Wie in jeder Revolution verändert sich
die Situation von Stunde zu Stunde. Diese oder
jene Einschätzung wird in den kommenden
Stunden und Tagen mit Sicherheit überholt
sein, aber soviel steht fest: Das tunesische
und das ägyptische Volk schreiben die Seiten
der ersten Revolutionen dieses 21. Jahr-hunderts.
Sie lösen in der gesamten arabischen Welt
eine Schockwelle aus, von Algier bis Ramallah,
von Amman bis Sanaa im Jemen. Diese Revolutionen
sind unter den besonderen historischen Bedingungen
dieser Länder Ergebnis der Krise, die das
internationale kapitalistische System erschüttert.
„Elendsrevolten“ verbinden sich
mit einer immensen Mobilisierung für die
Demokratie. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise
in Verknüpfung mit der Unterdrückung
durch die Diktaturen machen diese Länder
in der gegenwärtigen Lage zu den schwachen
Kettengliedern der imperialistischen Unterdrückung.
Dadurch sind die Bedingungen für Prozesse
von demokratischen und sozialen Revolutionen
entstanden.
Demonstrationen, Streiks, Versammlungen, Komitees
zur Selbstverteidigung, Mobilisierungen der
Gewerkschaften und demokratischen Verbände,
Mobilisierung der Volksklassen, von „denen
unten“ und „denen in der Mitte“,
die auf die Seite der Erhebung übergehen,
„die oben können nicht mehr regieren
wie bisher“, ein Zusammengehen der Parteien
der radikalen Opposition gegen das System –
das sind alle Bestandteile von vorrevolutionären
oder revolutionären Situationen, die jetzt
ausbrechen.
Jetzt
ist Ägypten an der Reihe, wo Millionen
von Arbeitenden, jungen Menschen, Arbeitslosen
sich gegen die Mubarak-Diktatur erheben.
In
Tunesien ist eine blutige Diktatur weggefegt
worden. Sie hat den Hass einer ganzen Gesellschaft,
der Volksklassen und vor allem der Jugend gebündelt.
Mit dem Regime von Ben Ali, seiner Repression,
seiner Korruption, seiner sozialen Ungerechtigkeit,
dem von allen imperialistischen Mächten,
von Frankreich, den USA, der Europäischen
Union unterstützten System musste Schluss
gemacht werden.
Die
gleiche Bewegung überflutet jetzt Ägypten.
Zwischen den beiden Ländern gibt es selbstverständlich
historische Unterschiede. Ägypten ist das
bevölkerungsreichste Land der arabischen
Welt. Es hat eine entscheidende geostrategische
Stellung im Nahen Osten. Die staatlichen Strukturen,
die Institutionen, die Rolle der Armee sind
anders. Aber eine gleichartige Grundbewegung
hat die beiden Länder erfasst.
Die
tunesischen Massen konnten ein Wirtschafts-system,
das sie hungern ließ, das eines „guten
Schülers der Weltwirtschaft“, wie
Herr Strauss-Kahn sich ausdrückte, nicht
länger ertragen. Der steile Anstieg der
Preise für Grundnahrungsmittel, fast 30
% Arbeitslosigkeit, Hunderttausende von Jugendlichen
mit Ausbildung und Qualifikation, aber ohne
Stellen haben den Nährboden für eine
soziale Revolte dargestellt, der durch die Kombination
mit einer politischen Krise zu einer Revolution
geführt hat.
Von
2006 bis 2008 hat es Preissteigerungen für
alle wesentlichen Produkte gegeben, darunter
Reis, Weizen und Mais. Der Preis für Reis
ist in fünf Jahren auf das Dreifache angestiegen,
von ungefähr 600 $ pro Tonne 2003 auf über
1800 $ pro Tonne im Mai 2008. Die jüngste
Erhöhung der Getreidepreise ist geprägt
durch den sprunghaften Anstieg des zusammengesetzten
Indexes für Lebensmittel um 32 Prozent,
der in der zweiten Hälfte des Jahres 2010
zu verzeichnen war. Der starke Anstieg der Preise
für Zucker, Getreide und Ölpflanzen
hat weltweit die Preise der Nahrungsmittel im
Dezember auf ein Rekordhoch ansteigen lassen,
das die Zahlen von 2008, die Unruhen in verschiedenen
Teilen der Welt ausgelöst hatten, noch
übertraf.
IWF
und WTO verlangen zugleich die Aufhebung aller
Zollschranken und die Einstellung sämtlicher
Subventionen für Lebensmittel. Der spekulative
Anstieg der Nahrungsmittelpreise hat also einen
Prozess der Schaffung von Hunger in einem beispiellosen
Umfang begünstigt, von dem eine ganze Reihe
von Ländern in Afrika und der arabischen
Welt betroffen sind.
Ägypten
hat die Auswirkungen dieses Hinauf-schnellens
der Preise für Nahrungsmittel ebenfalls
zu spüren bekommen. Der Wirtschaft gelingt
es nicht, genug Arbeitsplätze zu schaffen,
um den Bedürfnissen der ägyptischen
Bevölkerung zu entsprechen. Die seit 2000
umgesetzte neoliberale Politik hat zu einem
Anschwellen der Ungleichheit und einer Verarmung
von Millionen Familien geführt. Trotz eines
Wirtschaftswachstums von 5 % leben 25 % der
Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.
Fast 40 % der 80 Millionen Ägypter und
Ägypterinnen leben weiterhin von 2 Dollar
pro Tag. Und 90 % der Arbeitslosen sind junge
Menschen unter 30 Jahren.
Bemerkenswert
ist außerdem, dass der nationale ägyptische
Gewerkschaftsverband, dessen Führungs-kräfte
von der Regierung eingestellt worden sind, die
Regierung in den beiden Wochen nach der Erhebung
in Tunesien zum Teil hat fallen lassen. Er wollte
eine Preiskontrolle, Lohnerhöhung und ein
System für die subventionierte Verteilung
von Nahrungsmitteln, da die Menschen grundlegende
Produkte wie Tee oder Speiseöl nicht mehr
bekommen konnten. Dass die Gewerkschaftsführung
so etwas fordert, ist beispiellos, haben diese
Leute doch vorher den Neoliberalismus unterstützt.
Das ist die Auswirkung der Ereignisse in Tunesien.
Dort
hat die Revolution tiefe Wurzeln: Die gegen-wärtige
soziale Revolution ist Ergebnis eines Zyklus
von Mobilisierungen und Bewegungen, die ihre
Stärke aus der Geschichte der Kämpfe
des tunesischen Volks und seiner Organisationen
beziehen, vor allem der Bewegung der Studierenden,
der zahlreichen Verbände für die demokratischen
Rechte und Freiheiten und zahlreicher Sektoren
des Gewerkschaftsverbands UGTT (Generalunion
der tunesischen ArbeiterInnen).
1999
hat es den Kampf von bestimmten Persönlichkeiten
für ihre Meinungs- und Reisefreiheit gegeben,
2000 die Schülerbewegungen, 2001 die Mobilisierungen
gegen den Irakkrieg, 2002/2003 die zweite Intifada,
2008 die Streiks und Demonstrationen in Gafsa,
im Juni 2010 in Ben Guerdane und dann Ende 2010
Sidi Bouzid, wo der Weg zur Revolution betreten
wurde.
Es
ist eine historische Entwicklung, die mit der
Kombination von sozialer Revolte und Sturz der
Diktatur begonnen hat, die jetzt aber ihren
Weg sucht, um weiter zu gehen. Es ist eine radikale
demo-kratische Revolution, die antikapitalistische
soziale Forderungen enthält.
Ben
Ali musste fliehen, aber die wesentlichen Teile
seines Polizeisystems sind noch an Ort und Stelle.
Die Stärke der Mobilisierung hat die alten
Gefolgsleute von Ben Ali nach und nach zum Ausscheiden
aus der Regierung gezwungen, aber bis zu der
Stunde, in der dieser Text entsteht, ist Mohammed
Ghannouchi aus dem Umfeld Ben Alis nach wie
vor Premierminister.
Die
Revolution will nun eben weiter gehen: Mit den
Forderungen „RCD abtreten!“ und
„Ghannouchi, tritt ab!“ soll das
gesamte politische System, sollen sämtliche
Institutionen, soll der Repressionsapparat von
Grund auf erneuert werden. Es muss Schluss sein
mit dem ganzen System von Ben Ali, demokratische
Rechte und Freiheiten müssen hergestellt
werden: Meinungsfreiheit, Streikrecht, Demonstrationsfreiheit,
Pluralismus der Vereinigungen, Gewerkschaften
und Parteien.
Abschaffung
des Präsidentenamts, Einsetzung einer provisorischen
revolutionären Regierung! Schluss mit der
Diktatur sowie mit allen Operationen, mit denen
die Macht der herrschenden Klassen gerettet
werden sollen, erfordern jetzt die Einleitung
eines Prozesses von freien Wahlen für eine
verfassungsgebende Versammlung. Damit dieser
Prozess nicht von einer neuen Macht der Oligarchien
mit Beschlag belegt wird, muss er sich auf die
Organisierung von Komitees, Koordinationen und
Räten des Volks stützen, die aus der
Revolution hervorgegangen sind.
In diesem Prozess treten die Antikapitalisten
und Antikapitalistinnen für die zentralen
Forderungen eines Programms des Bruchs mit dem
Imperialismus und dem kapitalistischen System,
zur Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse
der Volksklassen ein – Brot, Löhne,
Arbeitsplätze; Umstrukturierung der Wirtschaft
nach den grundlegenden gesellschaftlichen Bedürfnissen
– qualitativ gute und kostenlose öffentliche
Dienste, Bildungswesen, Gesundheits-wesen, Rechte
der Frauen, radikale Landreform, Vergesellschaftung
der Banken und der Schlüsselsektoren der
Wirtschaft; Ausweitung des sozialen Sicherungssystems
– Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Renten;
Streichung der Schulden und nationale und Volkssouveränität.
Dies ist das Programm für eine demokratische
Regierung im Dienst der Arbeitenden und der
Bevölkerung.
Gleichzeitig
organisieren die Lohnabhängigen und die
Jugendlichen ihre eigenen Versammlungen und
Komitees, sei es zur Organisierung des Schutzes
der Stadtteile, um führende RCD-Leute aus
der Verwaltung oder aus den Großunternehmen
zu verjagen, die Verteilung von Nahrungsmitteln
zu organisieren. Die kämpferischsten und
radikalsten Sektoren müssen all diese Strukturen
der Selbstorganisation unterstützen, fördern
und koordinieren. Dies sind Stützen für
die Errichtung einer demokratischen Macht der
Volksklassen.
In
den Stunden, in denen wir diese Erklärung
schreiben, befindet sich Ägypten im Zustand
des Aufstands. Trotz einer blutigen Repression
breitet sich die Welle der Mobilisierung des
Volks aus. Millionen von Demonstrierenden sind
auf den Strassen von Kairo, aber auch von Alexandria
und Suez. Die Büros der Partei an der Macht
werden angegriffen und zerstört. Der Hass
gegen das Mubarak-System, die totale Ablehnung
der Korruption, die Forderung nach Erfüllung
der lebenswichtigen sozialen Forderungen gegen
die Preiserhöhungen haben die Mobilisierung
aller Volksklassen geschaffen und befördert.
Die Macht wankt. Der von den USA gestützte
Generalstab der Armee versucht einen Eigenputsch,
indem er Mubarak Omar Suleiman an die Seite
stellt, den Chef der Geheimdienste, eine Säule
des gegenwärtigen Systems. Die Armee steht
jetzt unter Spannung. Es waren Szenen der Fraternisierung
zwischen Volk und Soldaten zu sehen. Doch kann
die Führung der Armee in Anbetracht der
Entschlossenheit der Ägypter und Ägypterinnen
sich auch für Konfrontation und blutige
Repression entscheiden. Die Forderungen von
Millionen und Abermillionen ist klar und eindeutig:
Mit der Diktatur muss Schluss sein. Mubarak
muss weg, aber die ganze Diktatur, der gesamte
Repressions-apparat muss weggefegt werden, ein
demokratischer Prozess mit allen Rechten und
Grundfreiheiten muss eingeleitet werden. Der
nächste Schritt ist der nationale Aktionstag,
zu dem für Dienstag, den 1. Februar aufgerufen
wird.
Die
gegenwärtige Bewegung ist die bedeutsamste
seit den Brotunruhen von 1977, doch auch dort
hat die Bewegung tiefe Wurzeln.
Seit
30 Jahren hält Mubarak an einem diktatorischen
Regime fest, das Oppositionelle ins Gefängnis
bringt und ermordet, jede unabhängige Äußerung
der sozialen Bewegung und der politischen Opposition
unterdrückt. Jüngstes Beispiel ist
die Wahlmaskerade vom November 2010 gewesen,
die von der Nationaldemokratischen Partei vollständig
kontrolliert wurde und aus der sie mit 80 %
der Mandate hervorgegangen ist. In den letzten
Jahren hat es bedeutende Streikbewegungen gegeben
(vor allem die der Textilarbeiter und –arbeiterinnen
in El Mahalla), Generalstreiks sowie Demonstrationen
und Proteste verschiedener sozialer Bereiche,
wichtige antiimperialistische Mobilisierungen
gegen die militärische Besetzung des Iraks
und Afghanistans 2004; das waren Anzeichen für
die Ablehnung und Isolierung eines Regimes,
das von den USA und der Europäischen Union
mit ausgestreckten Armen unterstützt wird.
Mit
Israel und Saudi-Arabien ist Ägypten eine
der drei Säulen der imperialistischen Politik
in der Region. Die USA, Israel und Europa werden
sich zusammentun, um zu verhindern, dass Ägypten
sich ihrer Einflusssphäre entzieht, und
sie werden alles tun, um sich einer revolutionären
Entwicklung der Proteste entgegen zu stemmen.
Die
tunesische Revolution hat die arabische Region
angesteckt. Für eine ganze Generation ist
dies ihre erste Revolution. Mit der Erhebung
des ägyptischen Volks kann jetzt alles
umkippen. Die Mobilisierung wird zweifelsohne
in der gesamten Region Widerhall finden, an
erster Stelle durch Ermutigung des palästinensischen
Volks, trotz der schändlichen Erklärungen
von Mahmud Abbas.
Jetzt
ist eine Mauer der Solidarität um die revolutionären
Prozesse notwendig, die über Tunesien und
Ägypten hinweg fegen, begleitet von einer
aktiven Solidarität mit den Mobilisierungen
in der gesamten arabischen Welt. Üble Schläge
seitens des Repressionsapparats von Ben Ali
sind nicht auszuschließen, die Drohungen
seines Freunds Gaddafi können nicht ignoriert
werden. Zudem kann der Generalstab der Armee,
wenn das Regime sich für Konfrontation
entscheidet, eine blutige Repression lostreten.
Wegen
der Vertiefung des revolutionären Prozesses
können die westlichen Mächte wie die
herrschenden Klassen versuchen, die Dinge wieder
in den Griff zu bekommen, indem die immense
Hoffnung zerschlagen wird.
Das
tunesische und das ägyptische Volk müssen
auf die gesamte internationale Arbeiterbewegung
und die gesamte globalisierungskritische Bewegung
zählen können. In den Gewerkschaften,
den Verbänden, den Linksparteien müssen
die Kämpfe dieser Völker und die Revolte,
die sich in der arabischen Region vernehmbar
macht, Unterstützung finden.
Es
lebe die tunesische Revolution, es lebe die
ägyptische Revolution! Solidarität
mit den Kämpfen der Völker in der
monde arabischen Welt! |