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Politische Ökonomie des "Euro-Systems"

Michel Husson - aus Inprekorr 5/2012, September/Oktober 2012


Dieser Artikel soll zeigen, wie die aktuelle Krise der Euro-Zone Fehler im ursprünglichen Entwurf des „Euro-Systems“ aufdeckt, dessen von der Finanzkrise enthüllte Widersprüche struktureller Natur sind. Diese Darstellung soll eine analytische und statistische Methodik entwickeln, was dieser Studie einen etwas „technischeren“ Charakter gibt. Aber es ist ein notwendiger Schritt hin zu einer tiefer gehenden Diagnose der möglichen Ergebnisse der aktuellen Krise und vor allem ihrer spezifisch europäischen Dimension. Diese Krise hat tiefere Wurzeln als die Symptome, in denen sie sich ausdrückt, nämlich als Schuldenkrise. Daher gibt es nur zwei Lösungen die dem strukturellen Charakter der europäischen Krise angemessen sind: entweder ein Zerbrechen des Euro-Systems oder seine radikale Neugründung. Alle anderen beschränken sich darauf, die Widersprüche auf der Zeitachse auszubreiten oder eine sozial inakzeptable Regression zu planen.

Das Euro-System bezeichnet hier die Gesamtheit der Einheitswährung und der ihre Einführung begleitenden Regeln (die meisten davon betreffen die gesamte Europäische Union), insbesondere den Fiskalpakt, die der Europäischen Zentralbank (EZB) übertragenen Funktionen, die Beschränkung des europäischen Haushalts und die Ablehnung der Harmonisierung.

Die Analyse umfasst elf Länder, darunter die Mitgliedsländer des Euro- Währungsraums bei seiner Bildung im Jahr 1999, ausgenommen Luxemburg und einschließlich Griechenland, das erst 2001 hinzukam.1 Man unterscheidet zwei Hauptgruppen von Ländern.2 Der „Norden“ umfasst fünf Länder: Deutschland, Österreich, Belgien, Finnland und die Niederlande. Unter dem „Süden“ versteht man Spanien, Griechenland, Irland, Italien und Portugal. Das elfte Land ist Frankreich, das man beiseitelässt, weil es meist eine Zwischenstellung einnimmt.

1. Eine inkohärente Konstruktion

Die Einführung des Euro war von zwei Grundregeln begleitet: der Festlegung von Haushaltsmaßstäben (3 % des BIP für das Defizit, 60 % für die ausstehenden Schulden) und von Modalitäten für das Funktionieren der EZB (Unabhängigkeit, ein einziges Ziel (Kontrolle der Inflation) und das Verbot der Finanzierung der öffentlichen Defizite. Unter diesen Bedingungen, wo das Instrument der Wechselkurse verschwunden war, blieben als einzige Stellgröße nur die Löhne, weshalb man im Übrigen auch von „interner Abwertung“ spricht, um die Politik der Lohnkürzungen zu benennen.

Diese Konstruktion basiert auf einer Hypothese, die von einer Reihe von Ökonomen schon damals abgelehnt wurde, und viele haben dies später auch entdeckt. Diese Hypothese war, dass die haushalts- und lohnpolitische Disziplin zusammen mit der Liberalisierung der Kapitalströme ausreichen würde, um die wirtschaftliche Konvergenz der an der Euro-Zone beteiligten Parteien zu gewährleisten.

Es lief nicht so wie geplant, und das Ziel dieses Artikels ist es, die Verkettungen zu verstehen, die zu der gegenwärtigen Krise geführt haben, die an den Grundlagen des Euro-Systems selbst rüttelt. Wir sehen hier ein scheinbares Paradoxon: Die Länder des Südens erleben einen Verfall ihrer preislichen Wettbewerbsfähigkeit, obwohl die Lohnquote3 in diesen Ländern sank. Diese Feststellung weist auf ein umfassenderes Phänomen, das als Ausgangspunkt dient: die Inflationsraten sind nicht konvergiert, trotz eines allgemeinen Rückgangs der Anteil der Löhne am Mehrwert (Husson, 2010). Dieser Trend bedeutet, dass die Reallöhne langsamer als die Arbeitsproduktivität gewachsen sind, anders gesagt dass die an den Lohnkosten gemessene Wettbewerbsfähigkeit a priori keinen Grund hat, sich wegen einer Lohnsteigerung zu verschlechtern. Lohnzurückhaltung hat tatsächlich eine Rolle gespielt, war aber alleine nicht ausreichend, um für die Konvergenz der Inflationsraten sorgen.

Allerdings kann sich die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes auf zweierlei Weise verschlechtern: entweder, indem die Lohnstückkosten4 des betrachteten Landes schneller steigen als die seiner Konkurrenten oder indem die Inflation in diesem Land höher ist. Die erste Ursache ist ausgeschlossen: Im Allgemeinen sind die realen Lohnstückkosten gleich geblieben oder haben sich aufgrund sinkender Lohnquote verringert. Nehmen wir das Beispiel Griechenland. Man kann feststellen, dass die Lohnquote seit Mitte der 1980er Jahre eine rückläufige Tendenz hat und dass sich dies nach Einführung des Euro im Jahr 2001 fortgesetzt hat. Nur in den Jahren vor der Krise begann sie zu steigen (Abbildung 1). Das gleiche Diagramm zeigt, dass die Entwicklung der realen Lohnstückkosten eine ähnliche Entwicklung genommen hat. (Abbildung 1)

Unter diesen Bedingungen konnte sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands trotz übermäßigen Anstiegs der Reallöhne, also über die Steigerung der Produktivität hinaus, nicht verschlechtern. Daher müssen wir annehmen, dass dies das Ergebnis eines noch stärkeren Anstiegs des Preisniveaus ist. Dies lässt sich in Abbildung 2 überprüfen: der Verlust der preislichen Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Durchschnitt des Euro- Raums liegt nicht an Lohnsteigerungen, sondern im Wesentlichen an einem noch schnelleren Anstieg der Preise. (Abbildung 2)

Diese erste Linie wurde für den begrenzten Fall von Griechenland herausgearbeitet, kann aber auf die gesamte Zone verallgemeinert werden. In allen Ländern, fast ohne Ausnahme, ist die Situation ähnlich: Die realen Lohnstückkosten ändern sich relativ wenig, so dass der wesentliche Teil des Anstiegs der im aktuellen Euro ausgedrückten Lohnstückkosten auf Preiserhöhungen zurückzuführen ist. Der Nord-Süd-Vergleich zeigt zwei Phänomene: Im Süden sind die realen Lohnstückkosten nahezu konstant, während sie im Norden sinken, vor allem aufgrund der in Deutschland verfolgten Lohnstopp-Politik. Aber bei ansonsten gleichen Bedingungen sind die Länder des Südens durch einen schnelleren Preisanstieg charakterisiert (Abbildung 3).

Eine solche Sichtweise erlaubt es, unsere beiden ersten Beobachtungen in Einklang zu bringen. Im letzten Jahrzehnt zeigt die Entwicklung der Lohnquote in keinem Land der Zone Anzeichen einer „Lohnexplosion“. Anders gesagt sind die Reallöhne entsprechend der Arbeitsproduktivität gestiegen. Allerdings sind die Inflationsraten sehr unterschiedlich und haben die Bandbreite der Lohnstückkosten stark erweitert, die die Wettbewerbsfähigkeit des jeweiligen Landes definieren.

Diese Feststellung legt nahe, als Ausgangspunkt für die Analyse das Vorliegen einer in jedem Land spezifischen „strukturellen Inflation“ anzunehmen. Ein solcher Ansatz findet sich insbesondere in den Arbeiten von Jacques Sapir (Sapir, 2006 und 2011) und einer aktuellen Studie zweier Forscher der Asian Development Bank (Felipe, Kumar, 2011).

2. Die Determinanten der strukturellen Inflation

Das Ziel einer Wirtschaftsunion zwischen Ländern unterschiedlichen Entwicklungsstandes ist a priori, zu einer Form der Harmonisierung und Konvergenz zu kommen. Dieser Aufholprozess bedeutet schnelleres Wachstum in weniger entwickelten Ländern, das in der Regel von einer höheren Inflationsrate begleitet wird. Diese Feststellung enthält auch einen Anfangswiderspruch des gewählten Wegs: wie kann man das Ziel der Konvergenz, die von differenzierten Inflationsraten begleitet ist, in Einklang bringen mit der Einführung einer Einheitswährung, die implizit die Konvergenz der Inflationsraten voraussetzt?

Der Aufholprozess hat stattgefunden. Die Analyse des Zeitraums 1990- 2008 zeigt, dass Länder, die 1990 das niedrigste BIP pro Kopf hatten, auch die höchsten Wachstumsraten verzeichneten. Aber dieses Aufholen war von höherer Inflation begleitet: Zwischen 2000 und 2008 stiegen die Preise um 18,2 % in der gesamten Euro- Zone, aber um 27 % im Süden gegenüber 11,8 % im Norden. Frankreich liegt über dem Durchschnitt (18,4 %), Deutschland deutlich darunter (8,3 %).

Diese erste Erklärung der strukturellen Inflation kann mit anderen kombiniert werden, die interne Faktoren der jeweiligen Ökonomien berücksichtigt. Die erste betrifft die Dynamik zwischen dem verarbeitenden Gewerbe und dem Rest der Wirtschaft. Es gibt im Allgemeinen eine Produktivitätsdifferenz zwischen diesen beiden großen Sektoren. Wir nehmen an, dass der Reallohn im verarbeitenden Gewerbe in der Regel an eine schneller wachsende Arbeitsproduktivität gebunden ist. Im Rest der Wirtschaft kann man zwei unterschiedliche Fälle unterscheiden.

Wenn der Reallohn an eine langsamer wachsende Produktivität gebunden ist, dann findet sich der Unterschied in der Produktivität zwischen den Sektoren in einem Unterschied im Lohnwachstum wieder. Aber es ist auch möglich, dass die Löhne im verarbeitenden Gewerbe als Motor wirken und die Löhne im Rest der Wirtschaft mitziehen. In diesem Fall, in dem der Lohnanstieg die Produktivitätssteigerung übertrifft, wird die Inflation beschleunigt. Es gibt eine umfangreiche Literatur zu diesem Thema, und die Fälle können komplexer sein, wobei dann auch die relativen Preise zwischen den einzelnen Sektoren eine Rolle spielen. Aber der allgemeine Gedanke ist ganz einfach: die Ausbreitung der Gewinne durch Produktivitätssteigerungen, in Form von Löhnen, aus Sektoren, wo sie am höchsten sind, in den Rest der Wirtschaft, ist eine Quelle der Inflation. Um diese Kausalität zu erfassen, können wir einen einfachen Indikator benutzen: das Lohngefälle, berechnet als durchschnittliche Differenz zwischen dem realen Lohnwachstum in der Gesamtwirtschaft und im verarbeitenden Gewerbe im Zeitraum 1995- 2007. Man sieht, dass es eine enge und klar getrennte Bindung zwischen den zehn Ländern (mit Ausnahme Irlands, wegen fehlender Daten) des Nordens und des Südens gibt.

Die Inflation kann auch das Produkt eines Verteilungskonflikts sein, der umso ausgeprägter ist, je ungleicher die Einkommensverteilung ist. Man kann feststellen, dass dieser Zusammenhang sehr überzeugend besteht: Die Inflation ist höher in Ländern, in denen der Gini- Koeffizient (ein zusammengesetzter Indikator für die Einkommensungleichheit) höher ist.

Insgesamt gibt es drei Linien zur Erklärung der strukturellen Inflation:

  • Aufholprozess: gemessen am pro- Kopf-Niveau des BIP;
  • Sektorielle Dynamik: gemessen am Lohngefälle zwischen der Gesamtwirtschaft und dem verarbeitenden Gewerbe;
  • Verteilungskonflikt: gemessen am Gini-Koeffizienten.

Die ökonometrische Analyse bestätigt die Richtigkeit dieses Ansatzes und belegt die Signifikanz der vorgestellten Erklärungsansätze (Kasten 1). Man kann also die Determinanten der strukturellen Inflation wie folgt zusammenfassen:

  1. Die Inflation ist höher in Ländern, in denen das Wachstum durch den Aufholprozess beschleunigt ist;
  2. Die Inflation ist umso höher, je näher das durchschnittliche Lohnwachstum an dem der Löhne im verarbeitenden Gewerbe ist;
  3. Die Inflation ist höher in Ländern, in denen der Grad der Ungleichheit zu größeren Verteilungskonflikten führt. (Kasten 1)

Die Unterschiede in den Raten der strukturellen Inflation wurden nicht reduziert. Dies hätte zu einer Anpassung der Löhne führen können. Aber die Lohnzurückhaltung war nicht ausreichend, um die Inflationsunterschiede auszugleichen, weil die Länder „im Aufholprozess“ diesen Zwängen aufgrund der Existenz von zwei „Schlupflöchern“ ausweichen konnten.

3. Die Leistungsbilanz, das erste „Schlupfloch “

Ohne die Einführung der Einheitswährung hätten diese Unterschiede in der strukturellen Inflation zu Anpassungen des Wechselkurses geführt. Bei Fehlen dieser Möglichkeit konnten sich die Handelsbilanzdefizite ohne Rückstellkraft bis zu einem gewissen Punkt vertiefen, da ja das Defizit nicht zu einer Infragestellung der nationalen Währung führte. Hätte zum Beispiel Spanien die Peseta behalten, hätte es kein Handelsbilanzdefizit von bis zu 10 % des BIP im Jahr 2007 verzeichnen können: seine Währung wäre angegriffen worden. Das ist das erste „Schlupfloch“ gegenüber der Logik der Lohn- und Haushaltsdisziplin des Euro-Systems.

In der Zeit vor der Einführung des Euro war der Handel in den beiden Hauptzonen in etwa ausgeglichen. Aber dann vertieften sich die Unterschiede sehr schnell, mit einem zunehmenden Defizit im Süden und immer größeren Überschüssen im Norden (Abb. 5). Frankreich belegt, wie üblich, eine Zwischenstellung, aber der jüngste Anstieg seines Defizits lässt es doch zunehmend in Richtung Süden tendieren. Wie für den Euro- Raum insgesamt ist sein Außenhandel tendenziell ausgeglichen. (Abbildung 5)

4. Das Realzinsniveau , das zweite „Schlupfloch “

Einer der Regeln des Euro-Systems war es, den Kapitalverkehr zu liberalisieren, während der Zinssatz der EZB eine steuernde Rolle spielen sollte. Diese Regel hat sich bewährt und führte zu einer perfekten Angleichung der Zinssätze (Abbildung 6A). Aber in dem Maße, wie die Unterschiede in den Inflationsraten erhalten blieben und sogar wuchsen, war die Angleichung der nominalen Zinssätze von einer immer größer werdenden Lücke bei den Realzinsen nach Abzug der Inflation im jeweiligen Land begleitet. Der allgemeine Trend war rückläufig, aber er war noch ausgeprägter in den Ländern des Südens, wo die Inflation höher war (Abbildung 6B).

Zwischen 2000 und 2007 lag der reale Zinssatz bei durchschnittlich 2,7 % in den Ländern des Norden, aber bei nur 1,2 % bei denen im Süden. Diese niedrigen Zinsen haben zu einem starken Anstieg der Schuldenquote der privaten Haushalte von 36 % im Süden gegenüber nur 4 % im Norden geführt. Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem durchschnittlichen Niveau der Realzins und dem Wachstum der Verschuldung der privaten Haushalte (Abbildung 7). Das höhere Wachstum in den Ländern des Südens wurde teilweise unterstützt vom Prozess der Verschuldung, der die Immobilienblasen, vor allem in Spanien, genährt hat. (Abblidung 7)

5. Die deutsche Achterbahnfahrt

Die Geschichte des von der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt eingenommenen Platzes beginnt mit einem Handelsüberschuss, gemessen an der Bilanz im Verhältnis zum BIP. In der Zeit zwischen den beiden allgemeinen Rezessionen (1974-75 und 1980- 81) ist der Überschuss allmählich verschwunden. Die 1980er Jahre erleben eine kräftige Erholung, so dass der Überschuss am Vorabend der Wiedervereinigung vergleichbar ist mit dem, den man heute beobachtet. Die Wiedervereinigung im Jahr 1990 führt zu einem fast sofortigen Verschwinden des Überschusses, der in den 1990er Jahren durchweg sehr gering bleibt. Zu Beginn der 2000er Jahre ereignet sich eine Wende und führt zu einem dramatischen Kurswechsel, der den deutschen Überschuss am Vorabend der Krise auf bis zu 7 % des BIP bringt (Abbildung 8).

Dieses Wiedererstarken des deutschen Außenhandels war von einem erheblichen Schwanken der Löhne begleitet. Bis zur Einführung des Euros hatten die meisten Länder Konvergenzbemühungen in Form der Senkung der Lohnstückkosten oder, was ungefähr auf das gleiche hinausläuft, einer Senkung der Lohnquote umgesetzt. Doch alles ändert sich in Deutschland Anfang der 2000er Jahre: Die Lohnquote beginnt zu sinken, ab dem Jahr 2004 sogar beschleunigt. In wenigen Jahren fallen die realen Lohnstückkosten um fast 10 %. Im Rest der Euro-Zone, einschließlich des Südens, fallen die realen Lohnstückkosten (d.h. die Lohnquote) nur sehr langsam (Abbildung 9).

Diese Beobachtung ist von entscheidender Bedeutung: Die relative Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hat sich abrupt geändert. Und die unterschiedlichen Inflationsraten verstärken noch den Unterschied. Zwischen 1998 und 2007 sind die nominalen Lohnstückkosten in Deutschland konstant geblieben, während sie sich im Süden um 27 % und in der aus Frankreich und dem Norden ohne Deutschland bestehenden Gruppe um 15 % erhöhten.

Allerdings reichen diese Veränderungen in den Verhältnissen der Wettbewerbsfähigkeit nicht aus, um die Entwicklung der Handelsbilanzen zu erklären. Man muss ein weiteres Element hinzufügen, das teilweise im Zusammenhang mit dem vorherigen steht: das relative Wachstum der Inlandsnachfrage, insbesondere des Verbrauchs. Und auch die Unterschiede in der Zugbahn sind von Bedeutung. In den 10 Jahren zwischen 1997 und 2007 ist der Verbrauch um 28 % in der Euro-Zone ohne Deutschland (30 % im Süden) gestiegen, aber nur um 9 % in Deutschland. Dieser Unterschied stellt einen zusätzlichen Vorteil für Deutschland dar: die Erholung der Margen und die Quasi-Stagnation des Verbrauchs erlaubten ihm, seine produktiven Kapazitäten auszuweiten. Dies kann ökonometrisch überprüft werden (Kasten 2): Die Lohnkosten allein können nicht die Veränderungen in der Handelsbilanz erklären; Ein weiteres Argument muss hinzukommen, nämlich das Wachstum des privaten Konsums. (Kasten2)

6. Ein zusammengesetzter Abweichungsindikator

Um die strukturellen Unterschiede zwischen den Ländern weiter objektivieren zu können, konstruieren wir einen zusammengesetzten Abweichungsindikator, ausgehend von den folgenden vier Merkmalen, die jeweils im Verhältnis gegenüber dem Euroraum-Durchschnitt im Zeitraum 2000-2007 definiert werden:

  • Wachstum: Abweichung der durchschnittlichen Wachstumsrate;
  • Inflation: Abweichung der durchschnittlichen Inflationsrate;
  • Haushaltsdefizit: Abweichung der durchschnittlichen Salden (in % des BIP);
  • Handelsbilanz: Abweichung der durchschnittlichen Salden (in % des BIP).

Der zusammengesetzte Indikator wird als Mittelwert dieser vier Elementarindikatoren berechnet (nach Normalisierung, indem man die Variablen zentriert und skaliert). Abbildung 10 erlaubt es, die Länder dieser Zone nach diesem Abweichungsindikator zu klassifizieren. Die Länder, die „positiv“ abweichen, sind diejenigen, die Nutznießer eines höheres Wachstums waren, begleitet von Inflation und hohen Haushalts- und Handelsdefiziten. Die Korrelation zwischen diesen vier Trend-Typen ist natürlich nicht vollständig, und es ist die Funktion des zusammengesetzten Indikators, dies in einer einzigen Größe zusammenzufassen, die zwangsläufig konventionell definiert ist.

Die Rangfolge der Länder spiegelt die Spaltung zwischen Nord und Süd wider. Alle Länder des Nordens haben einen negativen Indikator, was bedeutet, dass ihr Wachstum etwas geringer ist, sie aber „tugendhafter“ im Hinblick auf Defizite und Inflation sind. Umgekehrt ist der relative Indikator positiv für die Länder des Südens. Frankreich befindet sich wie gewohnt in einer Zwischenstellung, obwohl es ein wenig in Richtung Süden tendiert, und ist nicht weit entfernt von Italien. (Abbildung 10)

Man kann verifizieren, dass dieser zusammengesetzte Indikator gut mit anderen sozio-ökonomischen Indikatoren korreliert. Wir haben uns für zwei entschieden. Der erste ist die Armutsquote, mit der der Abweichungsindikator positiv korreliert ist (Abbildung 11A). Ein zweiter Zusammenhang kann mit einem Indikator der sozialen Demokratie festgestellt werden, der als Durchschnitt der beiden ermittelt wird, die von Manfred Schmidt (2008) und Thomas Meyer (2011) entwickelt wurden (Abbildung 11B).

Dieser Abweichungsindikator erlaubt es, die sozio-ökonomischen Bedingungen in den einzelnen Ländern der Euro-Zone analytisch zu beleuchten; dabei zeigt er die strukturellen Unterschiede deutlich und lässt, wie wir gesehen haben, jeden Trend zur Konvergenz klar hervortreten. Es kann aber auch benutzt werden, um die unterschiedlichen Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die öffentlichen Finanzen zu erklären.

7. VON DER REZESSION ZUR SCHULDENKRISE

Jede Rezession hat unmittelbare Auswirkungen auf das öffentliche Defizit. Doch vergleicht man die Zunahme des Defizits von 2007 bis 2009 mit der Abnahme des BIP 2009 stellt man dabei sehr große Unterschiede fest (Abbildung 12A). Im Großen und Ganzen sind die Budgetdefizite in den südlichen Ländern viel stärker gewachsen als in den Ländern des Nordens (Abbildung 12B).

Wir wollen hier nicht auf die verschiedenen Erklärungsversuche für diese unterschiedlichen Auswirkungen eingehen. Wir möchten vielmehr auf die strukturellen Eigenschaften jeden Landes eingehen, die mit dem oben definierten Abweichungsindikator gemessen werden. Wir haben eine neue statistische Gleichung getestet, mit welcher die Verschlechterung des Budgets mit zwei Variablen erklärt werden kann: mit dem Ausmaß der Rezession und mit dem Abweichungsindikator. Diese Gleichung zeigt interessante Resultate (Kasten 3).

Dies ist bedeutsam, weil sich zeigt, dass das Ausmaß der Budgetverschlechterung mit den Besonderheiten der nationalen Wirtschaften zusammenhängen. (Kasten 3) Mit anderen Worten: Die Krise der Staatsschulden ist der Ausdruck einer Systemkrise, die aufgrund der Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern der Euro-Zone entstanden ist. Weltweit gesehen ist das öffentliche Defizit übrigens in der Euro- Zone weniger hoch als in anderen großen kapitalistischen Ländern. Bei seinem tiefsten Stand 2009 betrug es 6,4 % des BIP, weniger als in Japan (8,7 %), Großbritannien (11,0 %) oder den USA (11,6 %). Noch einmal: Das Ausmaß der Staatsschuldenkrise ist eine Folge der besonderen Regeln des Euro-Systems.

8. DIE GESCHICHTE DES EURO: EINE SIMPLIFIZIERUNG

Obige Analyse zeigt, dass unter den Ländern der Euro-Zone tatsächlich eine Polarisierung besteht, sodass zu Recht zwischen einem „Norden“ und einem „Süden“ unterschieden werden kann. Die Länder des Südens weisen Gemeinsamkeiten auf. Die wichtigste ist eine höhere strukturelle Inflation. Diese führt in diesen Ländern zu einem Verlust an Konkurrenzfähigkeit und zu einer Erhöhung der laufenden Defizite, obwohl die Lohnquote im gleichen Ausmaß gesenkt wurde wie im Durchschnitt der Euro-Zone. Doch in den Jahren 1995–2005 weisen diese Länder ein höheres Wachstum auf. Dies kam dank zweier „Schlupflöcher“ zustande: die Kapitalzuflüsse decken die Außenhandelsdefizite, die per definitionem die Landeswährung nicht gefährden; die sinkenden Zinssätze (im Gegenzug zum höheren strukturellen Defizit) begünstigen ein Wachstum aufgrund der Verschuldung.

Doch die Krise schlägt durch und zerstört dieses Zusammenspiel. Das wichtigste Ergebnis dieser Analyse besteht zweifellos darin, dass die Schuldenkrise der öffentlichen Haushalte das Anzeichen für eine spezifische Krise des Euro-Systems ist. Es ist selbstverständlich nicht die einzige Dimension dieser Krise – die im weitesten Sinn das Funktionieren des real existierenden Kapitalismus in Frage stellt – aber sie kommt nur in der Euro-Zone vor. In anderen kapitalistischen Ländern wie die USA, Großbritannien, Japan usw. gibt es diese Dimension nicht in dieser Schärfe. Sie rührt vom schiefen und widersprüchlichen Funktionieren der Euro-Zone her, das nun seit rund zehn Jahren andauert, aber nicht endlos andauern konnte.

Nehmen wir kurz an, die Schuldenkrise könne überwunden werden: Deswegen würden die Mängel beim Funktionieren der Euro-Zone jedoch nicht verschwinden, wenn nichts unternommen wird, um diese Situation in den Griff zu kriegen oder um einen Prozess des Zusammenwachsens einzuleiten. Denn die Euro-Zone umfasst im Zeichen einer Einheitswährung Länder mit unterschiedlichen strukturellen Eigenschaften.

9. DER ZWANG VON AUSSEN SCHLEICHT SICH DURCH DIE HINTERTÜRE WIEDER REIN

Wie tief die Krise ist, wird sichtbar, wenn der Zusammenhang zwischen dem Budgetdefizit und dem Handelsbilanzdefizit in jedem Land genau aufgezeigt wird. Dabei muss von folgendem grundsätzlichen Verhältnis ausgegangen werden6:

Diese buchhalterische Gleichung zeigt, dass die Mittel zur Finanzierung des öffentlichen Haushalts (d. h. wenn das Budget defizitär ist) schlussendlich aus zwei Quellen gedeckt werden: vom inländischen privaten Sparen (Betriebe und Haushalte) und/ oder von den Kapitalzuflüssen in der Höhe des Defizits der Leistungsbilanz. Dieses Verhältnis ist buchhalterisch, d. h. es ist jederzeit überprüfbar. Mit anderen Worten: Wenn sich einer dieser Teile verändert, muss diese Veränderung notwendigerweise von den beiden anderen Teilen kompensiert werden. Dies sagt aber nichts über die Anpassungsmechanismen aus, die für diese Kompensation notwendig sind.

Aufgrund dieses Verhältnisses können die Länder des Nordens wiederum deutlich von den Ländern des Südens unterschieden werden. Bis zum Beginn der Krise haben sich die für die öffentliche Finanzierung benötigten Mittel in den Ländern beider Gruppen relativ gleichmäßig entwickelt. Dann setzte eine gegensätzliche Entwicklung ein. Im Norden steigt nach Einführung des Euro die landesweite Sparquote stark an, während die Kapitalexporte als Gegenstück zu den Handelsbilanzüberschüssen tendenziell steigen: die Nettokapitalzuflüsse werden negativ (Abbildung 13A).

Im Süden ist es umgekehrt und es zeigt sich eine klare Aufteilung in unterschiedliche Perioden. Vor der Einführung des Euro senken die Länder im Süden ihre Budgetdefizite auf den Stand der Vorgaben. Dies geht einher mit einer Abnahme des privaten Sparens, die mit einem zusätzlichen Kapitalzufluss kompensiert wird. Bis zum Beginn der Krise steigen die öffentlichen Defizite nicht an. Doch ab 2005 erfolgt langsam eine Rückkehr zur Situation vor dem Euro: Die Außenhandelsdefizite steigen, was zu Kapitalzuflüssen führt, die das abnehmende private Sparen kompensieren. Die Krise beginnt mit einem starken Anstieg des öffentlichen Defizits. Gleichzeitig sinken die Außenhandelsdefizite und im Gefolge die Kapitalzuflüsse. Der Kreis schließt sich mit einem starken Rückgang der privaten Sparquote (Abbildung 13B).

Hier kommt es zu einem grundlegenden Element der Krise: Sie setzt dem quasi bis anhin automatischen Kapitalzufluss ein Ende. Mit anderen Worten: die Länder des Südens, die von der Schuldenkrise am stärksten betroffen sind, müssen ihr Handelsbilanzdefizit ebenfalls senken. Dies kann aber nur mit öffentlichem Sparen erreicht werden. Diese Anpassung ist aber nur mit einem markant tieferen Wachstum machbar. In den Ländern des Südens besteht in der Tat eine sehr enge Beziehung zwischen der Wachstumsrate und den Schwankungen der privaten Sparquote.

Die Schlussfolgerung aus dieser Analyse ist klar: Die Länder des Südens hatten zwar von 1995 - 2005 ein höheres Wachstum als die Länder des Nordens (Abbildung 14A), doch dieses Wachstum konnte nicht aufrechterhalten werden, denn es beruhte auf einem Rückgang der landesweiten Sparquote (Abbildung 14B).

Diesem Rückgang beim Sparen in den Ländern des Südens entsprach ein wachsender Kapitalzufluss, der durch die Finanzderegulierung und die Angleichung der Zinssätze erleichtert wurde. Aber sobald dieser Kapitalzufluss dünner wird, funktioniert der Ausgleich des Saldogleichgewichts anders: Die notwendigen öffentlichen Mittel können nicht mehr nur mit einer massiven Steigerung der landesweiten Sparquote beschafft werden – rund 10 % des BIP – die ihrerseits das Wachstum drückt (Abbildung 14B).

Diese neue Konstellation kann dauern und die Chancen, erneut zu Wachstum zu kommen, sind in den Ländern des Südens umso geringer. Letztere haben ein riesiges Defizit in Form von Nettoauslandguthaben angehäuft: Es macht fast 60 % des BIP aus, während die Länder des Nordens über positive Nettoauslandguthaben im Wert von 35 % des BIP verfügen (Abbildung 15).

10. VOR DEM DEBAKEL

Der Wurm steckte von Anfang an drin: „... weder in der Theorie noch in der Praxis kann die Meinung vertreten werden, wonach mit der Einheitswährung das wirkliche Zusammenwachsen der europäischen Länder erzwungen werden könne“ (Husson, 1996). Mit der Einheitswährung „wird die Schaffung eines einheitlichen Raumes zum Ziel erklärt, zu dem sie beitragen soll“ (Husson, 2001).

Im Rückblick erweist sich die Einführung des Euro wahrscheinlich als schrecklicher Fehler, der aus dogmatischer ja sogar neurotischer Blindheit erfolgte, der aber sicher einem völligen Unverständnis dafür entsprang, welche Herausforderungen der Aufbau eines vereinigten Europa mit sich bringt. Heute ist die Euro-Zone zum schwachen Glied der Weltwirtschaft geworden. Man kann sogar sagen, dass Europa dabei ist, seine eigenen Kinder zu fressen. Die verschiedenen in Europa verfolgten Politiken gleichen einer blinden Flucht nach vorn, die die ganze Region in eine höllische Spirale aus Sparen/Rezession stürzt. Die Arbeitslosigkeit verharrt auf einem noch nie erreichten Niveau und der einzige Ausweg ist eine Schocktherapie, die das soziale Modell kaputt macht.

Die kürzliche Diskussion, wonach zur wachsenden Zahl von Spar- und Memorandumsabkommen zur Budgetsanierung nun noch das Wachstum „dazukommen“ müsse, ist völlig falsch, denn das „gewünschte Wachstum“ soll mit „Strukturreformen“ erreicht werden, die die Euro-Zone nur in die Rezession treiben können. Hier zeigt sich eine neue Form dogmatischer Starrköpfigkeit, die die Frage der Rhythmen völlig außer Acht lässt, indem zwischen den Hebeln für eine konjunkturelle Erholung und einem neuen „möglichen Wachstum“ überhaupt nicht mehr unterschieden wird, dessen hypothetische Auswirkungen sowieso erst mittel- oder langfristig spürbar würden. Angesichts eines solchen Wahnsinns muss man nicht nur „niedergeschlagen sein“ wie zahlreiche Ökonomen in Frankreich, sondern einfach erschrocken.

Die Geschichte neu schreiben zu wollen, wäre sinnlos. Es müssen jetzt vielmehr die Möglichkeiten geprüft werden, wie aus dieser Sackgasse herausgefunden werden kann. Es lassen sich mehrere mögliche Szenarien unterscheiden: Mit dem Strom schwimmen und das Ganze verwalten, Strukturanpassung, Austritt aus dem Euro und radikale Neugründung Europas (mit gemeinsamer Währung). Keines dieser Szenarien weist den Königsweg.

Die europäische Politik schwankt zwischen Strukturanpassung und mit dem Strom schwimmen. Einmal gießt sie Öl ins Feuer, tags darauf holt sie den Feuerlöscher hervor. Die jüngere Geschichte Europas ist eine Abwechslung von verstärkten „Spar“- Maßnahmen und Rettung der Situation am Rande des Abgrunds. Der fehlende Zusammenhang zwischen den verschiedenen Beschlüssen und die völlige Unfähigkeit, der Entwicklung zuvorzukommen, sind Anzeichen eines tiefen Dilemmas: Wie kann zum „business as usual“ zurückgekehrt werden, wo doch gerade dieses zur Krise geführt hat? Diese Schwankungen auf einem unmöglichen Weg tragen dazu bei, dass sich etwas abzeichnet, was man „eine chaotische Regulierung“ nennen kann und das in etwa der Kapitalismus nach der Krise sein kann (Husson, 2009). Wenn man nicht resigniert den Sturz in eine soziale Regression hinnehmen will, müssen Alternativen angestrebt werden.

Die erste, an die gedacht wird, ist der Austritt aus dem Euro. Weil der Euro nicht umsetzbar ist, muss er verschwinden. Bei dieser einfachen Logik wird jedoch vergessen, dass sich zehn Jahre lang Widersprüche angehäuft und zu einem öffentlichen und privaten Schuldenberg geführt haben, der im Bankensystems unentwirrbar vermischt ist. Der Austritt aus dem Euro als solcher führt nicht an den Start zurück. In dieser Frage wurden schon unzählige Argumente ausgetauscht, natürlich besonders im Fall Griechenland. Das wichtigste Argument besagt, dass das Zurück zu Landeswährungen Abwertungen ermöglicht, um die jeweilige Konkurrenzfähigkeit zu stärken und so den Export anzukurbeln und das Defizit durch die entsprechenden National(Zentral-) banken decken zu lassen. Doch eine solche Maßnahme an sich würde die Last der bereits angehäuften Schulden nicht abbauen und de facto zu einer „Spar“-Politik führen, die mit der Strukturanpassung vergleichbar wäre.7 Die neue Währung wäre schutzlos der Spekulation ausgeliefert, die zu einem endlosen Zyklus von Abwertung/ Inflation führen würde. Wenn alle Länder aus dem Euro aussteigen würden oder anders gesagt: Ein vollständiges Auseinanderfallen der Eurozone ist für Europa ganz klar keine Lösung. Dies würde zu einem chaotischen Handelskrieg führen. Allgemein formuliert tendiert die Ausstiegsstrategie dazu, die soziale Frage in eine nationale Frage zu verwandeln, wie dies detailliert drei griechische Wirtschaftswissenschaftler zeigen, die übrigens Syriza-Mitglieder sind (Laskos, Milios, Tsakalotos, 2012). Mit der Austrittsdrohung kann jedoch ein Kräfteverhältnis entstehen, das der Abschreckung dient: Der Austritt eines Landes aus dem Euro hätte in der Tat große Auswirkungen auf die übrigen Länder.

11. HINTER DER STAATSSCHULDENKRISE VERBIRGT SICH EINE KRISE DES EURO-SYSTEMS

Weil ein Zurück in die Vergangenheit keine Lösung und das gegenwärtige Euro-System widersprüchlich ist, muss eine Neugründung Europas angestrebt werden. Aufgrund der bisherigen Analyse müssen zwei Ziele unterschieden werden, die beide nur erreicht werden können, wenn mit dem heutigen Euro-System gebrochen wird.

Das eine Ziel besteht in der Tilgung der angehäuften Schulden, die jede Aktivität und jede Neuausrichtung der Entwicklung behindert. Dies setzt radikale Lösungen voraus, d. h. die Umschuldung und die Vergesellschaftung der Banken. Diese Radikalität entspringt jedoch keineswegs dem Willen, alle anderen Lösungsvorschläge zu überbieten, sondern der Sorge um eine Lösung, die in sich schlüssig ist, wo alles stimmt.

Das zweite Ziel bezieht sich auf die Art der Schuldentilgung: Entweder erfolgt sie zum heutigen Zinssatz in kleinen Schritten, d. h. zum Preis eines mindestens zehn Jahre dauernden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rückschritts. Oder die Schulden werden auf einen Schlag brutal umgelagert oder gestrichen, sodass alles auf Null steht. In dieser Logik ist die Vergesellschaftung der Banken aus einem technischen Grund notwendig: Nur so kann das Schuldengewirr entwirrt werden, weil der Großteil der Staatsschulden von den Banken getragen wird. Dies zeigt sich am Beispiel Bankia in Spanien oder Crédit agricole in Frankreich. Noch klarer zeigt sich das am absurden Paradox, dass die EZB den Banken massiv unter die Arme greift (1000 Milliarden Euro) anstatt den darbenden Staaten zu helfen. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass die EZB den Staaten direkt finanzielle Hilfe zukommen lässt.

Es wird natürlich alles unternommen, um Pseudolösungen zu finden. Es könnte in der Tat ein ganzes keynesianisches Arsenal aufgefahren werden: Kapitalaufstockung bei der Europäischen Investitionsbank und deren Darlehen (60 Milliarden Euro); Öffnung der noch nicht aktivierten Strukturfonds (82 Milliarden); eine Finanztransaktionssteuer (50 Milliarden pro Jahr); Project Bonds (Projektobligationen) zur Finanzierung von Großinvestitionen. Man könnte – und das wird wahrscheinlich auch geschehen – den Zeitraum für die Rückkehr zu ausgeglichenen Budgets verlängern. Man würde die Kosten für die Hilfe an die Banken gescheiter unter ihnen aufteilen anstatt ihnen blind Riesensummen zu leihen. Der Eurorettungsfonds (EFSF) oder der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) könnten für die direkte Rekapitalisierung der notleidenden Banken eingesetzt werden, ergänzt mit einem gemeinsamen System zur Sicherung der Depots. Senkung des Euro-Kurses, Inflation, Anpassung der Löhne in Deutschland: Alle diese Faktoren könnten die Politiken des „mit dem Strom Schwimmens“ unterstützen, doch sie würden den Anpassungskalender nur marginal verändern.

12. BRUCH MIT DEM EURO-SYSTEM ZUGUNSTEN EINES ANDEREN EUROPA-PROJEKTS

Lehnt man die Strukturanpassung und den Austritt aus dem Euro ab, bleibt als einziger in sich schlüssiger Weg nur die kooperative Harmonisierung. Sie würde auf einem europäischen Budget beruhen, das mit einer Einheitssteuer auf Kapitaleinkommen gespiesen würde und aus dem die notwendigen Transfers (Harmonisierungsfonds) und die gesellschaftlich und ökologisch nützlichen Investitionen finanziert würden. Beim Aufbau eines gemeinsamen Wirtschaftsraums und als Ergänzung zur Einheitswährung ist ein solcher „Föderalismus“ im Grunde genommen unerlässlich. Stellen wir uns nur einmal kurz ein Land wie Frankreich vor, wo jede der 21 Regionen für ausgeglichene Finanzen und den ausgeglichenen Austausch mit „draußen“ selber verantwortlich wäre, während das landesweite Budget auf 1 % des BIP begrenzt wäre. So wird klar, wie absurd eine solche Konstruktion wäre, auf dem jedoch das Euro-System ruht.

Dagegen wird eingewendet, ein solches Projekt sei naiv und in der heutigen Situation ausgeschlossen. Es gebe überhaupt keinen Ausweg, weder in den einzelnen Ländern noch in Europa. Noch einmal: wenn dem so wäre, bestünde die einzige mögliche Orientierung darin, die Laufzeit der „Spar“- Programme zu verlängern in der Hoffnung, dass sie mit einem Beginn des „Wachstums“ zusammenfallen, wie dieses auch konkret aussehen mag. Das wäre aber ein nie endendes „Spar“-Programm. Patrick Artus zeigt auf, dass die Entwicklung im Fall von Spanien (Schuldentilgung, Abbau des öffentlichen Defizits, Schaffung neuer Arbeitsplätze) „vielleicht Jahrzehnte dauern werden“ (Artus, 2012). Und das ist logisch: Mehrere Jahrzehnte angehäufter und in Schulden umgewandelter Ungleichgewichte führen zu ebenso vielen Jahrzehnten der Entschuldung.

Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, gibt es eine Diagonale, die zusammengefasst im einseitigen Bruch mit dem real existierenden Europa besteht und zwar zugunsten eines anderen Projekts für Europa. Man kann das ein Übergangsprogramm nennen, bei dem die Regeln des Euro- Systems abgelehnt werden und gleichzeitig der Wille besteht, die alternative Erfahrung auf das ganze Gebiet auszuweiten. Dabei wird nicht auf das wundersame Erscheinen eines „guten“ Europa gewartet. Man verfolgt einen „Ausdehnungsprotektionismus“, bei dem die Erfahrung gesellschaftlicher Veränderung beschützt und gleichzeitig deren Ausweitung vorgeschlagen wird (Husson, 2011, 2012).

Der Notplan, den Syriza vor den Wahlen vom 17. Juni 2012 in Griechenland vorgeschlagen hatte, beinhaltete genau dieses Vorgehen. Er enthielt insbesondere folgende drei Punkte8:

  1. Annullierung des „Spar“-Programms, aller „Spar“-Maßnahmen und der Gegenreform bei den Arbeitsgesetzen
  2. Verstaatlichung der Banken
  3. Ein Schuldenmoratorium mit dem Ziel, die illegitimen Schulden festzustellen und zu annullieren

Die wichtigste Schlussfolgerung aus dieser Analyse ist die Feststellung, dass sich hinter der Staatsschuldenkrise eine tiefere Krise versteckt, die Krise des Euro-Systems. Die Krise des Kapitalismus hat ein widersprüchliches Projekt implodieren lassen. Man wollte unterschiedliche Länder in einer Währungsunion vereinigen, ohne sich die notwendigen Mittel zu geben, damit die Länder zusammenwachsen oder damit ihre Beziehungen untereinander organisiert werden können. Die notwendige Neugründung Europas kann nur gelingen, wenn unpassende Regeln abgelehnt werden, die die Gräben zwischen den Mitgliedsländern der Euro-Zone nur noch vertieft haben. Für die Alternative braucht es aber noch mehr: Weitere Brüche und insbesondere eine andere Verteilung des Reichtums. Der Bruch mit dem Euro-System findet seine Legitimität nur im Bruch mit dem neoliberalen Kapitalismus und in der kooperativen Ausdehnung des Projekts. Die Prinzipien eines solidarischen Europa sind unvereinbar mit einer rein kapitalistischen Logik. Das macht die Zukunft so ungewiss und herausfordernd.

Juli 2012

Übersetzung: Björn Mertens und Ursi Urech

1 Man lässt ebenfalls die fünf Länder beiseite, die erst später der Euro-Zone beigetreten sind: Slowenien im Jahr 2007, Zypern und Malta im Jahr 2008, die Slowakei im Jahr 2009 und Estland im Jahr 2011.

2 Daten für Nord und Süd werden durch Aggregation berechnet, wobei nach der wirtschaftlichen Bedeutung gemessen am BIP gewichtet wird. Der Anteil des Nordens an der gesamten Euro-Zone (11 Länder) macht 43,4 % aus (Deutschland: 28,3 %, Österreich 3,0 %, Belgien 3,8 %, Finnland 1,9 %, Niederlande 6,4 %). Für den Süden sind es 35,3 % (Spanien 11,0 %, Griechenland 2,3 %, Irland 1,9 %, Italien 18,0 %, Portugal 1,9 %). Frankreich steht für 21,3 %. Die Gültigkeit dieser a priori definierten Einteilung wurde während der Vorbereitung dieser Studie überprüft.

3 Anteil der Löhne am Nationaleinkommen – d.Üb.

4 Siehe Anhang 1 für die Definition der Lohnstückkosten.

5 Sofern nicht anders angegeben sind die Daten der von der Europäischen Kommission bereitgestellten Ameco-Datenbank entnommen.

6 Siehe Anhang 2 zu deren Aufbau

7 Zur Frage des Austritts aus dem Euro siehe Husson, 2011 und 2012

8 Es ist auffällig, wie die internationale Presse alles getan hat, um aus dem Austritt aus dem Euro den wichtigsten Punkt dieser Debatte zu machen, während diese Frage im Programm von Syriza nicht einmal erwähnt wurde.