Nach
Meinung der nordamerikanischen Medien war es
die Gewalt der Hizbollah, welche die israelische
Antwort provoziert hat. Sind Sie damit einverstanden?
Die
militärische Operation der Hizbollah war,
wie ihrer Führer Hassan Nasrallah erklärt
hat, von langer Hand vorbereitet und mit den
Verbündeten abgestimmt. Aber auch die israelische
Militäroffensive war, wie die israelische
Presse enthüllt hat, von langer Hand geplant.
Ihr Ziel ist die Zerstörung der Infrastruktur
des Libanon. Sie will mit Gewalt die UN-Resolution
1559 durchsetzen, die der Sicherheitsrat 2004
verabschiedet hat: d.h. den Rückzug der
syrischen Truppen aus dem Libanon, die Entwaffnung
der Hizbollah und der palästinensischen
Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern.
Wenn Israel erklärt, es fordere die vollständige
Anwendung der Resolution 1559, ist das unerhört
unverfroren: Bald vierzig Jahre wartet man darauf,
dass Israel die Resolution 242 umsetzt, die
seinen Rückzug hinter die Grenzen vom Juni
1967 fordert.
Die USA und Israel sind besessen von der Vorstellung
eines Hauptfeindes. Früher war dies die
Sowjetunion, heute ist es der Iran und das starke
regionale Bündnis, das ihn unterstützt:
von den Schiiten im Irak über das syrische
Regime (ein zweitrangiger Feind und für
Israel das kleinere Übel, denn andernfalls
hätte es Chaos an seinen Grenzen) bis zur
Hizbollah (die der iranischen Ideologie nahesteht)
und zur Hamas (eine sunnitische Organisation).
Diese Allianz dient dem Iran dazu, gegen die
USA und Israel eine gesamtislamische Front in
Stellung zu bringen, die nicht nur eine schiitische
Allianz ist.
Um die öffentliche Meinung gegen Hamas
und Hizbollah aufzubringen, setzen die den USA
ergebensten Regime wie Saudi-Arabien, Jordanien
und Ägypten auf die Karte des Konfessionalismus.
Sie spielen auf der Klaviatur des sunnitisch-schiitischen
Antagonismus und behaupten, der Iran wolle die
Araber in einen Krieg verwickeln will, der sie
nichts angehe. Heute heißen die Helden
der öffentlichen Meinung jedoch Hamas und
Hizbollah — die Mehrzahl ist angewidert
vom fehlenden Zusammenhalt der arabischen Länder.
Nasrallah ist mit Sicherheit populärer
als Bin Laden: dem hat seine radikale Feindschaft
gegen den Westen einen gewissen Kredit eingebracht,
aber mit seinen im wahrsten Sinne des Wortes
terroristischen Aktionen hat er die Mehrheit
der Öffentlichkeit abgestoßen. Mit
dem Begriff Terrorismus, der fast zu einer metaphysischen
Kategorie geworden ist, werden mittlerweile
ja fast alle Formen bewaffneter Opposition bezeichnet:
von Bin Laden bis zum Widerstand gegen die Besatzung,
manchmal sogar Formen radikaler Opposition im
Westen.
Sie
dagegen verwenden den Begriff der asymmetrischen
Barbarei. Was ist damit gemeint?
Der Terrorismus der Mächtigen und der der
Opfer sind beide barbarisch. Sie haben jedoch
verschiedene Ursachen, Verantwortlichkeiten
und Folgen, deshalb können sie nicht auf
dieselbe Stufe gestellt werden. Die Selbstmordanschläge
der Hamas — die jetzt unterbrochen wurden
— sind eine Kleinigkeit im Verhältnis
zur Gewalt durch die israelische Unterdrückung:
beim letzten Konflikt war die Zahl der Toten
auf palästinensischer und libanesischer
Seite mehr als zehnmal größer als
auf israelischer Seite. Dabei werden im Libanon
nur die Toten gezählt, die man feststellen
kann, wer weiß, wie viele noch unter den
Trümmern der zerstörten Wohnhäuser
liegen. Über 90% der Opfer der israelischen
Gewalt sind Zivilpersonen, nicht Kombattanten
oder Aktivisten. Die Gefangennahme eines israelischen
Soldaten durch Palästinenser hat zum Sturm
auf Gaza geführt, aber Israel hält
über 10000 palästinensische Gefangene
fest. Zum größten Teil handelt es
sich um Zivilpersonen, die auf dem Territorium
entführt wurden, das Israel seit 1967 illegal
und völkerrechtswidrig besetzt hält.
Man darf der Heuchelei des herrschenden westlichen
Diskurses nicht auf den Leim gehen.
Wie
sind dann die von Hamas gegen Zivilpersonen
gerichteten Aktionen zu bewerten?
In
manchen Teilen der Welt kann man nicht neutral
bleiben, Vorrang hat der Kampf gegen Besatzung
und Krieg. Und es gibt einen Unterschied in
der Methode zwischen Organisationen wie der
von Bin Laden und solchen wie Hamas und Hizbollah:
Jener glaubt, dass ein bewaffnetes Netzwerk,
das an die Stelle von Massenkämpfen tritt,
den Imperialismus mit Terror zurückdrängen
kann, letztere aber sind Massenorganisationen,
die erst in zweiter Linie zu bestimmten bewaffneten
Aktionen übergehen, sie weisen ähnliche
Strukturen auf wie die großen Parteien
und unterhalten gesellschaftliche Organisationen,
die an die Stelle der staatlichen treten. Ihre
Weltsicht ist im Wesentlichen ähnlich,
religiös und fundamentalistisch. Man darf
sie deshalb nicht rot anstreichen und als Verbündete
derer betrachten, die für eine fortschrittliche
Alternative kämpfen.
Vom Irak bis Palästina ist es dieselbe
Tragödie: das gänzliche Fehlen glaubwürdiger
progressiver Kräfte. Die Hegemonie über
die Kämpfe der Massen haben fundamentalistische
Strömungen. Im Irak führen sie einen
legitimen Kampf gegen die Besatzer, aber zugleich
auch einen ganz und gar nicht legitimen Krieg
gegen die Schiiten und gegen das, was sie die
iranische Besatzung nennen — das ist eine
reaktionäre und konfessionelle Vorstellung.
Aber Hunderttausende, die mehrfach gegen die
Besatzung auf die Straße gegangen sind,
haben gezeigt, dass man eine oppositionelle
Massenbewegung aufbauen kann, die sogar wirksamer
ist als der militärische Widerstand, der
per definitionem die Bevölkerung zu einer
gewissen Passivität nötigt.
Der islamische Fundamentalismus dominiert heute
in nahezu der gesamten muslimischen Welt. Ich
sehe darin einen Ausdruck des sozialen und politischen
Protests. Er ist so stark, dass es kaum Platz
für die Entwicklung einer anderen Alternative
gibt. Das ist ein Teil der Welt, in dem es keine
organisierte Arbeiterbewegung gibt — sie
wurde von despotischen rechten Regierungen zerstört
oder von nationalistischen Diktaturen unterdrückt,
die ihre autonome Entwicklung verhindert haben.
Darüber hinaus hat der Imperialismus den
islamischen Fundamentalismus als Waffe im Kampf
gegen den progressiven Nationalismus und gegen
die UdSSR eingesetzt. Diese Sachlage wird sich
erst ändern, wenn der islamische Fundamentalismus
sich als unfähig erweist, mit den bestehenden
Problemen fertig zu werden — wie es beim
arabischen Nationalismus Ende der 60er und Anfang
der 70er Jahre der Fall war.
Eine
andere Bedingung aber ist, dass ein neues linkes
Projekt entsteht, das in den Augen der Bevölkerung
glaubwürdig ist. Der islamische Fundamentalismus
wird von manchen als Islamofaschismus definiert.
Sind Sie mit dieser Bezeichnung einverstanden?
Ich
bezeichne sie als weder faschistisch noch fortschrittlich.
Einige Randströmungen des Fundamentalismus
weisen gemeinsame Züge mit dem Faschismus
auf, wie er in Europa zwischen den beiden Weltkriegen
aufgekommen ist — dessen soziale Basis
wurde zum Teil vom Kleinbürgertum gebildet
und hatte vor allem einen im engeren Sinne reaktionären
Charakter, d.h. den festen Willen — wie
Marx es ausgedrückt hat —, das Rad
der Geschichte zurückzudrehen.
Darüber hinaus gibt es jedoch wichtige
Unterschiede. In der ersten Hälfte des
20.Jahrhunderts war der Faschismus ein vom Großkapital
gegen die Arbeiterbewegung benutztes Instrument,
während es im größten Teil der
Länder, in denen sich der islamische Fundamentalismus
entwickelt, leider keine kämpfende Arbeiterbewegung
gibt. Der islamische Fundamentalismus ist der
fehlgeleitete Ausdruck des Unmuts der Masse
der Bevölkerung über die imperialistische
Fremdherrschaft, über den lokalen Despotismus
und auch über ihre wirtschaftliche Lage.
Sieht man in Hamas und Hizbollah jedoch faschistische
Organisationen, kommt man zu der Art von Reaktion,
wie sie Israel und die USA vertreten —
die allerdings erst erklären müssten,
warum sie nie denselben Maßstab an Pinochet
in Chile angelegt haben oder heute an Saudi-Arabien
anlegen — dieses Regime ist reaktionärer
als das im Iran. Wir haben es jedoch mit etwas
anderem zu tun: mit dem Zorn der Massen, die
in einer unerträglichen Lage leben. Statt
die libanesische oder palästinensische
Bevölkerung zu bombardieren müssen
die Ursachen für diesen Zorn ausgeräumt
werden.
Glauben
Sie, dass die Entsendung von UNO-Truppen die
libanesische Krise lösen wird?