Der
neue Arbeitsvertrag entspricht im Wesentlichen
jenem, der vor einem halben Jahr schon der Belegschaft
des Fiat-Werks bei Neapel aufgenötigt wurde.
Er beinhaltet flexiblere Arbeitszeiten im Dreischichtbetrieb,
weniger Pausen und den ausdrücklichen Verzicht
auf spontane Streiks. Sollte er im Referendum
keine Mehrheit finden, so die Drohung der Konzernleitung,
werde die Autoproduktion aus Turin abgezogen.
Hier
die Einzelheiten des neuen Vertrags: Statt wie
bisher in zehn Schichten wöchentlich, wird
bei Fiat künftig in 18 Schichten, d.h.
drei Schichten täglich produziert, von
Montag früh um sechs bis zum darauf folgenden
Sonntagmorgen um sechs; der Sonntag bleibt frei.
Die
Arbeitszeit beträgt offiziell vierzig Wochenstunden.
Laut Vertrag können den Arbeitern aber
bis zu 120 Überstunden jährlich abgefordert
werden. Da der Samstag normaler Regelarbeitstag
ist, gibt es jede zweite Woche abwechselnd zwei
Tage frei. Jede Arbeitsminute ist kostbar: So
gibt es in einer Achtstundenschicht nur noch
zwei (statt bisher drei) Pausen à zehn
Minuten. Die Essenspausen werden ans Ende der
Schicht gerückt. Die Krankenzeiten sind
streng begrenzt, bei zu hohen Fehlzeiten wird
das Krankengeld gekürzt.
Ein
vergleichbarer Vertrag war im vergangenen Sommer
schon den Arbeitern von Pomigliano D’Arco
bei Neapel zur Abstimmung vorgelegt worden.
Damals wurde behauptet, nur durch eine solche
„Ausnahmeregelung“ sei es möglich,
die Panda-Produktion aus dem polnischen Tichy
zurück nach Italien zu holen und die drohende
Werksschließung zu verhindern. Unter diesem
Damoklesschwert stimmten damals 62 Prozent der
Arbeiter zu.
Jetzt
soll die „Ausnahme“ auch für
das Stammwerk in Turin-Mirafiori zur Regel werden.
Ist der neue Vertrag hier erst einmal durchgesetzt,
wird er zweifellos rasch auf alle 22.000 Fiat-Beschäftigten
in Italien angewandt werden. Dann gewinnt der
Knebelvertrag Modellcharakter für die italienische
Industrie schlechthin und könnte den nationalen
Manteltarifvertrag außer Kraft setzen.
Dieser war 1970 in einem wochenlangen, erbitterten
Arbeitskampf ausgerechnet von den Turiner Fiat-Arbeitern
erkämpft worden, die ihm jetzt das Grab
schaufeln sollen.
Der
neue Fiat-Vertrag verletzt den nationalen Manteltarif
gleich mehrfach, sowohl durch die hohe Zahl
der Überstunden als auch durch das Streikverbot
und den willkürlichen Ausschluss gewählter
Vertreter aus den Montagehallen. Im Betrieb
werden nämlich nur noch jene Arbeitnehmervertreter
zugelassen, die dem neuen Vertrag ausdrücklich
zugestimmt haben. So werden zum Beispiel Delegierte
der Metallgewerkschaft Fiom, die dem größten
Gewerkschaftsverbands CGIL angehört, nicht
mehr zu Verhandlungen eingeladen und aus den
Werkshallen verbannt, weil Fiom den Vertrag
bisher nicht unterzeichnet hat.
Um
den nationalen Tarifvertrag zu unterlaufen,
ist Fiat zwar aus dem Unternehmerverband Confindustria
ausgetreten, doch der Konzern hat die Zustimmung
vieler italienischer Unternehmer. Von der regierungsnahen
und wirtschaftsfreundlichen Zeitung Il Sole
24 Ore wurde Fiat-Chef Sergio Marchionne zum
„Unternehmer des Jahres“ gekürt.
Seine Offensive gegen die Arbeiter von Turin
wird nicht nur von der Bourgeoisie, sondern
auch der Berlusconi-Regierung mit großem
Interesse verfolgt.
Der
Angriff auf die Belegschaft von Turin-Mirafiori
ist ein wichtiger Bestandteil der Strategie
Marchionnes im Kampf um globale Absatzmärkte
gegen Konkurrenten wie Volkswagen und General
Motors oder gegen japanische und koreanische
Autobauer. Zu diesem Zweck will er einerseits
die Kosten senken, während er gleichzeitig
eine engere Zusammenarbeit und eine mögliche
Fusion mit dem US-Autobauer Chrysler anstrebt,
um auf dem Weltmarkt stärker präsent
zu sein.
Zum
Jahresanfang wurde der Fiat-Konzern aufgespaltet
und zwei parallele Gesellschaften an die Börse
gebracht, eine für PKW und eine für
Nutzfahrzeuge. Seither gehört die Produktion
von Personenwagen zur so genannten Fiat SpA,
während Fiat Industrial für die (bisher
profitablere) Produktion von Lastwagen und Baumaschinen
zuständig ist.
In
Turin plant Fiat den Bau eines neuen Jeep und
eines Alfa Romeo in einem Joint Venture mit
Chrysler. Das Ziel ist ein doppelt so hoher
PKW-Ausstoß wie bisher. Fiat hält
derzeit zwanzig Prozent am amerikanischen Chrysler-Konzern
und will diesen Anteil 2011 vergrößern.
Für das Fiat-Chrysler-Projekt im Stammbetrieb
Turin-Mirafiori will der Konzern eine Milliarde
Euro investieren – sofern es gelingt,
die Ausbeuterbedingungen bei den Arbeitern durchzusetzen.
In
einem klaren Fall von Erpressung drohte Marchionne,
bei Ablehnung des Knebelvertrags werde er die
Autoproduktion in Mirafiori einstellen: „Wenn
51 Prozent dagegen sind“, so Marchionne,
„ziehe ich die Produktion ab.“ Dann
werde bei Chrysler in den Vereinigten Staaten
produziert. Dort hätten die Gewerkschaften
kapiert, „dass die Arbeitsplätze
ihrer Mitglieder vom Erfolg des Unternehmens
am Weltmarkt abhängen“.
Chrysler
und die anderen beiden großen US-Autokonzerne
waren nach Ausbruch der jüngsten Wirtschaftskrise
zeitweise unter die Regie der Obama-Regierung
gestellt worden, die in enger Zusammenarbeit
mit der Autogewerkschaft UAW fünfzigprozentige
Lohnsenkungen erzwungen hatte.
Trotz
der massiven Erpressung ist der Ausgang des
Referendums in Turin-Mirafiori nicht von vorneherein
sicher. Etwa fünfzehn Prozent der Beschäftigten
sind in der Fiom organisiert, rund 38 Prozent
bei den anderen Gewerkschaften und 47 Prozent
gehören keiner Gewerkschaft an.
Aus
diesem Grund rühren die katholischen und
„gelben“ Gewerkschaften (Fim, UILM,
Fismic und UGL), die den neuen Vertrag am 23.
Dezember unterzeichnet haben, fleißig
die Werbetrommel. Bezeichnend ist zum Beispiel
die Äußerung von Raffaele Bonanni,
dem Vorsitzenden des christlichen Gewerkschaftsverbands
CISL, der erklärte, der Vertrag garantiere
„eine Milliardeninvestition; er ist endlich
ein positives Zeichen für Italien“.
Die
Gewerkschaftsführer locken in Zeitungsinterviews,
bei voller Auslastung der Montagebänder
könnten Arbeiter in Zukunft bis zu 300
Euro monatlich mehr verdienen. Dabei verschweigen
sie geflissentlich, was ein solcher, rund um
die Uhr ausgeführter Knochenjob für
die Gesundheit bedeutet.
Die
größte Metallgewerkschaft Fiom-CGIL
hat bisher ihre Unterschrift unter den Vertrag
verweigert. Sie schiebt, wie schon in Pomigliano
d’Arco, den schwarzen Peter den Arbeitern
zu, die jetzt über das Referendum entscheiden
müssen.
Sollte
unter dem Damoklesschwert der Massenentlassungen
eine Mehrheit dem Vertrag zustimmen, werden
die Funktionäre die Verantwortung dafür
den Arbeitern selbst in die Schuhe schieben.
So erklärte die nationale CGIL-Sekretärin
Susanna Camusso am 2. Januar in Rom: „Sollte
die Mehrheit dafür stimmen, dann muss man
das Ergebnis akzeptieren.“
Die
Fiom- und CGIL-Funktionäre haben zwar den
Vertrag bisher nicht unterzeichnet, doch sind
sie von einer prinzipiellen Opposition meilenweit
entfernt. Mit einem achtstündigen Generalstreik,
den diese Gewerkschaften für den 28. Januar
angesetzt haben, wollen sie vor allem ein Ventil
für die zu erwartende Wut und Frustration
der Arbeiter schaffen.
Der
Fiat-Konzern hat Produktionsstätten in
Italien, Polen, Brasilien und den Vereinigten
Staaten. In all diesen Werken sind die Arbeiter
mit der Erpressung der Konzernleitung konfrontiert.
Doch statt die Fiat-Arbeiter mit ihren internationalen
Kollegen zusammenzuschließen und gemeinsam
gegen die Angriffe zu mobilisieren, konzentrieren
sich die Gewerkschaftsfunktionäre darauf,
den Konzern in Italien aus den roten Zahlen
herauszubringen.
Wie
mehrere Fiom- und CGIL-Führer in einem
Brief schreiben, wollen sie „eine breite
kollektive Reflexion darüber anstreben,
welche Instrumente und welche Strategie in diesem
Kampf anzuwenden seien, um ein adäquates
Modell der Arbeitsverhältnisse und der
Demokratie am Arbeitsplatz wiederherzustellen“.
Dabei
können sie sich auf eine Analyse stützen,
die 46 Wirtschaftswissenschaftler und Universitätsdozenten
erstellt haben. Die 46 Akademiker, die zum großen
Teil dem Mitte-Links-Lager angehören oder
nahe stehen, kritisieren den neuen Fiat-Vertrag
in einem offenen Brief unter dem Titel „Mit
Demokratie besser produzieren und arbeiten“.
Darin bezeichnen sie ihn als „vorindustrielle
Strategie von Marchionne und der Familie Agnelli“,
die keine überzeugende Strategie für
die Zukunft enthalte. Um die Autoproduktion
in Italien zu sichern, so die Autoren, sei ein
größeres Engagement in Forschung
und Entwicklung nötig.
„Es
scheint, dass der Vertrag nicht dazu taugt,
die Produktion anzukurbeln und die Qualität
zu verbessern“, schreiben sie. Sie kritisieren,
dass sich Fiat über den nationalen Arbeitsvertrag
hinwegsetzt und Gewerkschaften willkürlich
aus dem Konzern ausschließt. „Dazu
gibt es Alternativen“, fahren sie fort,
und verweisen auf den deutschen Volkswagen-Konzern,
dessen Krisenstrategie gemeinsam mit den Gewerkschaften
abgestimmt sei und hohe Qualität und Flexibilität
der Produktion garantiere. |