie vor kurdisch. Ihre Linie ist heftig
antiislamisch — nicht nur gegen den islamischen
Fundamentalismus gerichtet. Sie erscheint deshalb
als antireligiöse Gruppe. Sie benutzt Redewendungen,
die für jeden gläubigen Muslim eine
Provokation sein müssen. Sie weist auch
jeden Nationalismus zurück, nicht nur den
arabischen Nationalismus aus kurdischer Sicht,
auch den kurdischen Nationalismus.
Derzeit
orientiert sie sich an einem iranischen Denker,
Hekmat Mansoor?
Ja,
wie gesagt, sie kommt ursprünglich aus
den beiden Teilen Kurdistans, und als sie zwei
kommunistische Parteien bildete, beschloss sie
nicht länger nur als kurdische Gruppen
zu agieren, sondern als eine iranische und eine
irakische Gruppe, die sich an die gesamte Bevölkerung
des jeweiligen Staates wendet. Ich finde, sie
geht mit bestimmten Fragen eher sektiererisch
um. Aber sie organisiert auch Frauen und Gewerkschafter.
Wenn man sich die politische Landschaft im Irak
anschaut, ist diese Gruppe viel fortschrittlicher
als das meiste, was es sonst noch so gibt.
Die
Erdölarbeiter
Wichtig
wäre, die Gewerkschaft der Erdöl-
und Erdgasarbeiter in Basra zu unterstützen.
Es ist viel einfacher, für sie Solidarität
zu organisieren als für eine radikale politische
Organisation. Es handelt sich um eine wirkliche,
unabhängige Gewerkschaft, nicht um eine
Vorfeldorganisation einer Partei. In ihren Reihen
gibt es Menschen aus allen möglichen Strömungen,
Unterstützer schiitischer Parteien, Überreste
aus der kommunistischen Tradition u.a. Und sie
besetzen eine sehr sensible Position, weil die
Ölindustrie die Haupteinkommensquelle des
Irak ist und natürlich auch das wichtigste
Beschäftigungsfeld. Sie kämpfen derzeit
gegen die drohende Privatisierung und verdienen
starke Unterstützung.
Hat
es die Gewerkschaft unter Saddam schon gegeben?
Oder erst später?
Erst
nach seinem Sturz. Alles was es im Irak einmal
an unabhängiger Arbeiterbewegung gegeben
hat, ist von der Baath-Partei blutig zerschlagen
worden, und das noch bevor Saddam an die Macht
gekommen ist. Und jedesmal, wenn es den Versuch
gab, einen Streik oder ähnliches zu organisieren,
sind die Schläger der Baath-Partei gekommen
und haben die Arbeiter mit Maschinengewehren
niedergemacht.
Wenn
ich es recht verstehe, gibt es im Irak jetzt
drei Gewerkschaften: Die Gewerkschaft der Erdölarbeiter
in Basra, die Föderation der Arbeiterräte
und Gewerkschaften, die der Arbeiterkommunistischen
Partei nahe zu stehen scheint, und die Irakische
Föderation der Gewerkschaften, von der
es heißt, dass sie mit dem neuen Regime
zusammen arbeitet.
Diese
dritte Gewerkschaft wird von der KP geführt,
sogar Allawi hat ein paar Leute in der Führung,
aber die wirklichen Organisatoren sind KP-Mitglieder.
Ich denke, das ist eine wirkliche Gewerkschaft,
das kann man nicht von den politischen Positionen
der Partei abhängig machen, die sie führt.
Das muss man danach beurteilen, was sie für
die Arbeiter tut. Ich denke, man soll alle Kämpfe
unterstützen, gleich wo sie stattfinden
und wer sie führt. Zumindest hoffe ich,
dass das Land einmal in die Lage kommt, wirkliche
soziale Kämpfe zu führen statt einem
Bürgerkrieg…
GUOE Gewerkschaftsakivisten
Hoffnung
auf die US-Friedensbewegung
Welche
Perspektiven gibt es denn?
Das
wichtigste ist der Aufbau einer starken Antikriegsbewegung
in den USA. Die USA kommen im Irak in eine immer
schwierigere Lage. Das vor uns liegende Jahr
wird für sie sehr schwer werden. Die Vereinigte
Irakische Allianz (Schiiten) hat ihre Forderung
nach einem Zeitplan für den Abzug der US-
Truppen erneut bekräftigt — diese
Forderung hatte sie vorübergehend beiseite
geschoben, als sie in Verhandlungen mit der
kurdischen Demokratischen Allianz zur Bildung
einer Regierung stand. Die Forderung stellt
bereits einen Kompromiss dar, weil die Anhänger
von al-Sadr, die Teil der schiitischen Allianz
sind und jetzt auch in der Regierung sitzen,
sie vehement ablehnen. Unter den Abgeordneten
der Nationalversammlung haben sie über
120 Unterschriften unter die Forderung gesammelt,
dass es die irakische Regierung sein soll, die
einen Zeitplan für den Truppenabzug aufstellt.
Die Anhänger al-Sadrs werden in der Sache
eher noch aktiver werden. Ich erinnere nur daran,
dass es am 9.April vergangenen Jahres in Bagdad
eine riesige Demonstration gegen die Besatzung
gegeben hat, bei der Marionetten mit den Gesichtern
von Bush, Blair — und Saddam Hussein verbrannt
wurden.
Ist
der Oberste Rat der Islamischen Revolution auch
Teil der schiitischen Allianz?
Er
ist sogar die stärkste Kraft darin. Die
Allianz besteht im wesentlichen aus dem Obersten
Rat, den Anhängern al-Sadrs und anderen
Gruppen wie die Dawa Partei. Die ersten beiden
sind jedoch am stärksten und sie verfügen
beide über eigene Milizen.
Sie
waren doch Gegner. Haben sie sich versöhnt?
Sie
sind immer noch Rivalen. Aber sie sehen auch,
dass es nicht in ihrem Interesse ist, ihre Wählerschaft
zu spalten, dass sie eine Einigung finden müssen.
Derzeit eint sie mehr als sie spaltet. Beide
sind islamische Fundamentalisten, beide sind
schiitische Organisationen. Al-Sadr hat eine
radikalere Haltung gegen die Besatzung, aber
der Oberste Rat hat zur US-Präsenz nur
ein taktisches Verhältnis: Er hat die USA
benutzt, um den Erzfeind Saddam zu stürzen,
und jetzt nutzt er die Präsenz der US-Truppen,
um seine Macht aufzubauen, um einen irakischen
Staat unter seiner Kontrolle aufzubauen, bis
er sie nicht mehr braucht, und dann wird er
die Besatzer auffordern, das Land zu verlassen.
In den Parlamentswahlen vom Dezember hat Washington
Allawi unterstützt in der Hoffnung, dass
er mit einer größeren Fraktion ins
Parlament einziehen würde, so stark, dass
er zusammen mit den Kurden eine Vetomacht hätte.
[Allawis Liste konnte aber nur etwa 8% der Stimmen
auf sich vereinigen, gegenüber den Parlamentswahlen
im Januar 2005 ist er damit um fast 5% zurückgefallen.
Bis heute liegt uns das offizielle Wahlergebnis
nicht vor.]
Die Luft wird jetzt dünner für die
USA. Und bei der Regierung, die in Washington
sitzt, müssen wir uns auf das Schlimmste
gefasst machen, sie kann auf eine sehr bösartige
und gewalttätige Weise reagieren…
Wir haben gesehen, wie sie Konflikte in der
Region anheizt, die Drohungen gegen den Iran,
gegen die Hizbollah im Libanon, gegen das Regime
in Syrien. Sie weiss genau, dass die schiitische
Allianz in Bagdad von Kräften geführt
wird, die mit dem Iran nicht nur die Religion,
sondern auch die Gegnerschaft gegen die US-Präsenz
im Irak teilen.
Washington hat für diesen Krieg einen hohen
Preis gezahlt — an Menschenleben ebenso
wie wirtschaftlich. Sich jetzt aus dem Irak
zurückzuziehen und alles zu verlieren,
wäre für sie eine ungeheure Niederlage
strategischen Ausmaßes. Diese Regierung
kann also durchaus versucht sein, bei Hindernissen,
die sich ihr in den Weg stellen, wild um sich
zu schlagen…
Was
heißt das?
Alles
ist möglich. Militäraktionen gegen
den Iran, Militäreinsätze selbst gegen
die Schiiten, wenn die ihren Standpunkt radikalisieren.
Es kann im Irak noch ein viel größeres
Blutbad geben als das, was wir bisher gesehen
haben. Deshalb ist die Friedensbewegung in den
USA so wichtig. Ich möchte hier nur auf
das Beispiel Vietnam verweisen. Als Washington
große Schwierigkeiten mit dem vietnamesischen
Widerstand bekam, war es eine Zeitlang versucht,
Atomwaffen einzusetzen. Die Regierung gab bei
der CIA eine Studie in Auftrag, wohin das führen
würde. Das wichtigste Argument, das die
Regierung damals davon abhielt, war —
soweit man heute aus den Archiven ersehen kann
— dass die Bevölkerung in den USA
das nicht akzeptiert hätte.
Die Antikriegsbewegung in den USA und die Antikriegsstimmung,
die sich damals aufgebaut hat, waren maßgeblich
dafür, dass in Vietnam das Schlimmste verhindert
werden konnte: der Einsatz von Atomwaffen oder
auch Nixons Drohung, Nordvietnam durch die Zerstörung
der Deiche unter Wasser zu setzen. Es ist deshalb
sehr ermutigend zu sehen, dass die Umfragen
einen radikalen Stimmungsumschwung in den USA
ergeben, aber das reicht nicht. Das muss in
eine mächtige, vor Ort verwurzelte, unabhängige
Bewegung übersetzt werden, die starken
Druck ausübt.
Übersetzung: Angela Klein
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