Sektion Zürich
 
anklicken Antiglobalisierung
anklicken ArbeiterInnenbewegung
anklicken Bildungspolitik
anklicken Frauenbewegung
anklicken Geschichte
anklicken Imperialismus & Krieg
anklicken International
anklicken Kanton Zürich
anklicken Marxismus
anklicken Umweltpolitik

anklicken Startseite
anklicken Über uns
anklicken Agenda
anklicken Zeitung
anklicken Literatur
anklicken Links
anklicken Kontakt

Schwerpunke / Kampagnen
anklicken Bilaterale II
anklicken
anklicken
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  
anklicken  



 

Keine “Insel der Seligen”

Interview mit Peter Streckeisen, Mitglied der Bewegung
für Sozialismus (BFS / MPS) Basel

von Rosso Vincenco*

Rosso Vincenco ist freier Journalist und arbeitet u.a. für die Junge Welt

Eine aus Platzgründen gekürzte Fassung erschien in der „jungen Welt" vom 20.10.2007.

Das vollständige Interview ist auch auf LINKEZEITUNG.de erschienen.


Zuallererst einmal: Was ist die BFS, woher kommt sie und wie sieht ihre praktische Arbeit aus?

Wir sind eine Gruppe von politisch aktiven Menschen in den fünf größten Städten (Zürich, Basel, Bern, Lausanne, Genf), die an der Entwicklung einer neuen demokratischen und sozialistischen Linken arbeiten. Die BFS erarbeitet inhaltliche Positionen zu sozialen Fragen, z.B. in der Gesundheitspolitik, und beteiligt sich an Aktionen wie den Protesten gegen G8 oder gegen das WEF in Davos.
Wir unterstützen Arbeitskämpfe und versuchen zu verstehen, worum es dabei geht. Wir gehen davon aus, dass mit dem Siegeszug der kapitalistischen Globalisierung eine lange historische Phase des Klassenkampfes zu Ende ging, die im 19. Jahrhundert mit der Gründung von Gewerkschaften und Parteien der Arbeiterklasse begonnen hatte.
Die Möglichkeit und Wünschbarkeit einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus müssen neu formuliert und begründet werden, dasselbe gilt für die Frage nach den "Wegen dorthin". Alle traditionellen politischen Strömungen der Linken sind heute bis zu einem gewissen Grad "überholt" und müssen kritisch in Frage gestellt werden. Das gilt auch für die trotzkistische Strömung, aus der die BFS teilweise hervorgegangen ist. Wir können aus der Geschichte lernen, aber die Geschichte wird sich (zum Glück) nicht wiederholen.


Am 21. Oktober finden in der Schweiz Parlamentswahlen statt. Wohin geht der Trend?

Vermutlich werden die Schweizerische Volkspartei (SVP) und die Grünen, die bereits vor 4 Jahren zu den Siegern gehörten, nochmals zulegen. Es wird aber keine allzu großen Verschiebungen zwischen den Parteien geben.
Ein starker Trend ist die zunehmende "Amerikanisierung" des Wahlkampfs, die dazu führt, dass Politik immer mehr zu Marketing und massenmedialer Show verkommt. Es geht nicht um Programme und Positionen, die etwas mit den Alltagsproblemen der Menschen zu tun haben, sondern um Politstars und deren Persönlichkeitsprofile.
Die zentrale Figur des Wahlkampfs ist der SVP-Bundesrat Christoph Blocher. Die Sozialdemokratie (sozialliberal wäre der treffendere Ausdruck) versucht sich als "Anti-Blocher-Partei" zu profilieren. Die Massenmedien greifen sensationslüstern die Rede von einem "Putschversuch" auf, bei dem es scheinbar darum geht, Blocher aus dem Bundesrat raus zu werfen.
In einem Land, das seit der Staatsgründung von 1848 keinen Regierungswechsel erlebt hat, hat der Begriff "Putsch" offensichtlich eine etwas abgeschwächte Bedeutung…
Diese ganze Show hat nicht viel mit der tatsächlichen Politik zu tun, welche die Regierungsparteien (SVP, CVP, FDP, SP) gemeinsam betreiben. Da gibt es zum Beispiel seit langen Jahren einen ausländerfeindlichen Konsens, der aus zwei zentralen Punkten besteht: Erstens dürfen nur die Menschen in die Schweiz kommen, welche "unsere Wirtschaft" braucht. Zweitens müssen sich die Zugewanderten an "unsere Kultur"’ anpassen (Assimilation ist hier das treffendere Wort als das modische "Integration"). Die SPS akzeptiert diese Politik, kritisiert aber gleichzeitig die SVP von Christoph Blocher, sie sei ausländerfeindlich.


Während sich (vom Sonderfall Belgien einmal abgesehen) überall sonst in Westeuropa rechtspopulistische Parteien im Abschwung befinden oder auf mittlerem Niveau (irgendwo zwischen 5% und 10%) stagnieren, ist die Schweizerische Volkspartei (SVP) unter Christoph Blocher mit 26% stärkste Partei der Schweiz. Woran liegt das und welche Konsequenzen hat es?

Die Konsequenzen sind, dass es der SVP gelingt, den Rahmen und die Schwerpunkte der politischen Diskussion zu bestimmen. Das sehen wir vor allem bei der unerträglichen Debatte über ‚kriminelle Ausländer’ und andere "Sozialschmarotzer", an der sich sämtliche Parteien beteiligen.
Hier greifen Ausländerfeindlichkeit und Sozialrassismus systematisch ineinander. Die Ursachen sind in der Art und Weise zu suchen, wie es dieser Partei in den 1990er Jahren geglückt ist, die mit der Zuspitzung der sozialen Krise verbundenen Unsicherheiten zu instrumentalisieren und "Ruhe und Ordnung" zu versprechen. Erst dadurch ist sie zur stärksten Partei des Landes geworden.
Der Vergleich mit anderen "rechtspopulistischen Parteien" in Westeuropa kann allerdings in die Irre führen. In mancherlei Hinsicht erinnert Blocher nicht so sehr an Haider oder Le Pen, sondern an Berlusconi oder Sarkozy. Er ist ein Großindustrieller. Seine Partei vertritt sehr deutlich wirtschaftsliberale Positionen (mit Ausnahme der Landwirtschaftspolitik, in der sie eine traditionelle Klientel bei Laune halten will).
Schließlich darf nicht vergessen werden, dass die SVP allem "Oppositionsgehabe" zum Trotz seit Jahrzehnten stark in die staatlichen Institutionen und in die politische Elite integriert ist. Sie wurde bereits 1929 in den Bundesrat aufgenommen, als sie noch Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei hieß.
Blocher hat die Partei in den 1980er Jahren modernisiert und an die Methoden des Politmarketings herangeführt. Er ist kein Outsider, wie er selbst gerne behauptet, sondern Teil dieser Classe politique (politischen Klasse), über die er immer herzieht.


Die Schweiz gilt sozio-ökonomisch stets als "Insel der Seligen". Die Arbeitslosenrate liegt bei 2,5% und das Pro-Kopf-Einkommen gehört zu den höchsten der Welt. Bislang schien "Sozialer Friede" zu herrschen. Doch in letzter Zeit liest man z.B. in der "Neuen Zürcher Zeitung" immer häufiger von drohenden Arbeitskämpfen und gewerkschaftlichen Aktivitäten. Wie ist die soziale Situation bei euch?

Das Ausmaß der sozialen Probleme in der Schweiz wird seit Jahrzehnten systematisch unterschätzt. Trotz einiger Besonderheiten - etwa das Fehlen von Großstädten wie Berlin oder Paris, in denen das soziale Elend deutlich sichtbar wird, oder das Gewicht des Finanzsektors - stellt sich die soziale Frage hier nicht grundsätzlich anders als in Deutschland, Frankreich oder Italien.
Die Schweiz zählt weltweit zu den Ländern mit der höchsten Ungleichheit der Reichtumsverteilung. Die Caritas schätzt, dass in der Schweiz eine von acht Personen (etwa eine Million Menschen) arm ist. Es gibt 250.000 Working Poor unter den 4 Millionen Erwerbstätigen.
Hinzu kommen wohl etwa gleich viele Sans Papiers (d.h. Leute ohne gültige Aufenthaltserlaubnis). Der Vergleich der Arbeitslosenrate mit den Nachbarländern hinkt, weil die Schweiz eine sehr liberale Tradition des Arbeitsrechts und der sozialstaatlichen Einrichtungen kennt, so wie die angelsächsischen Länder.
Die US-amerikanische Arbeitslosenrate liegt auch tiefer als die deutsche oder französische; dennoch würde niemand ernsthaft behaupten, dies sei ein Beweis dafür, es handle sich um eine "Insel der Seligen".
In einem solchen Regime werden die Menschen viel stärker entweder in "zumutbare Arbeit" (Jobs unter schlechten Bedingungen, oft Minijobs) gedrängt oder verschwinden ganz einfach vom Arbeitsmarkt.
Prekäre Beschäftigung breitet sich in der Schweiz aus, und es existiert auch das Phänomen, das Robert Castel als "Destabilisierung der Stabilen" beschreibt.
Es finden wieder vermehrt Arbeitskämpfe statt, wenn auch ausgehend von einem sehr tiefen Niveau. Die Gewerkschaften sind leider nicht so kämpferisch und stark, wie es die bürgerliche Presse (und die Gewerkschaftsführungen selbst) immer wieder behaupten.
Eine wichtige Auseinandersetzung hat soeben in der Bauwirtschaft begonnen. Die Arbeiter streiken hier gegen Verschlechterungen bei Arbeitszeit und Lohn, nachdem die Unternehmer den Tarifvertrag gekündigt haben. Es handelt sich um eine Branche, die besonders seit der Einführung der so genannten "Personenfreizügigkeit" in den Bilateralen Verträgen mit der EU unter einem starken Lohndruck steht. Der Streik ist aber defensiv ausgerichtet, und die Gewerkschaft hört nicht auf, die "Sozialpartnerschaft" zu beschwören.


In Deutschland und den Niederlanden beispielsweise befinden sich linkssozialdemokratische Parteien auf dem Höhenflug. Wie steht es mit der politischen Linken in der Schweiz? Gibt es bei euch ähnliche Entwicklungen?

Es gibt die Grünen, die in den letzten Jahren Wählerstimmen gewonnen haben und in den Bundesrat wollen. Sie sind mehrheitlich bereits stark an die bestehende Regierungspolitik angepasst. Daneben existieren in einzelnen Städten oder Landesteilen linke Parteien, die auf Bundesebene wenig Einfluss haben (einige haben sich deshalb den Grünen angeschlossen). Ansätze für eine neue Linke, die den Kapitalismus in Frage stellt, sind höchstens im außerparlamentarischen Spektrum vorhanden.


Vor einigen Tagen gelang es der autonomen Linken, die zentrale SVP-Wahlkundgebung auf dem Berner Bundesplatz durch militantes Vorgehen zu verhindern. Es kam zu schweren Zusammenstössen mit der Polizei. In solchen Momenten hat man den Eindruck, in der Schweiz findet jetzt das statt, was es Anfang / Mitte der 80er Jahre in Westdeutschland gab. Wie seht ihr die autonome Bewegung in der Schweiz?

Die Schweiz hat damals durchaus eine starke "autonome Jugendbewegung" erlebt, die sich z.B. im Zürcher "Opernhauskrawall" niederschlug (die Jungen protestierten gegen die staatlichen Ausgaben für Hochkultur, während ihnen selbst verwaltete Räume verweigert wurden).
Es existieren weiterhin solche Zusammenhänge, z.B. die Hausbesetzerbewegung. Die Berner Reitschule ist ein Treffpunkt für politische Gruppen und ein alternatives kulturelles Milieu.
Zu den Ereignissen vom 6. Oktober muss aber zweierlei angefügt werden. Zum einen wurde die Veranstaltung gegen die SVP von einem breiten linken Bündnis getragen, nicht nur von der "autonomen Linken". Zum anderen wurden die unmittelbaren ‚Zusammenstösse’ mit der Polizei - wie jeweils auch am 1. Mai in Zürich - nicht unbedingt von den politisch organisierten Gruppen ausgetragen, sondern von Jugendlichen, deren Aktionsformen "im Kleinen" an die Aufstände in den französischen Vorstädten erinnern.


Die vielleicht wichtigste Frage zum Schluss: Die Schweiz wird (mit geringen Veränderungen) seit 1959 von einer Grossen Koalition aller wichtigen Parteien regiert, die auf der sog. "Zauberformel" basiert. Ist ein Ende dieser "Konkordanzregierung" in Sicht?

Nein. Wie gesagt hat seit 1848 nie ein Regierungswechsel stattgefunden, bei dem die regierende(n) Partei(en) in die Opposition gehen mussten. Stattdessen wurden entsprechend der Entwicklung der politischen Kräfteverhältnisse weitere Parteien in die Regierung aufgenommen (1943 - als letzte der heutigen Regierungsparteien - die Sozialdemokratie).
Diese politische Stabilität ist für die herrschende Klasse wertvoll und soll sicherlich so lange wie möglich gewahrt bleiben. Heute geht es höchstens um die Verschiebung eines Sitzes im Bundesrat von einer Partei zu einer anderen; allenfalls um die Aufnahme der Grünen.
Darauf - insbesondere auf den scheinbaren "Putsch" gegen Bundesrat Blocher - konzentriert sich die gesamte Medienaufmerksamkeit. Die linken Kräfte sollten sich nicht an dieser Wahlfarce beteiligen, die kaum etwas mit realen sozialen Problemen und Kämpfen zu tun hat, z.B. in dem sie auf die "Anti-Blocher-Linie" einschwenken.
Eine kritische Haltung zur Medienmaschinerie und zur institutionellen Politik ist in der heutigen Situation unerlässlich, um Ansätze für eine neue Linke zu entwickeln. Wir müssen nicht nur gegen Blocher, sondern gegen den ganzen Bundesrat kämpfen, denn wenn nicht gerade Wahlen sind (teilweise sogar dann) setzen die Regierungsparteien Hand in Hand eine Politik um, die ebenso neokonservativ wie neoliberal geprägt ist und verheerende ausländerfeindliche Akzente setzt.

(Interview: Rosso Vincenzo)