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Das sinkende Schiff des US-Imperiums

Gilbert Achcar, 6. August 2006

Erscheint in Inprekorr, September/Oktober 2006

Gilbert Achcar ist im Libanon aufgewachsen und lehrt Politikwissenschaft an der Universität Paris VIII. Sein bekanntestes Buch The Clash of Barbarisms (Der Schock der Barbarei, Neuer ISP-Verlag) ist soeben auf Englisch in zweiter, erweiterter Auflage erschienen. Ein Buch mit seinen Dialogen mit Noam Chomsky über den Nahen Osten, Perilous Power, erscheint demnächst.

 

"Die Niederlage der Hezbollah wäre für den Iran psychologisch wie strategisch ein großer Verlust. Er würde seine Stütze im Libanon verlieren, sein wichtigstes Mittel, um den Nahen Osten zu destabilisieren und in die Region vorzudringen. Es würde offensichtlich, dass er im Versuch, sich als regionale Supermacht zu etablieren, weit über das Ziel hinausgeschossen hat. Die Vereinigten Staaten haben viel aufs Spiel gesetzt, um Israel siegen und all dies geschehen zu lassen. Sie haben auf die Fähigkeit Israels gesetzt, den Job zu erledigen. Sie wurden enttäuscht. Regierungschef Ehud Olmert hat sich als unbeständige, unsichere Führungspersönlichkeit erwiesen … Sein Versuch, einen billigen Sieg zu erringen, hat nicht nur die Operation im Libanon gefährdet, sondern auch Amerikas Vertrauen in Israel erschüttert."

Charles Krauthammer, Washington Post, 4. August 2006

"Doch die Regierung muss nun zugeben, was alle einschließlich mir selbst, die daran geglaubt haben, wie wichtig es ist im Irak erfolgreich zu sein, zugeben müssen: Sei es nun auf Bush oder die Araber zurückzuführen, wir schaffen es nicht und können nicht immer noch mehr wertvolles Leben opfern … Doch die zweitbeste Lösung ist der Rückzug aus dem Irak. Denn die schlimmste Option – und die wäre ganz nach dem Geschmack des Iran – ist für uns, im Irak zu bleiben und zu bluten, leicht erreichbar, um vom Iran getroffen zu werden, wenn wir seine Atomwaffen angreifen. Wir müssen einen Umgang mit dem Iran und Syrien finden, aber aus einer Position der Stärke – und das erfordert eine breite Koalition. Je länger wir im Irak einseitig eine verfehlte Strategie verfolgen, desto schwieriger wird es sein, eine solche Koalition aufzubauen, und umso stärker werden die Feinde der Freiheit werden."

Thomas Friedman, New York Times, 4. August 2006

Mit jedem Tag, der vergeht, verlassen weitere ehemals enthusiastische UnterstützerInnen des imperialen Kurses der Bush-Regierung im Nahen Osten das sinkende Schiff. Inzwischen hat sich ohne jeden Zweifel bewahrheitet, was viele vorausgesehen haben: Die Regierung Bush wird als ungeschickteste Crew, die je am Ruder des amerikanischen Imperiums gestanden hat, in die Geschichte eingehen.

Bush und seine Spießgesellen haben im kollektiven Gedächtnis bereits ihren Platz als Totengräber der US-Ambitionen nach dem Kalten Krieg: Sie haben die unvergleichliche Heldentat vollbracht, die ausgesprochen günstigen Bedingungen zu vergeuden, die der US-Imperialismus vorgefunden hat, seit 1989 der zweite große Block zu zerbröckeln begann. Sie haben die einzigartige Gelegenheit verpasst, die der oben zitierte Krauthammer 1990 als "unipolaren Moment" bezeichnet hatte. Doch sie haben sie verpasst, weil sie von genau derselben imperialen Anmaßung getragen waren, die Leute wie Krauthammer und Friedman auszeichnet.

Der Leitartikel einer kürzlich erschienenen Ausgabe des Time-Magazines, die vor dem Beginn von Israels jüngstem Libanonkrieg veröffentlicht wurde, verkündete das "Ende der Cowboy-Diplomatie", beruhend auf der offensichtlichen Erkenntnis, dass die "Bush-Doktrin an der wichtigsten Stelle, an der sie die USA anzuwenden versuchten, gescheitert ist": "Obwohl niemand im Weißen Haus offen Bushs Entscheidung hinterfragt, gegen den Irak Krieg zu führen, geben manche MitarbeiterInnen nun zu, dass er unterdessen einen hohen Preis an militärischen Mitteln, öffentlicher Unterstützung und Glaubwürdigkeit im Ausland fordert. Den Preis zahlt die Regierung tagtäglich, während sie gleichzeitig versucht, mit anderen Krisen fertig zu werden. Es ist nahezu unmöglich, die in der Bush-Doktrin vorgesehene offensive Außenpolitik weiterzuführen, während die USA gleichzeitig einen Weg suchen, sich aus dem Irak zurückzuziehen. Weltweit nehmen Freunde wie Gegner der USA die Spannungen der Supermacht zur Kenntnis – und ziehen vielfach Vorteil daraus. Während der Sturz Saddam Husseins den Rekordpegel der US-Hegemonie markierte, zeugen die letzten drei Jahre von der stetigen Erosion der Fähigkeit Washingtons, die Welt ihrem Willen zu beugen."[1]

Der gravierendste Vorwurf der Autoren lautete: "Wie sich erweist, könnte der Irak nicht nur zum ersten, sondern auch zum letzten Versuchsfeld für einen Präventivkrieg werden. Anstatt die Machthaber in Teheran und Pjöngjang abzuschrecken, könnten die Mühen der US-Besatzung diese Regimes in ihrem Bestreben ermutigt haben, sich Atomwaffen zu beschaffen, während sie die Fähigkeit der US-Armee einschränken, sie davon abzuhalten."

Diese ausgesprochen bittere Einschätzung im Time-Artikel war begleitet von derselben Hoffnung, in die auch der große Chor der Verbündeten, Schützlinge und Klienten der USA einstimmte: Für sie alle, mit der auffallenden Ausnahme der israelischen Regierung, nährte die Tatsache, dass die prominentesten Neokonservativen in der Bush-Regierung beiseite geschoben wurden, die Hoffnung, es zeichne sich ein neuer gesunder Kurs in der Außenpolitik der US-Regierung ab. Die Umbesetzung, die es im Zuge der zweiten Amtszeit von George W. Bush gab, schien trotz des Abgangs des Chefrealisten Colin Powell, der jedoch sowieso nur begrenzten Einfluss auf die Regierung hatte, die "Abenddämmerung der Neokonservativen" zu bestätigen, die manche Clinton-AnhängerInnen zwei Jahre zuvor angekündigt hatten.[2]

Was die Time-Autoren als Zeichen für den Niedergang der "Cowboy-Diplomatie" ankündigten – "eine gründliche Strategieänderung im Zug des Aufstiegs von Staatssekretärin Condoleezza Rice ist offenkundig" – erwies sich, kaum war es gedruckt, im Lichte der darauf folgenden Ereignisse, als Israel seinen ausgesprochen brutalen Angriff startete, als bloßes Wunschdenken. Wie sich zeigte, wurde die Cowboy-Diplomatie einfach durch eine Cowgirl-Diplomatie ersetzt, die im Wesentlichen auf dasselbe hinausläuft.

Condoleezza Rice tat zwar wirklich ihr Bestes, um der Außenpolitik der Bush-Regierung ein neues Make-up zu verpassen, doch im Wesentlichen gab es keine erhebliche Veränderung. Sie war von Anfang an eine Stütze der Regierung und teilt denselben verrückten Größenwahn übertriebener Zielsetzungen, der auch das restliche Team auszeichnet. Der Auftrag von Rice, die für die zweite Amtszeit mit dem State Departement betraut wurde, bestand hauptsächlich darin, die vielen Lecks der US-Außenpolitik zu stopfen: ein allerdings unerfüllbarer Auftrag. Das Schiff sinkt unaufhaltsam im trüben Wasser des irakischen Ölteppichs.

Die "Hypermacht" USA, die in der Lage ist, jede andere reguläre Armee weltweit niederzustrecken – die Rüstungsausgaben dieser Hypermacht sind höher als die der über 200 Staaten der restlichen Welt und der Militärhaushalt übersteigt das BIP aller mit Ausnahme von 14 Staaten weltweit – , hat einmal mehr in der jüngeren Vergangenheit erwiesen, dass sie unfähig ist, aufständische Bevölkerungen unter Kontrolle zu bringen. Dafür ist all das ausgeklügelte Tötungsarsenal, das das Pentagon besitzt, von sehr begrenzter Hilfe. Um Bevölkerungen zu kontrollieren, braucht man Truppen. Es ist eine Art von Gewerbe, dessen Arbeitskraft nur schwer durch Hardware ersetzbar ist. Deshalb tun sich Diktaturen im Übrigen verhältnismäßig leichter in diesem Geschäft, da sie ihre Bevölkerung nach Belieben aufbieten können und kein Problem damit haben, einen hohen Preis an Soldatenleben zu zahlen.

Die USA haben sich als unfähig erwiesen, Vietnam unter Kontrolle zu bringen, obwohl ein wesentlich höherer Anteil an Truppen pro Einwohner im Einsatz war als im Irak. Die Militärmacht der USA ist heute sogar in jeder Hinsicht stärker als zu Zeiten des Vietnamkriegs, außer in dem Bereich, der für eine Besatzung entscheidend ist: Truppen. Die Stärke der US-Truppen wurde seit Vietnam und dem Ende des Kalten Krieges radikal abgebaut. Im Geist des für den Kapitalismus der Ära der Automatisierung typischen Denkens glaubte das Pentagon, die Unzuverlässigkeit des Humankapitals durch eine starke Abhängigkeit von hochtechnologischen Waffen ausgleichen zu können – die so genannte "Revolution in Militärangelegenheiten". Damit einher ging der Übergang ins Zeitalter der "post-heroischen" Kriege, wie sie von einem unangepassten Militäranalysten treffend genannt wurden.[3] Und es bedeutete den USA tatsächlich keine große Mühe, die irakische Armee von Saddam Hussein "post-heroisch" zu besiegen. Die "post-heroische" Kontrolle über die irakische Bevölkerung erwies sich dagegen als Herausforderung ganz anderen Kalibers.

Die USA verlieren stetig die Kontrolle über den Irak, seit sie 2003 die Besatzung errichtet haben. Auf der einen Seite waren sie mit der Ausbreitung eines bewaffneten Aufstands in den Gebieten der arabischen SunnitInnen konfrontiert, der durch die begrenzte Zahl an verfügbaren US-Besatzungstruppen nicht verhindert werden konnte. Denn wenn eine Invasionsarmee nicht in der Lage ist, die Kontrolle über jeden kleinsten Flecken bewohnten Landes auszuüben, wie dies bei einer lokalen Armee üblicherweise der Fall ist, gibt es nur einen sicheren Weg, einen bewaffneten Aufstand niederzuschlagen, der sich innerhalb der eigenen Bevölkerung "wie ein Fisch im Wasser" bewegen kann, um eine Formulierung Mao Zedongs aufzugreifen: das Becken auszutrocknen. Das bedeutet entweder einen Völkermord zu begehen, wie ihn die russische Armee in Ansätzen in Tschetschenien begeht, oder die Bevölkerung in Konzentrationslager zu vertreiben oder eine Kombination aus beidem, wie es die USA in Vietnam versuchsweise praktiziert haben, aber nicht zu Ende führen konnten, weil die amerikanische Bevölkerung das nicht toleriert hätte.

Im Irak war Washington auf der anderen Seite mit einem viel schwierigeren Problem konfrontiert, das sich Anfang 2004 abzeichnete: Die Bush-Regierung war durch ihre eigene Dummheit und die Versprechungen mancher irakischer Pentagon-Freunde oder törichte Wahnvorstellungen anderer Leute verleitet worden zu glauben, sie könne die Sympathie eines größeren Teils der irakischen Mehrheitsbevölkerung, der arabischen SchiitInnen, gewinnen. Das schlug vollkommen fehl, da der Einfluss der Iran-freundlichen fundamentalistischen Schiiten-Organisationen die Anhängerschaft, die Washingtons Gefolgsleute unter den irakischen Schiiten kaufen konnten, völlig in den Schatten stellte. Der Regierung Bush blieb keine andere Wahl für ihre imperialen Pläne als das klassische Rezept des "teile und herrsche", den Versuch, die Feindschaft zwischen den drei Hauptgruppen der irakischen Bevölkerung zu schüren, indem sie die SchiitInnen und arabische SunnitInnen im Bündnis mit den KurdInnen gegeneinander aufhetzten. Das Abgleiten des Iraks in den Bürgerkrieg wurde damit beschleunigt und das allgemeine Scheitern des Versuchs, das Land unter Kontrolle zu bringen, noch sichtbarer.[4]

Die Art und Weise, wie der amerikanische Gulliver von den irakischen Liliputanern festgeschnürt wurde, hat zweifellos dem Iran, der anderen Stütze der von George W. Bush zu Beginn seiner Kriegsambitionen nach dem 11. September 2001 als "Achse des Bösen" im Nahen Osten bezeichneten Länder, erheblich Auftrieb verliehen. Die absolut widerspenstige, ja provokative Haltung des Iran gegen den US-Riesen war nur möglich, weil dieser im Irak Schwäche zeigte. Und Teheran konterte erfolgreich die Versuche von Washingtons arabischen Gefolgsleuten, die Religionsfehde vom Irak auf den Rest der arabischen Region auszudehnen, um das iranische Regime als schiitisch zu isolieren, ein Trick, der 1979 nach der iranischen Revolution mit einem gewissen Erfolg praktiziert wurde. Teheran konterte, indem es die arabischen Regimes in ihrer Feindschaft gegenüber Israel überbot und sich damit das Image eines Vorkämpfers der panislamischen Sache gab.

Ein Schlüssel von Teherans Erfolg liegt im Bündnis, das mit Hamas, der populärsten Verkörperung des sunnitisch-islamischen Fundamentalismus, aufgebaut wurde. Dieses Bündnis wurde gefestigt, als die größte Sektion der Muslimbrüderschaft (deren palästinensischer Zweig die Hamas ist), die ägyptische Sektion, offen die provokanten israelfeindlichen Statements des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad unterstützte. Hamas‘ Aufstieg zur Macht bei den palästinensischen Wahlen von Januar 2006 versetzte der Regionalstrategie Washingtons einen weiteren Schlag. Teheran jubelte und forderte durch die Unterstützung der neuen palästinensischen Regierung einmal mehr all seine arabischen Rivalen heraus. An diesem Punkt griff Israel ein, das von Washington als viel versprechender Retter einer Strategie gesehen wurde, die sonst immer mehr einer imperialen Titanic glich.

Washington schickte – in dem seit vier Jahrzehnten bestehenden strategischen Bündnis zwischen dem US-Sponsor und dem israelischen Champion noch immer auf Israels alten Ruf vertrauend, es verfüge über unfehlbare Kenntnisse im Umgang mit dem arabischen Feind – seinen bevorzugten Vertreter gegen jene ins Feld, die als Stellvertreter des Iran erachtet werden, nämlich Hamas und Hezbollah. Was die Bush-Regierung allerdings übersah, ist, dass der Ruf Israels durch sein offensichtliches Scheitern, die 1967 besetzten palästinensischen Gebiete unter Kontrolle zu bringen, und erst recht durch den an Saigon erinnernden Rückzug aus dem Libanon im Jahr 2000 nach 18-jähriger Besatzung bereits stark angeschlagen ist. Israel hat im Libanon bereits sein eigenes Vietnam erlebt.

Und wie das Pentagon nach Vietnam sind auch die israelischen KriegsplanerInnen seit dem Libanon auf eine "post-heroische Militärpolitik" eingeschwenkt und vertrauen viel mehr auf ihr weitaus überlegenes Gerät als auf die Kampffähigkeit ihrer Bodentruppen. Als Israel 1982 in den Libanon einmarschierte, bekämpfte es hauptsächlich die PLO-FreischärlerInnen. Diese waren im Libanon alles andere als "Fische im Wasser", da sie es geschafft hatten, die libanesische Bevölkerung durch ihr arrogantes, plumpes Verhalten gegen sich aufzubringen. Der libanesische Widerstand, der seit 1982 Bedeutung erlangt hat und in dem die Hezbollah nach und nach eine führende Rolle spielte, war etwas völlig anderes. Die israelische Armee war erstmals mit einem wirklich aus dem Volk hervorgegangenen bewaffneten Widerstand mit Nachschublinien in einem Gebiet konfrontiert, das sich für den Guerilla-Krieg eignet. Israel geriet in dasselbe Dilemma, wie bereits für den Irak beschrieben, und war ähnlich den USA in Vietnam gezwungen, die bittere Pille eines Rückzugs zu schlucken, der einer Niederlage gleichkommt.

Israels Glaube an die Unbesiegbarkeit seiner militärischen Ausrüstung – mit einer Anmaßung, die noch verstärkt wurde durch die Amateurhaftigkeit in Militärangelegenheiten von Olmert und Peretz, die derzeitigen Kapitäne dieser Crew – ließ die Israelis glauben, sie könnten die Hezbollah zur Kapitulation zwingen oder die LibanesInnen an den Rand eines neuen Bürgerkriegs führen, indem der ganze Libanon zur Geisel genommen, die zivile Infrastruktur des Landes zerstört und die schiitisch bewohnten Gebiete mit einem Bombenhagel eingedeckt werden. Israel legte bewusst ganze Stadtteile und Dörfer nach einem Muster flach, das an manche Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs oder den Angriff auf Falludscha, wenn auch in wesentlich größerem Maßstab und damit wesentlich sichtbarer, erinnert. Israels neuer Krieg gegen den Libanon offenbarte die mörderische Wut eines Racheaktes gegen die einzige Bevölkerung, der es gelungen war, Israel zum bedingungslosen Rückzug aus einem besetzten Gebiet zu zwingen.

Das gemäß internationalen Konventionen, die festlegen, was als Kriegsverbrechen gilt, verbrecherische Verhalten der israelischen Armee im Libanon übersteigt jene Verbrechen, die die USA nach Vietnam in ihren Militäraktionen in großem Stil begangen haben, sei es im Irak oder im ehemaligen Jugoslawien. Israels Angriff auf den Libanon kommt insofern einem Sonderfall der so genannten Politik der "extraordinary rendition" (Auslieferung der besonderen Art) gleich. Bekanntlich hat Washington Personen, die weit über die von der nationalen Gesetzgebung auferlegten Einschränkungen hinaus "verhört" werden sollten, an jene Klientelstaaten ausgeliefert, die keine Hemmung haben, das dreckige Geschäft der Folter zu verrichten. Nun hat Washington Israel die Aufgabe übertragen, die Hezbollah zu besiegen, die als Hauptelement einer regionalen Gegenoffensive gegen den Iran gesehen wird – in der Hoffnung, Israel könne die dreckige Arbeit verrichten und die Aufgabe ohne große Probleme erledigen.

Einmal mehr wurde die schreckliche Erinnerung an den Völkermord der Nazis schamlos instrumentalisiert – in einer Art und Weise, die im laufenden Krieg einen neuen Höhepunkt an Unverfrorenheit erreicht hat. Die israelische Führung glaubte, so jede Kritik der Westmächte alias der "internationalen Gemeinschaft" abwenden zu können. Und obwohl sich die Mittel für diese Instrumentalisierung mit jeder Schwelle der Brutalität, die Israel überschreitet, unverkennbar erschöpfen, ist sie noch immer wirksam: Jeder andere Staat der Welt, der sein Nachbarland angegriffen hätte, um dort bewusst Kriegsverbrechen in kürzester Zeit zu begehen, wie Israel dies im Libanon tut, hätte einen Aufschrei provoziert, der unvergleichlich lauter gewesen wäre als die geheuchelten oder schüchternen Vorwürfe, die Israel für seine "Unverhältnismäßigkeit" erntet.

Trotz alledem ist dem grausamen israelischen Angriff kein Erfolg beschert. Er hat sich im Gegenteil bereits als das erwiesen, was Ze’ev Sternhell etwas beschönigend als Israels "erfolglosesten Krieg" bezeichnet, bevor er zum bitteren Schluss kommt: "Der Gedanke, dass jene, die den Beschluss gefällt haben, in diesen Krieg zu ziehen, nicht einmal im Traum an das Ergebnis und die zerstörerischen Folgen in fast jeder Hinsicht, den politischen und psychologischen Schaden, an den Schlag, den er der Glaubwürdigkeit der Regierung versetzt hat, und – ja, auch an das überflüssige Töten von Kindern gedacht haben, ist erschreckend. Der Zynismus, den offizielle Regierungssprecher und andere einschließlich zahlreicher MilitärkorrespondentInnen angesichts der Katastrophe, die die LibanesInnen erleiden, unter Beweis stellen, bestürzt sogar jemanden, der seit langem viele seiner Jugendillusionen verloren hat."[5]

Anstatt einen Bürgerkrieg zwischen den LibanesInnen zu provozieren, hat Israels rücksichtsloser Angriff bisher nur dazu geführt, die libanesische Bevölkerung in ihrer gemeinsamen Ablehnung gegen die mörderische Brutalität zu einen. Anstatt die Hezbollah zur Kapitulation zu zwingen, hat er die fundamentalistische Schiiten-Organisation zum angesehensten Gegner Israels seit der Besiegung Ägyptens 1967 und Hezbollah-Chef Nasrallah zum beliebtesten arabischen Helden seit Nasser gemacht. Anstatt die Bemühungen Washingtons und seiner arabischen Gefolgsleute zu erleichtern, einen tieferen Keil zwischen SunnitInnen und SchiitInnen zu treiben, brachte er viele sunnitische Mainstream-Prediger dazu, die Hezbollah offen zu unterstützen – selbst im Königreich Saudi-Arabien, was für die saudische Herrscherfamilie äußerst demütigend ist. Die Irakis verurteilten einhellig den israelischen Angriff, während der gefürchtetste Gegner Washingtons und Verbündete Teherans, Moqtada as-Sadr, die Gelegenheit ergriff, eine weitere Massendemonstration zu organisieren, die ebenso beachtlich war wie jene, die er am 9. April 2005 gegen die Besatzung organisiert hatte.

Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels bemüht sich Washington noch immer darum, mehr Zeit für Israel herauszuschlagen, indem es einer Resolution des UN-Sicherheitsrats, die zu einem Waffenstillstand aufruft, unerfüllbare Bedingungen vorgibt. Und die israelischen Generäle stehen angesichts des völligen Scheiterns ihrer "post-heroischen" Bombenangriffe in einem Wettlauf mit der Zeit, um durch eine völlig zerstörerische "post-heroische" Bodenoffensive möglichst viel Territorium im Südlibanon zu einem möglichst geringen Preis an israelischen Soldatenleben zu erobern.

Doch das Maximum, was sie gegenwärtig wirklich erreichen können, ist, das Gebiet an eine internationale Streitmacht zurückzugeben, die von der Hezbollah akzeptiert würde. Selbst der französische Präsident Jacques Chirac hat, obwohl er seit 2004 in der Libanon-Frage eng mit Washington zusammenarbeitet, betont, eine Mitwirkung der Hezbollah sei unabdingbar. Kein Land auf Erden ist wohl bereit, zu versuchen, die Aufgabe zu erledigen, deren Erfüllung Israel nicht gelingt. Und die Schiiten-Organisation hat bereits festgehalten, dass sie keine Streitmacht akzeptieren würde, deren Mandat wesentlich über jenes der bereits bestehenden UNIFIL hinausgeht, die Israel als Störfaktor betrachtet.

Was auch immer bei dem laufenden Krieg im Libanon am Ende herauskommt, eines steht schon heute fest: anstatt Hilfe zu bieten, um das sinkende Schiff des US-Imperiums wieder aufzurichten, hat das israelische Rettungsboot den Schiffbruch noch schlimmer gemacht und wird gegenwärtig damit nach unten gezogen.

[1] Mike Allen und Romesh Ratnesar, "The End of Cowboy Diplomacy", Time, 17. Juli 2006.
[2] Stefan Halper und Jonathan Clarke, "Twilight of the Neocons", Washington Monthly, März 2004.
[3] Edward Luttwak, "A Post-Heroic Military Policy", Foreign Affairs, Bd. 75, Nr. 4, Juli/August 1996.
[4] Diesen Prozess habe ich in Perilous Power beschrieben (siehe biografische Notiz). Ein Ausschnitt über die Lage im Irak 2006 wird demnächst im Internet erscheinen.
[5] Ze’ev Sternhell, "The Most Unsuccessful War", Ha’aretz, 2. August 2006.