Am
22. Juni 2006 schrieb die französische
Tageszeitung Le Monde: „Aus Wien kommend,
wo er am euro-amerikanischen Gipfel teilgenommen
hatte, feierte George W. Bush am 22. Juni in
Ungarn den fünfzigsten Jahrestag des Aufstandes
von Budapest gegen die sowjetische Vorherrschaft“.
Tatsächlich kam es im Juni 1956 in Ungarn
zu einer bedeutsamen Wende. Es scheint uns anlässlich
der politischen Vereinnahmung jenes „Gedenkens“
nützlich zu sein, die wichtigsten Grundzüge
jener „Revolution“ herauszuarbeiten
und die Reaktionen der Linkskräfte in der
Schweiz nachzuzeichnen.
Im
Oktober 1956 bricht die ungarische Revolution
aus. Leslie Bain, einer der wenigen westlichen
Journalisten, die das Land und seine Sprache
kannten und der sich 1956 dort aufhielt, schrieb
1960: „In der jüngeren Geschichte
wurde über kein Ereignis so viel gelogen,
wurde kein Ereignis so entstellt und entehrt
wie die ungarische Revolution“.1
Leslie Bain zeigte auf, wie die Propaganda-Apparate
in Ost und West während des Kalten Krieges
in jeweils vergleichbarer Weise funktionierten.
Im Westen sprach man strikt von einer nationalistischen
Revolte gegen die kommunistische Diktatur, im
Osten von einem reaktionären Komplott.
EINE
NEUE DEMOKRATIE
Einer
der charakteristischen Züge jener Revolution
– der Drang hin zu einer neuen und demokratischen
Gesellschaftsordnung – wurde sorgfältig
verschwiegen. Ein Blick auf die Presse von 1956
in der französischsprachigen Schweiz bestätigt
diese Feststellung – mit einer bemerkenswerten
Ausnahme.
Fünfzig Jahre später wird das Studium
der ungarischen Revolution durch die Arbeiten
des Instituts für die Geschichte der ungarischen
Revolution von 1956 in Budapest bedeutend erleichtert.
Es veröffentlichte 1991 eine erste Synthese,
die 1996 im Hinblick auf die englische Ausgabe
noch erweitert wurde: The Hungarian Revolution
of 1956. Reform, Revolt and Repression 1953-1963.2
In diesem Band kann man lesen: „Die Idee
einer revolutionären Demokratie, wie man
sie zu jener Zeit nannte, war keineswegs auf
die Herausbildung einer Regierung aus mehreren
Parteien und auf das Entstehen von politischen
Parteien im Bereich der öffentlichen Angelegenheiten
beschränkt. Die Errichtung von Institutionen
der Basisdemokratie in den Fabriken und in den
Gemeinden hatte bei den Zielen der Revolution
einen nicht weniger wichtigen Platz. (...) Seit
den ersten Tagen der Revolution waren die Arbeiterräte
politisch bedeutsam und sie stellten auch das
Instrument zur Erarbeitung von gesellschaftspolitischen
Programmen dar. Im Verlauf der „Kämpfe
der Nachhut“ (nach der zweiten sowjetischen
Intervention) im November und Dezember waren
die Räte fast die einzigen Widerstandszentren.
(...) Ein wichtiges Element des Denkens und
der politischen Aktion im Jahr 1956 war die
Beziehung zwischen der Basisdemokratie und dem
parlamentarischen System, die Kooperation zwischen
den Fabrikräten und den örtlichen
Komitees mit den Organen der Regierung und der
Partei auf nationaler Ebene.“3
So ergab sich die Möglichkeit eines institutionellen,
sozialen und wirtschaftlichen „dritten
Weges“ zwischen Kapitalismus und Stalinismus.
Sicherlich wären diese Entwicklungen in
ihrem Verlauf an zahlreiche Wegscheiden gekommen.
Aber 1956 wurden diese Möglichkeiten einfach
zerstört. Die Anhänger eines demokratischen
und selbstverwalteten Sozialismus erkannten
damals das Ausmaß ihrer Niederlage in
historischer Sicht nicht.
Wir möchten hier den Schwerpunkt auf diese
Dimension der „revolutionären Demokratie“
legen, einerseits, weil sie bis heute wenig
bekannt ist, andererseits, weil die damaligen
internationalen Ereignisse (die Suez-Krise)
oder die Rolle der „faschistischen Kräfte“
in zahlreichen Studien untersucht worden sind,
die zeigen, dass ihre Wirkung auf die spezifische
Dynamik jenes landesweiten Aufstandes gleich
Null gewesen ist.
EINE
HALB-OFFIZIELLE OPPOSITION
Eine
solche Bewegung der Selbstorganisation setzt
einen sozialen, politischen und kulturellen
Reifungsprozess sowie die Diskreditierung Misskredit
der offiziellen, autokratischen Organe der Staatsmacht
voraus.
Im März 1955 wurde Imre Nagy (geb. 1896,
am 18. Juni 1958 erschossen), der 1953 zur Vermeidung
einer Krise an die Macht gekommen war, seiner
Funktionen entbunden und von Mátyás
Rákosi, dem neuen Regierungschef und
Generalsekretär der Partei, angegriffen.
Eine wenig organisierte Gruppe von Schriftstellern,
Journalisten und Mitgliedern der KP bildete
sich um Nagy.
Erstmals existierte in einem osteuropäischen
Land eine dauerhafte Opposition in und am Rande
der offiziellen Strukturen. Sie sollte von der
„öffentlichen Meinung“ als
eine mögliche alternative Regierung betrachtet
werden. Die kommenden Mobilisierungen verfügten
über ein einigendes politisches Ziel: die
Rückkehr von Nagy an die Macht.
In der Schweizer Presse der Linken gab es zwei
unterschiedliche Betrachtungsweisen dieser Situation:
Die eine fand sich in Le Peuple, dem
Organ der Sozialistischen Partei. Jules Humbert-Droz4
analysierte dort die Gründe für Nagys
Sturz: „Die Regierung Imre Nagy hatte
das Polizeiregime von Rákosi heftig angegriffen,
und Zehntausende von kommunistischen und sozialistischen
Arbeiterinnen aus den Gefängnissen und
den Konzentrationslagern befreit.“ (17.
März 1955) Am 17. Juli 1955 finden wir
eine globalere Einschätzung: „Die
Verhaftungen, die Verurteilungen, die Regierungswechsel,
die sich in den kommunistischen Regionen Osteuropas
abspielen, sind nur ein Wiederschein der Kämpfe
der arbeitenden Massen für ihre Freiheit
und ihr Wohlergehen.“
Die andere Betrachtungsweise stand in La
Voix ouvrière, dem Organ der Schweizer
Partei der Arbeit: „Die Rechtsabweichungen
des Genossen Imre Nagy zeigten sich in der Unterschätzung
und der Verleugnung der großartigen Siege
der Partei, die er regelmäßig verschwieg.
(...) Die rechtsgerichteten Konzeptionen wurden
für unsere Partei und unseren Staat zu
einer Gefahr, nicht nur, weil der Genosse Imre
Nagy in seinen Reden und Artikeln antimarxistische
Konzeptionen vertrat, sondern weil er sogar
ihr Sprecher war.“ (18. März 1955)
Der Bleimantel der „Normalisierung“
schien damals gewirkt zu haben; aber das Rákosi-Regime
wurde auch 1955 weiter herausgefordert.
DER
BUDAPESTER FRÜHLING
1956
brach dann der „Budapester Frühling“
aus. Seit März gab es immer mehr Gerüchte
über den Geheimbericht von Chruschtschow
auf dem 20. Parteitag der KPdSU. Darin hatte
Chruschtschow einen Teil von „Stalins
Verbrechen“ vorgestellt.
Zwei Minen wurden nun Rákosi unter die
Füße gelegt. Die Wiederannäherung
zwischen Chruschtschow und Tito 1955 nahm den
Prozessen von 1949 gegen namhafte Parteimitglieder,
darunter László Rajk, jede Glaubwürdigkeit.
Denn „die titoistischen Abweichungen“
waren die wesentliche Begründung der Anklage
gewesen! Sodann löste die Anerkennung von
„Stalins Verbrechen“ Nachfragen
zu den Repressionsmaßnahmen aus, die die
ungarische KP in den Jahren 1947/48 selbst durchgeführt
hatte.
Die Forderung nach einer Rehabilitierung von
Lázló Rajk – die auf einem
öffentlichen Treffen am 27. Juni 1956 von
seiner Witwe Julia Rajk erhoben wurde –
führte zur ersten riesigen öffentlichen
Demonstration der Opposition in Ungarn nach
dem Krieg: der offiziellen Beerdigung von Lázló
Rajk am 6. Oktober 1956.
Seit März und vor allem seit Juni 1956
führten Intellektuelle, Schriftsteller
und Parteimitglieder öffentliche Debatten
in den Versammlungen des Petöfi-Zirkels.
Am 27. Juni sollten 6 000 Personen an einer
Diskussion des Zirkels über ein Thema der
Presse teilnehmen. Auch in den Fabriken begannen
Diskussionen. Es entstand im Land ein „zweites
politisches Zentrum“, wie die Leitung
der Einheitspartei schrieb und es verurteilte.
Am 28. Juni 1956 brach in Posen (Polen) ein
Arbeiteraufstand aus, der mit aller Härte
niedergeschlagen wurde. Er sollte in Ungarn
zu einem Signal der Annäherung werden.
Mátyás Rákosi (1892-1970)
versuchte die Unterdrückung des Aufstandes
von Posen zu nützen, um in Ungarn eine
Repressionswelle zu starten. Eine Liste mit
400 „oppositionellen Elementen“
wurde erstellt. Doch es läuteten bereits
die Alarmglocken. Um den Ausbruch einer offenen
Krise zu verhindern, entschieden Suslow und
Mikojan, die von der KPdSU geschickt worden
waren, Rákosi durch Ernö Gerö
(1898-1980), seine rechte Hand, zu ersetzen;
als Mann der Reserve machte Janos Kadar (1912-1989)
seinen Aufstieg zum Parteiführer. Doch
dieses Facelifting sollte nicht ausreichen.
EINE
UNABHÄNGIGE BEWEGUNG
Am
16. Oktober wurde von StudentInnen eine unabhängige
Massenorganisation gegründet, die MEFESZ
(Bund der Studentenverbindungen der ungarischen
Universitäten und Gymnasien). Somit trat
eine von den Strukturen der Staatspartei unabhängige
Massenorganisation auf den Plan, die eine eigene
Zeitung herausgab. Bill Lomax hat die Konsequenzen
unterstrichen: „Die Oppositionsbewegung,
die von den SchriftstellerInnen zu den Organisatoren
des Petöfi-Zirkels übergegangen war,
fiel nun in die Hände der StudentInnen“.5
Die Plattform der MEFESZ enthielt Schlüsselforderungen:
Wahl einer neuen Parteiführung, Führung
der Regierung durch Imre Nagy, Neuwahlen, eine
neue Wirtschaftspolitik, Neubestimmung der Arbeitsnormen
in den Fabriken und Autonomie der Arbeiterorganisationen,
Revision der Prozesse und Amnestie, Pressefreiheit.
Hinzu kamen laut Beschlüssen der im ganzen
Land abgehaltenen Versammlungen die Einführung
des Mehrparteiensystems und der Rückzug
der in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen.
Am 22. Oktober riefen die StudentInnen für
den 23. zu einer Großdemonstration auf.
Sie sollte alle Sektoren der Gesellschaft umfassen,
sogar Soldaten! Um 9 Uhr abends wandte sich
Imre Nagy vor dem Parlamentsgebäude an
die Menge. Er verlangte von den Demonstrierenden,
nach Hause zu gehen und versprach ihnen, alles
zu tun ... um sein Programm von 1953 umzusetzen.
Nagy war überzeugt, dass alles im Rahmen
der Partei gelöst werden müsse, wobei
er – jedes Mal mit einiger Verzögerung
– anerkennen musste, dass es einen massiven
Druck von Seiten der Bevölkerung gab. Nach
dieser Rede war die Enttäuschung der DemonstrantInnen
groß. Die Parole „Jetzt oder nie“
wurde weithin aufgegriffen. Mithilfe von Lastwagen
rissen DemonstrantInnen die riesige Stalin-Statue
vom Sockel ... wobei nur die Stiefel auf dem
Sockel zurückblieben. Andere versuchten,
ins Gebäude der Rundfunkanstalt einzudringen,
um die Plattform der StudentInnen ausstrahlen
zu lassen. Die Sicherheitskräfte schossen
in die Menge.
Nun begann die militärische Konfrontation.
Die Soldaten gaben ihre Waffen ab, weitere wurden
ohne große Schwierigkeiten in den Kasernen
beschlagnahmt. Im ganzen Land breitete sich
ein Generalstreik aus.
Die
Führung von Partei und Armee, die sich
unsicher war, wie sich die ungarischen Truppen
verhalten würden, verlangte nach einem
Eingreifen der sowjetischen Streitkräfte.
Als die alte Welt „dabei war, unterzugehen“,
trat die Führung der Partei zusammen...
und Nagy suchte in diesem Rahmen nach Lösungen.
Aber erst am Mittag des 24. Oktober verkündete
er, dass der Ausnahmezustand nicht sofort ausgerufen
würde, dass aber die Waffen niedergelegt
werden müssten.
DIE
KRAFT DES AUFSTANDES
Doch
die Massenbewegung hatte bereits ihre eigene
Dynamik erlangt. „Die Kämpfenden
waren im Wortsinne bereit, bis zum Tod zu kämpfen.
Darin lag wohl der wichtigste Grund, weshalb
die politische Führung keinen Kompromiss
durchsetzen konnte und weshalb es ihr nicht
gelang, mit Teilreformen die Ordnung wieder
herzustellen. Der andere entscheidende Grund
lag in der revolutionären Bewegung von
unten und in der Selbstorganisation der Bevölkerung
auf allen Ebenen.“6
Vom 24. bis 28. Oktober konnte die sowjetische
Armee ihre Ordnung nicht durchsetzen. Zu Beginn
gab es Verbrüderungsszenen. Aber am 25.
Oktober kam es vor dem Parlament zu einer Schießerei
mit zahlreichen Toten. Dies war die Wende. Während
vier Tagen waren die Kämpfe hart. Die „aufständischen“
Truppen hatten höchstens 15 000 Mann zur
Verfügung. Der Aufstand weitete sich auf
das ganze Land aus, mit sozio-ökonomischen,
demokratischen und mit Forderungen nach nationaler
Unabhängigkeit gegenüber der Sowjetunion.
Am 28. Oktober wurde angesichts des Ausmaßes
des bewaffneten und zivilen Widerstandes der
Rückzug der sowjetischen Truppen beschlossen,
die nicht stark genug waren, eine schnelle Entscheidung
zu erzwingen. Dies war ein trügerisches
Zeichen des Sieges. Heute wissen wir, dass es
eine taktische Entscheidung war, die im Einklang
mit Kadar getroffen wurde. Ab dem 27. Oktober
übernahm Nagy den Vorsitz der Regierung,
die das Ausmaß der Erhebung der Gesellschaft
überhaupt noch nicht wirklich verstanden
hatte.
Die Dynamik der Revolution von diesem Oktoberende
tauchte in den Leitartikeln der untersuchten
Presse nicht auf. In Le Peuple schrieb
der Chefredakteur Lucien de Dardel: „und
sogar der Eintritt von zahlreichen Nicht-Kommunisten
(oder sogar Antikommunisten) in die Regierung
Nagy bedeutet, dass sich Ungarn nun in einem
Stadium befindet, das jenes von Titos Jugoslawien
hinter sich lässt. Wenn sich der Verlauf
der Ereignisse im Geist der Revolution hält,
dann läuft Ungarn auf ein wirklich demokratisches
und parlamentarisches Regime zu, vielleicht
sogar auf einen wirklichen demokratischen Sozialismus
westlichen Typs.“ (30. Oktober) G. Rigassi
betonte in der Gazette de Lausanne:
„Die Aufstände in Polen und Ungarn
bedeuten einen Misserfolg des sowjetischen „Kolonialismus“
und dieser Misserfolg ist in weiten Teilen der
von der Jugend gespielten Rolle geschuldet.“
(27/28. Oktober) Jean Vincent suchte in La
Voix ouvrière nach dem « Irrtum
», der alles rechtfertigt: „Es müssen
sehr schwere Fehler begangen worden sein, kapitale
Fehler in allen Bereichen, den wirtschaftlichen,
politischen und moralischen (ja, den moralischen),
damit die sowjetische Intervention in Ungarn
als notwendig angesehen werden konnte.“
(30. Oktober)
Vom
28. Oktober bis zum 4. November, dem Datum der
zweiten sowjetischen Intervention, entwickelten
sich vier Elemente:
1. Am 31. Oktober begann die Zentralisierung
der Arbeiterräte. Die Forderungen waren
klar: Die Unternehmen gehören den Arbeitenden;
der Rat ist das demokratisch gewählte Kontrollorgan;
der Direktor wird gewählt; Löhne,
Arbeitsmethoden, Verträge mit dem Ausland
(UdSSR) müssen dem Rat vorgelegt werden;
die Einstellungen und Entlassungen liegen in
seiner Kompetenz; über den Gebrauch der
Profite muss vom Rat entschieden werden.7
Dieses Programm zeigt eine Sicht der Gesellschaft,
die wenig mit der Idee einer Rückkehr zum
Regime der Vorkriegszeit zu tun hat. Die Verbindung
zwischen den Arbeiterräten und den lokalen
Revolutionskomitees war sehr eng. Eine in der
Gazette de Lausanne veröffentlichte Depesche
zeigte in ihrer Formulierung das geistige Anliegen:
„Diese revolutionären Komitees wünschen
sich eine Liberalisierung des Regimes und fordern,
dass Ungarn weiterhin eine kommunistische Politik
macht.“ (29. Oktober)
2. Das Gravitationszentrum der offiziellen Macht
ging eindeutig von der Partei auf die neue Regierung
Nagy über. Die Verhandlungen zwischen Nagy
und den etwas skeptischen Räten kamen im
Hinblick auf eine Beendigung des Streiks und
eine Konsolidierung der Lage voran.
3. Janos Kadar baute eine neue Partei auf, die
als antistalinistisch eingestuft wurde, die
MSZMP (Sozialistische Partei der ungarischen
Arbeiter). Sie sollte als Hebel zur Errichtung
einer neuen Staatsmacht herhalten, nachdem die
sowjetische Armee die „Ordnung wiederhergestellt“
hatte.
4. Die Regierung Nagy verlangte die Anerkennung
der ungarischen Neutralität, eine Forderung,
die in Ungarn auf großes Echo stieß.
Bei der „internationalen Gemeinschaft“
stieß sie auf taube Ohren.
DIE
RÄTE ZERBRECHEN
Ab
dem 4. November, dem Datum der zweiten sowjetischen
Militärintervention, antwortete die Bevölkerung
mit einem Generalstreik, der sicherlich der
vollständigste und einigste war, den es
in der Geschichte bisher gegeben hat. Der militärische
Widerstand, der sich vor allem auf die Jugendlichen
in den Arbeitervierteln stützen konnte,
dauerte etwa sechs Tage.
Die Koordination der Räte wurde zum Zentrum
des Widerstandes. Ab dem 12. November funktionierte
eine offizielle und zentralisierte Struktur
als Gegenmacht mit Bulletins und Flugblättern.
Die wichtigsten Forderungen lauteten wie folgt:
sofortiger Rückzug der sowjetischen Truppen,
Pressefreiheit, Kontrolle über Polizei
und Armee, um das Eindringen von Agenten der
AVH (politische Polizei) zu verhindern, Amnestie
für alle Zivilisten und Militärs,
die sich am Aufstand beteiligt haben.
Die Repräsentativität des Zentralkomitees
der Räte von Groß-Budapest (KMT)
ist so groß, dass Kadar, der im Tross
der sowjetischen Armee ankam, mit ihm verhandeln
muss. Am 14./15. November fand ein Treffen statt.
Zu den diskutierten Themen gehörten: die
Ausdehnung eines Systems von Räten auf
die nationale Ebene, das Streikrecht und der
Rückzug der sowjetischen Truppen. Auf die
erste Forderung antwortete Kadar, „dass
nichts von dieser Art irgendwo existiere und
dass eine solche Struktur in einer Volksdemokratie
überflüssig ist“.8
Die Delegierten der Räte blieben entschlossen
bei ihrer Position. Die Repression wurde daher
zur wichtigsten Waffe der Bürokratie. Am
27. November 1956 gab die Führung des KMT
das wichtigste Anliegen der Stunde vor: „Die
Fabriken befinden sich in unseren Händen,
den Händen der Arbeiterräte. Die Regierung
weiß das und will vor allem damit Schluss
machen.“9 Die
Verhaftung der repräsentativsten Führer
des KMT führte zum Generalstreik des 11./12.
Dezember. Die Repression verschärfte sich.
Am 5. Januar 1957 wurde denjenigen, die die
Arbeit verweigerten oder „Streiks provozier[t]en“,
die Todesstrafe angedroht. Die Zahl der politischen
Flüchtlinge stieg auf etwa 200 000 Personen.
DIE
GEDRUCKTE GESCHICHTE ...
Am
23. November 1956 wurde in La Voix ouvrière
erstmals Kadar das Wort erteilt: „Die
konfuse Lage brachte es mit sich, dass die demonstrierenden
Menschen nicht gegen den Sozialismus, den Sinn
des Sozialismus waren, wohingegen in ihren Taten
die Orientierung der Bewegung offensichtlich
konterrevolutionär war. Die Konterrevolutionäre,
die hinter der Bewegung standen, arbeiteten
mit großer Gewitztheit.
Vielleicht wurde niemals eine Konterrevolution
mit solcher Gewandtheit versucht.“ Gegen
Kadars „Erklärungen“ standen
diejenigen, die Jean Vincent in La Voix ouvrière
im Verlauf dieser tragischen Monate geliefert
hatte. Man konnte eine solche Rechtfertigung
der Intervention noch im Jahre 1986 finden:
„Recht schnell waren es solche Menschen
wie der Kardinal Mindszenty und frühere
Schüler von Horthy, die den Aufständen
eine alles andere als demokratische Orientierung
aufdrängten, wobei ihnen etwa 3'500 Kriegsverbrecher,
die man aus dem Gefängnis entlassen hatte,
zu Hilfe kamen.“ (VO-Réalités,
30. Oktober-5. November 1986.)
La Gazette de Lausanne brachte ihre
Bilanz der ungarischen Revolution aus der Feder
von Georges Rigassi: „Wenn das ungarische
Volk auf so spontane und so einheitliche Weise
gegen die sowjetische Repression gehandelt hat,
dann, so meinen wir, weil es sich mit der Geschichte
der Christenheit verbinden wollte, um seine
spirituelle Integrität zu retten; es wollte
die Tradition der Freiheit und des Respekts
vor der menschlichen Person, die es mit dem
westlichen Europa teilt und die der Marxismus
ihm geraubt hatte, wieder in Besitz nehmen.“
(12./13. Januar 1957)
In Le Peuple zeigte Humbert-Droz ein
Verständnis, das ein ganz anderes war als
das der anderen Redakteure. Am 13. Dezember
1956 schrieb er: „Nachdem der Zentralrat
der Arbeiterinnen nach der brutalen Weigerung
der Regierung, den legitimen Forderungen der
Arbeitenden Recht zu geben, neuerlich den Generalstreik
ausgerufen hatte, beschloss Kadar, die Arbeiterräte
zu verbieten und aufzulösen. Gegen sie
entfesselten die vereinten Kräfte der ungarischen
Polizei und die russischen Besatzungstruppen
ihre wilde Repression, nachdem das Kriegsrecht
ausgerufen worden war. Die Arbeiterräte
haben bei der Entwicklung der Lage in Ungarn
eine entscheidende Rolle gespielt. (...) Im
Verlauf der sieben Kampfeswochen haben sie Forderungen
formuliert, deren Charakter deutlich revolutionär
war. In der spontanen und häufig ungeordneten
Erhebung des Volkes waren sie mit den StudentInnen
und den Intellektuellen das bewusste Element,
welches die Massenbewegung auf genaue Ziele
hinorientierte; sie spielten die Rolle, die
die Sowjets zu Beginn der russischen Revolution
gespielt haben. Wenn sich zuerst die Regierung
Nagy und später die Regierung Kadar auf
die Arbeiterklasse stützen und ihr Vertrauen
hätte gewinnen wollen, dann hätten
sie ihre Macht auf die Arbeiterräte gründen
müssen. Es fehlte nicht an Gelegenheiten,
solches zu tun. Die Arbeiterräte haben
versucht, aus der Regierung die Sprecherin ihrer
Interessen zu machen. Die Regierungen haben
ihnen dies abgeschlagen. (...) Die Bürokratie
ist unfähig, ihre Privilegien selbst zu
zerstören und das Regime von oben zu verändern.“
*Charles-André
Udry, Redakteur der Online-Zeitschrft „A
l’encontre“ ist Mitglied der IV.
Internationale und lebt in Lausanne (Schweiz)
Übersetzung aus dem Französischen:
Paul B. Kleiser
1
Leslie Bain, The Reluctant Satel¬lites,
London 1960, S. 97.
2
The Hungarian Revolution of 1956. Reform, Revolt
and Repres¬sion 1953-1963, edited by Gy¬örgy
Litván, Logman 1996, 221 Seiten.
3
Ebenda, S. 74f.
4
Jules Humbert-Droz, früheres Mitglied der
Kommunistischen Partei der Schweiz und der Kom¬munistischen
Internationalen; 1943 trat er der Sozialistischen
Partei bei und wurde 1947 natio¬naler Sekretär
der Parti socialiste suisse (PSS).
5
Bill Lomax, Hungary 1956, Alli¬son &
Busby, 1976. S. 46
6
György Litván, op. cit., S. 65..
7
Jean-Jacques Marie und Balazs Nagy, Pologne-Hongrie
1956, Pa¬ris (EDI) 1966, S. 203f.
8
György Litván, op. cit., S. 110.
9 György Litván, op. cit., S. 111.
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