Sektion Zürich
 
anklicken Antiglobalisierung
anklicken ArbeiterInnenbewegung
anklicken Bildungspolitik
anklicken Frauenbewegung
anklicken Imperialismus & Krieg
anklicken International
anklicken Kanton Zürich
anklicken Marxismus
anklicken Umweltpolitik

anklicken Startseite
anklicken Über uns
anklicken Agenda
anklicken Zeitung
anklicken Literatur
anklicken Links
anklicken Kontakt

Schwerpunke / Kampagnen
anklicken Bilaterale II
anklicken
anklicken
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  


 

Vor zehn Jahren veröffentlichte die Schweizer Bourgeoisie ihr
erstes "Weissbuch": Drastische änderungen für die Lohnabhängigen


Schwierige Rückeroberung


von Jean-François Marquis aus Debatte Nr. 2-3, Juli/August 2002

Im Jahr X der Gegenreform : Eine Bestandesaufnahme zeigt, dass es der Bourgeoisie dieses Landes zum grössten Teil gelungen ist, die Ziele umzusetzen, die in den beiden "Weiss-büchern" von 1991 und 1995 vorgegeben waren. In verschiedenen Bereichen zeichnet sich zudem ein "zweiter Durchlauf" ab (siehe Debatte Nr. 1, Mai 2000, www.debatte.ch). Diese starke Position erklärt gewisse Haltungen bei den Bürgerlichen, die man als Zögern interpretieren könnte, die jedoch bloss zweitrangige Differenzen und Manöver sind, während das grundsätzliche Programm der Rechten unangefochten und in rasantem Tempo umgesetzt wird. Der neue Präsident der Freisinnigen, Nationalrat Gerold Bührer, Direktionsmitglied des Schweizer Industriekonzerns Georg Fischer (SH), bestätigt diese Sichtweise in einem Interview in der Wirtschaftszeitung "l'agefi": "Die Umsetzung eines übergreifenden strategischen Konzepts ist immer schwierig. Man muss sich fragen, wann der richtige Augenblick dafür da ist. Der strategische Prozess kann in Gang gesetzt werden, es fragt sich nur, wann der günstigste taktische Zeitpunkt für die Vollendung des Prozesses gekommen ist." (18.12.2001).
Welches Potential hat der soziale Widerstand der Unterdrückten nach einem "Jahrzehnt der Herrschenden"?

Eine Feststellung drängt sich auf : Die Anzeichen von "sozialer Unzufriedenheit" waren in den letzten Jahren von Seiten der Lohnabhängigen häufiger zu vernehmen, auch wenn sie das helvetische Mittelmass nicht gesprengt haben. Die Gründe für diese Unzufriedenheit finden sich zuhauf, bedenkt man die Brüche, Spannungen und Angriffe, die mit der neokonservativen Gegenreform eingetreten sind. Einige Beispiele aus der letzten Zeit machen dies deutlich.

Kollektive Deklassierung

Zur Zeit werden ganze Schichten von Lohnabhängigen kollektiv deklassiert und destabilisiert. Insbesondere betrifft dies das Personal der beiden ehemaligen Bundesbetriebe SBB und PTT. Die Lohnabhängigen pflegten auf Grund der Geschichte dieser Betriebe eine relativ einheitliche Identifikation (Zugehörigkeit zu einem Gesamtbetrieb mit eigenen Regeln und Traditionen), die nun aber rapide abgebaut wird. Innerhalb von wenigen Jahren haben sie ihre Orientierungspunkte verloren. Der Betrieb, für den sie arbeiten, hat einen neuen Namen, einen neuen Status und eine neue Funktionsweise. Die Arbeitsplätze, die früher gesichert waren, wurden prekarisiert oder durch Massenentlassungen abgeschafft. Die Sicherheit und Stabilität des Beamtenstatus ist liquidiert. Die übliche Vorstellung der Arbeitsweise wurde gänzlich verändert : Angestellte, die (praktisch) VertreterInnen der Obrigkeit waren, leicht autoritär, jedoch tatsächlich im Dienst der Bevölkerung standen, wurden durch eine Vielzahl von Handelsvertreter ersetzt, die Kunden und Rendite jagen...und miteinander in Konkurrenz stehen. Die Arbeitsbelastung ist massiv angestiegen. Die anerkannten Mechanismen zu Qualifikation wurden im Rahmen von hierarchischen Machtverhältnissen individualisiert.

Diese Veränderungen bilden den Nährboden für eine anhaltende Unzufriedenheit, die sich von Zeit zu Zeit öffentlich ausdrückt. Ein Beispiel dafür ist die Petition der Lokführer, die letzten Herbst zirkulierte, und die den Rücktritt von SBB-Verwaltungsratspräsident Thierry Lalive d'Epinay forderte. Der Gesamtarbeitsvertrag (GAV), der in der Post ausgehandelt und von den Gewerkschaftsspitzen abgesegnet wurde, hat unter den Postangestellten und Mitgliedern der Gewerkschaft Kommunikation eine starke Opposition hervorgerufen (siehe die Zeitschrift à l'encontre Nr. 2, www.alencontre.org). In der Folge hat eine Mehrheit der Delegierten der Gewerkschaft Kommunikation den mit der Direktion der Post ausgehandelten Lohnabschluss verworfen und die Frage an das Schiedsgericht überwiesen, das laut GAV vorgesehen ist. Hingegen entstand bei Swisscom -der Branche der PTT, die die härtesten Umstrukturierungen samt Streichung von Tausenden von Arbeitsplätzen erlebte- kein sichtbarer Widerstand. Die Gewerkschaften dieser Betriebe waren früher veritable Institutionen, die mit der Direktion eng verbunden waren, ohne dass dies irgendwelchen Protest ausgelöst hätte. Heute sind die Gewerkschaften auf Grund dieser Verstrickung jedoch offensichtlich mit Misstrauen und Rückzug seitens der Lohnabhängigen vieler Sektoren konfrontiert.

Auch andere Bereiche des Service public auf kommunaler oder kantonaler Ebene haben das gleiche Schicksal erlitten. In einigen Fällen hat dies zu grösseren Mobilisierungen und bei der Zeba, der privatisierten Zentralwächerei Basel, im Jahr 2000 zu zwei Streikbewegungen gegen die massiven Lohnkürzungen geführt.

In gewisser Weise erleben auch die Bauern einen ähnlichen Schock. Die verzweifelte Situation von vielen unter ihnen und das explosive Potential, das damit verbunden ist, hat sich bei der Blockierung der Verteilzentren von Coop und Migros durch die Bauern der Gewerkschaft Uniterre in der Westschweiz gezeigt. Jedoch beschränkte sich die "Reak-tion" auf die neue Landwirtschaftspolitik des Bundesrats mehrheitlich auf die schleichende Aufgabe der Betriebe.

Verstreute und sporadische Reaktionen

Im Baugewerbe, in weiten Teilen der Industrie und in geringerem Masse auch in gewissen Sektoren der Dienstleistungen (Banken und Versicherungen) herrscht seit den 1990er Jahren die Regel der permanenten Umstrukturierungen, der Entlassungen bei der leisesten Konjunkturabschwächung - oder schon bloss bei "ungenügender" Rentabilität -, der allgemeinen Prekarisierung und Flexibilisierung. Angst, aber auch Unzufriedenheit machen sich breit.

Die Erneuerung des Gesamtarbeitsvertrags im Baugewerbe (Landesmantelvertrag) war 1999, nach den Krisenjahren, eine Möglichkeit, der sozialen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen und Forderungen aufzustellen, zumindest in den Regionen, in denen die Gewerkschaft das Terrain für diese Mobilisierung vorbereitet hatte. In anderen Regionen blieb die Mobilisierung schwach. Die Spitze der Gewerkschaft Bau & Industrie (GBI) konnte daher das "Couchepin-Abkommen" leicht durchsetzen (siehe à l'encontre Nr. 2, www.alencontre. org).

Die Schliessung der Produktionsstätten des ABB-Konzerns in den Regionen Basel und Zürich, in denen Material für Eisenbahnwagen produziert wurde, hat Ende 1999 gezeigt, welche Revolte grosse Unternehmen hervorrufen können, wenn sie aus Gründen der Rentabilität die Streichung von Tausenden von Arbeitsplätzen beschliessen. Der Protest der Lohnabhängigen mündete gar in Ansätzen von kollektivem Handeln, und dies trotz der Bremsmanöver seitens der Gewerkschaft SMUV. Auch der Streik der ArbeiterInnen der Firma Sapal in Ecublens (VD) (Verpackungsmaschinenfabrik, die in die SIG-Gruppe mit Sitz in Neuhausen am Rheinfall integriert wurde) im Jahr 2000 gegen die Liquidierung ihres Betriebs zeigt das gleiche Widerstandspotential.

Neben diesen Fällen, in denen sich die Lohnabhängigen gewehrt haben, fanden jedoch zahlreiche Stellenstreichungen, Betriebs-schliessungen (einschliesslich jene von symbolträchtigen Firmen wie Sulzer), massive Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen statt, die ohne jeglichen kollektiven Widerstand durchgesetzt wurden. Hinzu kommt, dass die erwähnten Proteste in den meisten Fällen keine Folge hatten. Selbst wenn man von den konkreten Resultaten der Mobilisierungen, die meist in Niederlagen endeten, absieht, bleibt doch festzustellen, dass sich keiner dieser Konflikte zu einem entschlossen und zielstrebig geführten Kampf entwickelte. Jedes Mal haben die Gewerkschaftsführungen alles daran gesetzt, die Mobilisierung zu unterbinden oder sie haben sich darauf beschränkt, sich zu beklagen, dass sie nicht vorgängig informiert wurden und die Entscheide des Management der Presse entnehmen mussten. Diese Haltung zeugt von der vollständigen Integration der Vorstellung, man könne sowieso nichts ausrichten. In der Mentalität dieser Gewerkschaftsführer existieren die Lohnabhängigen als kollektive Akteure in einem Konflikt einfach nicht.

Destabilisierte Berufsklassen

Ganze Schichten von Lohnabhängigen wie das Pflegepersonal oder ein Teil der Lehrkräfte müssen widersprüchlichen Anforderungen genügen.

Sparmassnahmen und "Rationalisierungen" im Gesundheitswesen haben dazu geführt, dass die Arbeitsbelastung stark angestiegen ist. Gleichzeitig wird es immer schwieriger, die Arbeit nach den Kriterien der Berufsethik zu verrichten, der sich eine grosse Mehrheit der Berufsleute verpflichtet fühlt. Gefordert wird eine hohe Verfügbarkeit, während die Anwendung und also auch die kollektive überprüfung des Wissens erschwert wird. Währenddessen fehlt die soziale Anerkennung dieser oft von Frauen erbrachten Arbeitsleistung, was sich auch in den schlechten Löhnen ausdrückt.

Die Protestdemonstrationen waren in den letzten zwei Jahren in der ganzen Schweiz sehr breit, und sie haben mit dem Aktionstag vom 14. November 2001 zu einer nationalen Branchenbewegung geführt, was Seltenheitswert besitzt. Mehr als 23 000 Angestellte aus dem Gesundheitswesen haben an dieser Mobilisierung teilgenommen (siehe à l'encontre Nr. 3, www.alencontre.org). Viele Kantone waren in letzter Zeit auf Grund von reellen Problemen in Sachen Anstellung und Fluktuation von Pflegepersonal gezwungen, Zugeständnisse bei den Löhnen zu machen. In mehreren Kantonen stand das Lehrpersonal ebenfalls an der Spitze der Aktionen gegen Sparmassnahmen. über die unmittelbaren Forderungen hinaus war dies sicherlich auch ein Ausdruck der verschlechterten sozialen Bedingungen, unter denen dieser anspruchsvolle Beruf heutzutage ausgeübt werden muss.

Folgen der Vereinzelung

Da es keine grossen organisierten sozialen Bewegungen mehr gibt, sind die Lohnabhäng-igen mehr und mehr individualisiert und mit ihren ängsten und Hoffnungen alleine. Hunderttausende Lohnabhängige haben in den letzten Jahren Formen von unsicherer Beschäftigung und Prekarität erlebt, vor denen sie sich sicher fühlten : Stellenverlust, eingefrorene oder gekürzte Löhne, steigende Zwänge und Flexibilität, Zukunftsängste usw.

Die öffentliche Reaktion auf diese Destabilisierung war sehr unterschiedlich. In einigen Fällen wurden gewisse Gesetze, die ein Symbol waren für Ungerechtigkeit und sozialen Rückschritt, abgelehnt, wie beispielsweise die erste Revision des Arbeitsgesetzes (1996) oder die Kürzung der Erwerbslosenentschädigung (1997). Häufiger treten jedoch ein weitgehendes Desinteresse gegenüber den politischen Geschehnissen oder aber Protestwahlen ein, die unter anderem von der SVP kapitalisiert werden (jedoch nur einen Aspekt der Wahlerfolge der SVP darstellen).

Dissidenz und Grenzen

Es gibt jedoch verschiedene Formen der Abgrenzung gegenüber der Ideologie des Marktes. Die Offenheit für die Kritik des "Neoliberalismus" und generell der "sozialen Ordnung", in der wir leben, ist relativ gross. Für beschränkte Kreise gilt, dass sie die Notwendigkeit sehen, mit der blinden Maschinerie und Zerstörung der Kapitalverwertung zu brechen.

Das Echo, das die globalisierungskritische Bewegung seit längerer Zeit geniesst, insbesondere bei einer Schicht von Jugendlichen, ist ein Ausdruck derselben Bereitschaft, die herrschende Ordnung in Frage zu stellen. Die verschiedenen Mobilisierungen des Marche mondiale des femmes im Jahr 2000 haben ebenfalls eine Kritik der Verhältnisse artikuliert. Auch die nationale Bewegung der Sans-papiers mit ihren Forderungen, die die offizielle Einwanderungspolitik radikal in Frage stellen (kollektive Regularisierung und freier Personenverkehr), zeigt einen Bruch mit der herrschenden Ordnung (siehe à l'encontre Nr. 0, 2 und 3 und www.alencontre.org). Die Bereitschaft, die viele Jugendliche im letzten Herbst gezeigt haben, sich gegen den Krieg zu engagieren, markiert ebenfalls den Anfang einer Öffnung. Die Festigung einer Bewegung gegen den Krieg ist jedoch schwierig, weil die militärischen Siege des amerikanischen Imperialismus schnell eintreten und die Medien die echten Fragen nicht mehr aufgreifen - und statt dessen einschneidende historische Ereignisse aus-schliesslich als Jagd auf einen milliardenschweren Terroristen thematisieren.

Trotz der Ansätze von Protestbewegungen und Öffnungen ist es offensichtlich, dass Forde-rungen wie ein Entlassungsverbot in der Schweiz nur eine minimale Unterstützung finden. Die gleiche Forderung hat beispielsweise in Frankreich eine breite Anhängerschaft, auch wenn sie nicht durchgesetzt werden konnte. Eine solche Forderung ist ein Zeichen für die Ablehnung der Unterordnung unter die Zwänge des globalisierten Kapitalismus. Sie entwickelt sich eher auf einem sozialen Terrain, in dem politische Konflikte und überlieferte Erfahrungen von Kämpfen die "Sichtweise" der eigenen Rolle als soziale AkteurIn prägen.

Die Forderung nach einem Service public (in erster Linie bei der Post), der für die Bevölkerung zugänglich bleibt, ist eine der wenigen Forderungen, die der Logik des totalen Marktes entgegenwirken und in der Schweiz ein breites Echo in der Bevölkerung besitzen. Bereits findet bei der Schliessung von Poststellen in den Städten die Kraftprobe für den Widerstand statt. Die direkte Auseinandersetzung - die nicht an die halb-direkte Demokratie delegiert wird ! - könnte das Recht der Lohnabhängigen auf Widerstand gegen Entlassung mit dem Recht auf demokratische Verteidigung des Service public verbinden.

Verstreuter Widerstand ?

Angesichts der genannten Ansätze stellt sich die Frage, was daraus werden kann. Die grosse Mehrheit der Zeichen für die "soziale Unzufriedenheit", insbesondere in der Arbeitswelt, hat sich bisher nicht in die Fähigkeit verwandelt, die bürgerliche Gegenrefom zu stoppen. Entmutigung tritt unweigerlich ein. Damit verbunden ist oft eine "endgültige" Enttäuschung über die "Gewerkschaften" oder "die Linke", von denen die Lohnabhängigen - zu Recht - denken, sie würden ihre Rolle nicht erfüllen (siehe Teil I dieses Artikels in Debatte Nr. 1 und Kasten "Die Illusionisten" in dieser Nummer).

Welche Bedingungen braucht es, damit der Protest dennoch nützliche Spuren hinterlässt, auch auf einer niedrigeren Stufe ? Die Antwort auf diese Frage hängt zu einem guten Teil mit einer weiteren Frage zusammen : Inwiefern ist es möglich, dass die Mobilisierungen die Entstehung von Kollektiven fördern, insbesondere unter den Lohnabhängigen ? Die Kollektive machen erstens die Lohnabhängigen wieder zu den Akteuren der Verteidigung ihrer Rechte. Zweitens fördern sie die Fähigkeit zur Schaffung von Solidarität und Zusammengehörigkeitsgefühl gegenüber den Herrschenden und insbesondere den Unternehmern. Drittens analysieren sie dank der Öffnungen, die sie mit ihren Kämpfen bewirken, und der Annäherung an andere Befreiungskämpfe - in der Schweiz sowie in Europa und in der ganzen Welt - die Wirklichkeit an Hand anderer Kriterien. Davon ausgehend könnte sich potentiell das Vertrauen in das eigene Handeln festigen, könnten die Veränderung der Machtverhältnisse ausprobiert und Alternativen zur aktuellen Situation gedacht werden. Wenn Kollektive diese Erfahrungen machen können, so arbeiten sie gegen die Nachbeter des Glaubensbekenntnisses TINA - There Is No Alternative ("Es gibt keine Alternative zum Kapitalismus").

Schritte in diese Richtung sind schwierig und gleichwohl entscheidend. Der jahrzehntelange Arbeitsfrieden hat die Erinnerung an die Kämpfe der ArbeiterInnen verschüttet, die Identität der ArbeiterInnen als konträr zu den Unternehmern untergraben, die Erfahrungen der sozialen Kämpfe geschwächt. Nur wenige sind heute TrägerInnen dieser Erfahrungen, insbesondere in der Privatwirtschaft. Die Praxis der Mobilisierungen, die in den letzten zehn Jahren im öffentlichen Sektor entstanden ist, könnte sich bezüglich Organisation und Perspektiven in einem gefestigten Zusammenhang niederschlagen, denn hier ist es gelungen, zwischen verschiedenen Generationen von AktivistInnen eine Verbindung zu schaffen.

Kollektive wiederaufbauen

Die Bewegung der Sans-papiers in den letzten Monaten oder die Aktionen, die kämpferische Gewerkschaftssektoren seit einigen Jahren führen (unter anderem in GBI, VPOD, comedia) zeigen, welche Bedingungen notwendig sind für den Wiederaufbau von Kollektiven.

1. Der Kampf muss auf die kollektive, direkte Aktion der Betroffenen bauen. Es ist entscheidend, dass Frauen und Männer wieder zu den direkten TrägerInnen der Verteidigung ihrer Rechte und der Forderungen nach gesellschaftlicher Veränderung werden. Dies ist die grundlegende Bedingung, damit sich Kollektive bilden können, die eine Erinnerung an die geführten Auseinandersetzungen behalten, Erfahrungen sammeln und daher ihre Aktion in einen grösseren Zusammenhang stellen können.

Dagegen behält der - parlamentarische, mediale und oft auch halb-demokratische (Initiativen, Referenden) - Delegationismus die Menschen in der Passivität und treibt damit die Enteignung der Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung des Lebens und der sozialen Realität weiter. Das gleiche gilt für eine noch perversere Form des Delegationismus : Pseudo-Mobilisierungen auf "Kopfdruck". Lohnabhängige, die scheinbar aufgerufen werden, sich aktiv zu betätigen, werden in Wahrheit zur Manipuliermasse im Dienste der "Spitzen" gemacht. Die Leitung der GBI ist Spezialistin für diese Art "Mobilisierungen".

2. Es müssen Verbindungen geschaffen werden zwischen jenen, die für ihre Rechte kämpfen. Damit müssen die Abtrennungen zwischen den Menschen bekämpft werden, die die Herrschenden wie auch die Gewerkschaftsbürokratien oder die sogenannte institutionelle "Linke" aufbauen. Nur auf diesem Weg kann von den Erfahrungen anderer gelernt werden und die eigene Aktion in eine breitere Vision eingebunden werden. Damit erhält das eigene Handeln Sinn, selbst wenn es vielleicht keine grossen Dimensionen annimmt und nicht unmittelbar zum Erfolg führt.

3. Jede Aktion muss von der kompromisslosen Verteidigung der Rechte der Ausgebeuteten und Unterdrückten ausgehen. Dies ist die Bedingung, um einem Projekt Glaubwürdigkeit zu verleihen, das die Möglichkeit des Widerstands gegen die Zwänge des Marktes und der herrschenden Kräfte aufzeigen will. Diese Haltung ist auch eine Vorbedingung, um überhaupt eine Gewinnchance zu haben oder, was heutzutage häufiger der Fall ist, um aus Niederlagen produktive Erfahrungen zu schöpfen, statt nur desillusioniert zu sein.

4. Die "konjunkturellen" Möglichkeiten müssen ergriffen werden, um in der präsentierten politischen Agenda zu intervenieren. Aus dieser Perspektive hat die Bewegung der Sans-papiers über die kurzfristigen Resultate hinaus eine echte öffentliche Debatte provoziert, und dies in ihrem eigenen Rhythmus. Damit hat die Bewegung der Forderung nach kollektiver Regularisierung eine beginnende Legitimität verschafft, obwohl sie bis anhin von vielen als absurd abgetan wurde, die sich auf die institutionelle Verteidigung des "Asylrechts" beschränken. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb am 16.1.2002 in ihrer Beilage "Mensch und Arbeit" bezeichnenderweise : "Der Preis für die Arbeit ist ein Leben im Gefängnis. Papierlose können weder am Arbeitsplatz noch im Alltag Rechte einfordern." Die NZZ hat damit die politische und soziale Symbolik der Bewegung besser verstanden als manche institutionalisierte Praktiker des Asylrechts.

Eine Gelegenheit zur Intervention bietet auch die Diskussion um die Altersvorsorge. Wenn die Presse über die Unsicherheit der Pensionsgelder in Zusammenhang mit der Volatilität der Finanzmärkte schreibt (Le Temps, 17.1.2002: "Die zweite Säule ist durch die Börsenmärkte geschwächt"), so ist die Möglichkeit gegeben, die Forderung nach einer echten existenzsichernden Rente oder Volkspension wieder aufzustellen und zu propagieren, d.h. einer Sozialversicherung, die auf der Fusion der AHV (1. Säule) mit den Pensionskassen (2. Säule) aufbaut.

Auf einer anderen Ebene zeigt die Tatsache, dass sich die globalisierungskritische Bewegung immer noch weiter entwickelt, dass es möglich wäre, wieder eine anti-imperialistische Aktivität aufzubauen. Diese Aktivität könnte zunächst den Schweizer Imperialismus anprangern und zeigen, wie absurd der Diskurs über die "Verschlossenheit" der Schweiz in Tat und Wahrheit ist. Auf dieser Grundlage wäre es leichter für die "globale Widerstandsbewegung", eine internationale Solidarität mit konkreten Initiativen und eine Debatte über Alternativen zum Kapitalismus aufzubauen.

5. Entscheidend ist auch die Teilnahme an der Erarbeitung eines antikapitalistischen Horizonts, dies im kollektiven Dialog mit den Erfahrungen der weltweiten Kämpfe gegen verschiedene Ausprägungen der Unterdrückung und Ausbeutung. Es ist bezeichnend, dass am Weltsozialforum in Porto Alegre Workshops zum Thema Sozialismus und Zukunft gearbeitet haben. Dies ist nur ein kleiner Schritt, jedoch ein fundamentaler : Denn es gilt, die Reflexion über die Bedingungen und Formen voranzutreiben, unter denen sich die ProduzentInnen gemeinsam die Kontrolle über grundlegende Ressourcen der Erde und über ihre Verteilung wieder aneignen könnten, und diese an Hand anderer Kriterien verteilen könnten, als jene der privaten Verwertung des Kapitals. Ohne Erarbeitung einer Perspektive im Rahmen der weltweiten "sozialen Denkfabrik" kann es keinen politischen Niederschlag der Bewegungen geben ; der Niederschlag oder die politische Konkretisierung ist jedoch notwendig, wenn es darum geht, eine dauerhafte Kapazität zur Reflexion über die geführten Kämpfe und die anvisierten Ziele zu bilden.

Wir sind heute, insbesondere in der Schweiz, mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert : Wir müssen uns am Wiederaufbau einer Bewegung der Ausgebeuteten und Unterdrückten beteiligen, während die alte "ArbeiterInnenbewegung" mehr und mehr abstirbt, und wir müssen gleichzeitig, im Rahmen einer internationalen Debatte, an der Bildung einer politischen Kraft arbeiten, die die Erfahrungen kollektivieren und sie in die Erarbeitung eines aktualisierten Sozialismus einbauen kann.

 

Die Illusionisten

Die Leitung der Sozialdemo­kratischen Partei (SPS) und mit ihr die Spitze des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) konzipieren ihre Aktionen und Vorschläge immer mehr aus der Perspektive der besseren, sozialeren Verwalter der "nationalen" Interessen.

Die Ablehnung der "neoliberalen Exzesse", d.h. der "Exzesse" des Kapitalismus, die als unnormal betrachtet werden, stellt in dieser Optik die fortschrittlichste Position dar. Vasco Pedrina, Präsident der Gewerkschaft Bau & Industrie (GBI), legt sie uns in seinem Interview in der Gewerkschafts­presse, in dem verkündet wird, der Chef sei wieder da (travail et transport, 20.12.2001), noch einmal dar.

Vasco Pedrina hat im Ausland "noch keine Gewerkschaft angetroffen, die besser ist als die GBI". Er berichtet von seinem Aufenthalt in den USA und wie er dort die aktive Rolle der Gewerkschaftern bei der Anlage von Pensionskassen­gelder entdeckt hat : "Die Gewerk­schafter versuchen, eine gute Rendite der Anlagen mit einer Politik zu verbinden, die die Arbeitsbedingungen positiv beeinflusst". Der (Miss-) Erfolg dieser Strategie ist bekannt. Zu nennen sind hier der Konkurs des Enron-Giganten, aber auch das Verschwinden von Pensionsgeldern in den Fluggesellschaften. Vasco Pedrina sollte vielleicht einmal das Buch von Lucy Roberts (Les retraites aux Etats-Unis - Sécurité sociale et fonds de pension, La Dispute, Paris 2000), Expertin bei internationalen Organisationen zur sozialen Sicherheit in Genf, lesen.

Die Vorstellung, dass die 2. Säule ein Instrument der "sozialen Kontrolle" der Gewerkschaften über die Wirtschaft sei, ist ein Ladenhüter der rechten Sozial­demokratie. Sie wird heute von sogenannten modernistischen Strömungen der "ArbeiterInnen­bewegung" wieder aufgenommen, wie beispielsweise in Frankreich von Nicole Notat von der Gewerkschaft CFDT. Ihre Ideen wurden im übrigen, wie die französische Zeitung Liberation berichtet, vom Medef, dem Dachverband der französischen Unternehmer, übernommen. In der Schweiz hat die Zeitschrift Domaine public schon vor 30 Jahren diese Idee propagieren wollen. Die Fakten erlauben heute eine klare Beurteilung der Lage : Die 2. Säule ist ein Betrug, sie schwächt die Solidarität und schränkt die Lohnabhängigen ein. Der damalige freisinnige Bundesrat Hans Schaffner (zwischen 1961 und 1969 im Amt) hatte dies begriffen. Warum folgt der ehemalige "kämpferische Gewerkschafter" Vasco Pedrina den RedaktorInnen von Domaine public in ihrem Bestreben, den Platz der "modernen Bourgeoisie" einzunehmen, der in der Westschweiz frei geblieben ist ?

"Stachel" und Konsens

Andere politische Strömungen, die sich als "Stachel innerhalb der Linken" sehen - während sich die sogenannte "Linke" als "sozialen Stachel" der Bourgeoisie sieht - versuchen, auf der Welle der "so­zia­len Unzufriedenheit" zu navigieren. Diese Strömungen - die "SP-Linke" mit Pierre-Yves Maillard, ein Teil der Grünen, die Partei der Arbeit, die Alliance de Gauche in Genf, kantonale Bündnisse wie Popecosol in Neuenburg, Basta in Basel oder die Alternative Liste in Zürich - haben unter anderem für das Referendum gegen das Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) Anfang 2001 ein Bündnis gebildet. Dazu einige Feststellungen.

1. Die sogenannte "SP-Linke" - die sich als "Oltener Kreis linker SozialdemokratInnen" und Schwei­zer Sektion der Sozialen Republik Europa, des Bündnisses der "Linken" innerhalb der sozialdemokratischen Parteien Europas konstituiert hat (zu finden unter www.socialism.ch !) - ist in dieser Strömung, ausser gewissen Sektoren der Grünen, die einzige Kraft, die auf nationaler Ebene agiert… und natürlich innerhalb der SP verharrt. Dies sichert diesem Kreis eine zentrale Position. Ansonsten herrscht in dieser Strömung der lokale oder kantonale Horizont vor.

2. Die Stossrichtung der sogenannten "SP-Linken" ist sehr einfach zusammenzufassen : Nicht alles kann vermarktet werden - und man muss den Service public gegen den Markt verteidigen. Diese Position lässt elementare Fragen ausser acht : Welches ist die Funktion des Service public im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschaft ? Was ist von den existierenden öffentlichen Diensten zu halten ? Die Haltung der "linken" SozialdemokratInnen ist in Wirklichkeit viel konsensfähiger, als sie sich gibt. Die von dem "Oltener Kreis linker SozialdemokratInnen" herausgegebene Broschüre zum Referendum gegen das EMG (Energie für eine andere Politik. Nein zum EMG, 2001) macht dies deutlich. Diese Broschüre enthält Beiträge von Gewerkschafter Pierre-Yves Maillard sowie von Doris Schüepp, Generalsekretärin des Verbands des Personals öffentlicher Dienste (VPOD), einer der prominentesten Vertreterin der Gewerkschaftsbürokratie. Andere Beiträge tun diesen Aushänge­schildern keinen Abbruch.

Dies ist nicht überraschend. Die Verteidigung des Service public in seiner heutigen Form - von der Bourgeoisie entwickelt, nicht zu vergessen - gehört zur Standard­argumentation der Sozial­demokratie, nämlich : Man muss dem Kapitalismus gewisse Grenzen setzen. Das Thema ist heute zwar von dem Teil der Sozialdemokratie, der am stärksten in die neue kapitalistische Ordnung eingebunden ist, aufgegeben worden. Der Ruf nach Erhaltung des Service public ist heute jedoch zum Motto diverser "Stachel" innerhalb der "Linken" geworden. Diesen Kräften genügt der Verweis auf dieses Motto, um sie abzugrenzen. Gleichzeitig treten sich damit nicht in Konflikt mit ihrer effektiven Praxis, wenn sie sich an der kollegialen Verwaltung des "Gemeinwohls" beteiligen können.

3. Die "linken" Kräfte innerhalb der "Linken" haben faktisch ein Bestreben, das für jede "soziale Veränderung" grundlegend ist, aufgegeben : die Schaffung und Entwicklung von organischen Verbindungen mit den Lohn­abhängigen, die direkte Teilnahme an deren Organisation und an der Erarbeitung von gemeinsamen politischen Perspektiven. Die Bildung eines kollektiven sozialen Subjekts, ohne das eine radikale soziale Veränderung schlicht nicht denkbar ist, fällt bei diesen Kräften völlig ausser Acht.

Politische Institutionen - Parla­mente, Regierungen, Instrumente der halb-direkten Demokratie (Initiativen und Referenden) - sind zur Referenz geworden für diese Kräfte, die sich als den linken Akzent innerhalb der Sozial­demokratie sehen. Sie übernehmen - vielleicht unbewusst - die politische Agenda, die ihnen von den Institutionen vorgegeben wird. Im besten Fall sind sie ganz einfach schizophren : auf der einen Seite ein radikaler Diskurs, auf der anderen Seite die Zwangspraxis einer Parlamentsfraktion.

Schlimmer noch : Wenn diese Galionsfiguren der "linken Linken" sich in Positionen befinden, in denen sie die Möglichkeit hätten, mit den Lohnabhängigen Verbindungen zu knüpfen, so tun sie genau das gleiche wie die Bürokratie der SGB-Gewerk­schaften. Der Generalsekretär des SEV (Eisenbahnergewerkschaft) Jean Spielmann, Nationalrat der PdA / Alliance de gauche, hat sich letztes Jahr für den Gesamt­arbeitsvertrag der SBB stark gemacht, der ungefähr so verheerend ausgestaltet ist wie derjenige der Post. SMUV-Sekretär Pierre-Yves Maillard, Wortführer des "Oltener Kreises linker Sozial­demokratInnen", der als Reserve­kandidat für den Waadtländer Regierungsrat gehandelt wird, hat sich in kurzer Zeit einen soliden Ruf als Sozialplangestalter geschmiedet, dessen er sich in der Reihe der SMUV-Funktionäre nicht schämen muss, für die der Arbeitsfriede das höchste aller Ziele ist.