1.
Härtere Arbeit und weniger Rechte
Der
Bundesrat und die Behörden prangern das
Defizit bei der IV an. Doch das Bundesamt für
Statistik (BfS) stellt fest, dass 4 von 10 Lohnabhängigen
bei der Arbeit unter so starkem Druck leiden,dass
sie unter Gesundheitsproblemen wie Rücken-
und Kopfschmerzen oder Schlafstörungen
leiden… Die Arbeitsbedingungen sind vor
allem seit 1997 härter geworden. Als Beispiele
für dieseVerhärtung nennt das BfS
die Verbreitung von unregelmässigen Arbeitszeiten,
Nacht- und Abendarbeit, Arbeitsüberlastung,
Stress, Kontakt mit schädlichen Produkten,
Berufsunfälle, unsichere Beschäftigungsverhältnisse
und Angst um den Arbeitsplatz.
Gerade
in der Schweiz hört die Demokratie am Eingang
des Unternehmens auf. Die gewerkschaftlichen
Rechte am Arbeitsplatz sind sehr bescheiden.
Angst verbreitet sich überall, sie wird
verinnerlicht. Es gibt nur selten kollektive
Aktionen gegen „eine Arbeit, die uns immer
mehr kaputt macht“. Den Preis dafür
zahlen die Lohnabhängigen durch die Verschlechterung
ihres Gesundheitszustands. Es überrascht
deshalb nicht, dass die Zahl der neuen IV-„Fälle“
bis 2003 stark angestiegen ist.
Die
Behörden unterstützen das Veto der
Unternehmer gegen jede Einmischung von aussen
in Bezug auf die Arbeitsbedingungen ohne Vorbehalte.
Die 5. IV-Revision schafft deshalb die Voraussetzungen
dafür, dass die Arbeitsbedingungen als
mögliche Invaliditätsursache bei einer
immer grösser werdenden Anzahl von Lohnabhängigen,
vor allem Frauen und Männer mit bescheidener
oder ohne Berufsausbildung, nicht mehr in Betracht
gezogen werden.
In
der Praxis wird das bereits umgesetzt. Im ersten
Halbjahr 2006 lag die Zahl der neuen Renten
um 30% tiefer als im ersten Halbjahr 2003. Die
5. IV-Revision nimmt die Menschen ins Visier,
die unter einer immer mühsameren Arbeit
leiden, während die Verantwortlichen für
diese körperlichen und psychischen Leidenungeschoren
davon kommen.
2.
Früherfassung und Begleitung: Lohnabhängige
anzeigen und disziplinieren
Wie
üblich bringt auch die 5. Revision Massnahmen,
die einen hochtrabenden und trügerischen
Namen tragen. Das gilt auch für das System
der „Früherkennung und Begleitung”
(FEB). In Wirklichkeit geht es darum, die Lohnabhängigen
anzuzeigen und zu disziplinieren.
Das
offizielle Ziel der Früherkennung besteht
daraus, möglichst frühzeitig über
alle Informationen zu verfügen, welche
den Bezug einer IV-Rente verhindern und die
„berufliche Neuausrichtung“ der
betroffenen Person erleichtern sollen. Wer mehr
als vier Wochen lang krank war, wird auf gesetzlicher
Grundlage einer Frühintervention unterzogen
werden können, die zu einer beruflichen
„Rehabilitation“ ausserhalb des
Unternehmens oder an einem anderen Arbeitsplatz
führt. Zu diesem Zweck sollen sich alle
in Detektive verwandeln, von der Versicherung
(Taggelder) bis zum Unternehmer, von der Familie
bis zu den Vorgesetzten, um „Abnormalitäten“
bei der Arbeit und im Verhalten einzelner Lohnabhängiger
aufzuspüren und anzuzeigen. Die betroffene
Person wird der IV-Stelle die Erlaubnis erteilen
müssen, alle möglichen Informationen
über sie einzuholen, geradeauch solche,
die unter das Arztgeheimnis fallen. Das Sammeln
dieser Informationen dient nur einem Ziel: die
Rechtfertigung der Ablehnung von IV-Leistungen,
das heisst eines anerkannten Rechtsanspruchs.
In
der Schweiz gibt es praktisch keinen Kündigungsschutz.
Während die so genannten Eingliederungsmassnahmen
durchgeführt werden, werden die angezeigten
Lohnabhängigen deshalb von zwei Seiten
bedroht. Einerseits kann der Unternehmer sie
entlassen. Deshalb hat der Bundesrat auch schon
geregelt, dass sie Arbeitslosengeld beziehen
können! Anderseits kann die IV-Stelle sie
bestrafen, wenn sie ihr nicht gehorchen. Die
5. IV-Revision verschärft die Destabilisierung
der Beschäftigungsverhältnisse und
den Druck auf die Löhne – gerade
auch auf die niedrigsten – noch mehr.
3.
Die Legende vom IV-kompatiblen Unternehmer
Seit
die Invalidenversicherung 1960 in Kraft getreten
ist, hat sie immer schon das Ziel verfolgt,
die Eingliederung gegenüber de rRente vorzuziehen.
Wenn dies als etwas Neues bezeichnet wird, handelt
es sich um eine offizielle Lüge der Behörden.
Neu ist dagegen die Verbindung einer anhaltenden
Arbeitslosigkeit mit aufreibenden Arbeitsbedingungen
und entsprechenden Invaliditätsrisiken.
Diese Tatsache wird durch die 5. IV-Revision
ignoriert.
So
behaupten schon heute die IV-Stellen systematisch,
sie könnten von einer Person verlangen
eine Arbeit zu finden, die ihr ein höheres
Einkommen bringt als diejenigen Stellen, die
sie in der wirklichen Welt mit Mühe und
Not zu finden vermag. Ein Beispiel: Eine Person
verdiente 45’000 Franken. Die Invalidität
tritt ein. Auf der Grundlage ihrer Lohntabellen
behauptet die IV-Stelle, dass diese Person trotz
der eingetretenen Invaliditätsfaktoren
an einer neuen Stelle 52’300 Franken verlangen
könnte und sollte. Dann vergleicht die
IV-Stelle die beiden Löhne – den
wirklichen und den fiktiven Lohn – und
kommt zum Schluss, dass kein Einkommensverlust
vorliegt. Kein Einkommensverlust bedeutet für
die IV: keine Invalidität. Diese Person
muss einfach einen IV-kompatiblen Unternehmer
finden, der ihr den durch die IV „berechneten“
Lohn bezahlt. Sonst soll sie halt zur Arbeitslosenkasse
oder zur Sozialhilfe gehen. Weshalb präsentieren
die IV-Stellen den Lohnabhängigen, für
die sie einen theoretischen Lohn berechnen,
nicht eine Liste von Unternehmen, die bereits
sind, diesen Lohn zu bezahlen? DieAntwort liegt
auf der Hand: Diese Stellen und diese Unternehmen
gibt es gar nicht. Das Ziel der 5. IV-Revision
kann in einem Satz zusammengefasst werden: Es
geht darum, die Invalidenversicherung selbst
zum Invaliditätsfall zu machen.
Die
Sanierung der IV-Finanzen erfordert in erster
Linie eine Senkung der Anzahl Menschen, die
„durch ihreArbeit krank werden“.Zudiesem
Zweck müssen alle das Recht haben, die
Bedingungen ihrer Erwerbstätigkeit zu beeinflussen.
Ausserdem müssen die Unternehmerbeiträge
an die IV erhöht werden. Die Arbeitskosten
(Anteil der Löhne an den produzierten Gütern
und Dienstleistungen) liegen in der Schweiz
im Vergleich mit anderen führenden Ländern
sehr tief. Der Bundesrat übertreibt die
„Finanzierungskrise der IV" stark
- genau wie bei den Bundesfinanzen: Wir hören
seit Jahren immer wieder, dass die Schweiz finanziell
am Abgrund steht - und zwar jedes Mal, wenn
eine unsoziale Massnahme gerechtfertigt werden
soll.
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