Das
schweizerische System der Gesundheitsver-sorgung
ist beliebt – vor allem im Ausland.
In Deutschland hat die Regierung von Angela
Merkel angekündigt, Reformen nach schweizerischem
Vorbild vorzulegen. Vor allem die Finanzierung
der Krankversicherung durch Kopfprämien
wird diskutiert. In den USA orientiert sich
Präsident Obama bei der Einführung
der obligatorischen Krankenversicherung am
helvetischen Modell. In der Schweiz allerdings
hält sich die Popularität des Systems
in engen Grenzen. Steigende Krankenkassenprämien,
der Einfluss der Krankenkassenlobby und die
hohen Selbstbehalte bei Medikamenten und Behandlungen
sind Gründe für die weit verbreitete
Unzufriedenheit mit dem Gesundheitssystem.
Privater
Sozialstaat
In der Tat weist das helvetische Modell einige
Besonderheiten auf. So wurde erst spät
(1996) eine obligatorische Krankenversicherung
eingerichtet. Aber dabei haben die Behörden
nicht wirklich eine neue Sozialversicherung
geschaffen, sondern es für die ganze Bevölkerung
zur Pflicht erklärt, sich bei einer der
meist privaten Krankenkassen zu versichern.
Über 95 Prozent der Bevölkerung waren
bereits vorher versichert. Obwohl die Krankenversicherung
nun als Sozialversicherung gilt, ist die Finanzierung
über Kopfprämien unsolidarisch, und
die Versicherten bezahlen einen hohen Teil der
Kosten aus der eigenen Tasche: Selbstbehalte
und Kostenbeteiligungen kommen etwa für
ein Drittel der gesamten Gesundheitskosten auf
– ein Rekordwert im internationalen Vergleich.
Wir befinden uns in einem Modell, das als „privater
Sozialstaat“ bezeichnet werden kann, weil
der Einfluss privater Akteure (Krankenkassen,
Privatkliniken, Pharmaindustrie, Ärzte
usw.) enorm ist und die Kosten weitgehend auf
die privaten Haushalte überwälzt werden.
Seit der Einführung der obligatorischen
Krankenversicherung ist das Gesundheitssystem
eine der grössten permanenten politischen
Baustellen in der Schweiz. Behörden und
Lobbyisten arbeiten ohne Unterbruch an „Reformen“,
um die „Kostenexplosion“ zu bremsen
und „mehr Wettbewerb“ zu erreichen,
wie es heisst. Der ehemalige Bundesrat Pascal
Couchepin hat mit seinen Vorlagen den Zorn breiter
Teile der Bevölkerung, und gewisser Interessenverbände
auf sich gezogen. So kam es im April 2006 zu
einer ersten Massenkundgebung von ÄrztInnen
in Bern. Und während es Couchepin gelungen
ist, in der Abstimmung 2007 die aus sozialen
und linken Kreisen lancierte Initiative für
eine Einheitskasse zu bodigen, scheiterte ein
Jahr später auch ein neuer Verfassungsartikel,
der ganz nach dem Gusto der Krankenkassen ausgearbeitet
worden war. Es gibt in gesundheitspolitischen
Fragen ein politisches Patt, und die „Experten“
wünschen sich vom neuen Bundesrat Didier
Burkhalter, dass er es nun endlich überwindet.
Aber was steht dabei politisch eigentlich auf
dem Spiel?
Prämienerhöhungen und Sofortmassnahmen
Jedes Jahr genehmigt das Bundesamt für
Gesundheit (BAG) die Prämien der obligatorischen
Krankenversicherung. Nur schon weil das BAG
keinen Einblick in die Buchführung der
Kassen hat, kann es deren Vorschläge in
der Regel nur abnicken. So auch dieses Jahr:
Anfang Oktober wurde der Öffentlichkeit
mitgeteilt, dass die Prämien für 2011
wieder massiv steigen werden, nachdem sie schon
2010 durchschnittlich um 8.7 Prozent (sogar
13.7% für junge Erwachsene, 10% für
Kinder) anstiegen – der höchste Anstieg
seit 2003. Mittlerweile summiert sich der Prämienanstieg
seit dem Jahr 2000 auf satte 68 Prozent.
Der Bundesrat hat am 29. Mai 2009 Sofortmassnahmen
angekündigt: eine Praxisgebühr von
30 Franken pro Arztbesuch, die Einrichtung telefonischer
Beratungsdienste der Kassen, ausserordentliche
Beiträge des Bundes an die Prämienverbilligungen,
etc. Diesen Vorschlägen wurde in der Öffentlichkeit
viel Aufmerksamkeit geschenkt, im Parlament
waren sie aber rasch vom Tisch. Sie haben als
Rauchpetarden gewirkt, um Couchepins Handlungswillen
zu demonstrieren und den Blick von den wichtigeren
Weichenstellungen abzulenken, die in der Gesundheitspolitik
vorgenommen werden.
Die neue Spitalfinanzierung
Bisher wurden die öffentlichen Spitäler
zur Hälfte von den Kantonen und Krankenkassen
finanziert. Bundesrat Couchepin hat bereits
grundlegende Veränderungen durchgesetzt,
deren Auswirkungen erst in einigen Jahren voll
zu spüren sein werden. Einerseits wurde
ein neuer Kostenverteilschlüssel eingeführt:
45 Prozent Krankenkassen, 55 Prozent Kantone.
Zudem wurden die privaten und öffentlichen
Spitäler einander gleichgestellt, damit
die Kantone die öffentlichen Einrichtungen
nicht (mehr) bevorzugt finanzieren können.
Ab
2012 erfolgt die Finanzierung über so genannten
Fallpauschalen oder DRG (Diagnosis-Related Groups).
Das ist eine Form der Leistungsfinanzierung,
der die Durchschnittskosten für mehr oder
weniger homogene Krankheits-/ Behandlungstypen
als Grundlage dienen: ein Blinddarm kostet so
viel, eine Geburt so viel, eine Nierenstein-operation
so viel usw. Es ist offensichtlich, dass die
Krankenkassen und Behörden ein Instrument
in die Hand kriegen, um den Kostenwettbewerb
zwischen den Spitälern zu intensivieren:
Wenn ein Blinddarm in Appenzell so viel kostet,
warum soll er im Zürcher Unispital mehr
kosten?
Die
Spitäler erhalten damit starke Anreize,
PatientInnen mit komplexen Krankheitsbildern,
die eben überdurchschnittlich viel „kosten“,
rasch los zu werden oder gar nicht aufzunehmen.
Begleitforschungen in Deutschland, wo ein DRG-System
seit 2004 eingeführt wurde, zeigen, dass
sich die Zusammenarbeit zwischen den Ärzten
und dem Pflegepersonal ebenso verschlechtert
hat wie die Beziehung des Personals zu den PatientInnen;
und das Verhältnis des medizinisch-pflegerischen
Personals zu den DRG-getrimmten Spitalverwaltungen
ist sehr schlecht. Zu erwarten ist mit der DRG-Finanzierung
auch ein weiteres Spitalsterben: Laut dem damaligen
BAGDirektor Thomas Zeltner werden von den 321
Spitälern (2007) in nächster Zeit
etwa weitere 100 die Türen schliessen müssen
(1982 existieren in der Schweiz noch 462 Spitäler).
Auf längere Sicht steht ausserdem der Wechsel
zu einer monistischen Spitalfinanzierung zur
Diskussion: Die Spitäler würden dann
aus einer Hand, d.h. nur noch von den Krankenkassen
finanziert; die Kantone müssten ihre Beiträge
an die Kassen überweisen. Natürlich
würde deren Position dadurch massiv gestärkt,
und die Kantone verlören an Einfluss auf
die Budgetgestaltung der Spitäler.
Die
neue Pflegefinanzierung
Ein neues Finanzierungsmodell hat der Bundesrat
auch für die Pflege in Spitälern,
Heimen und zu Hause eingeführt. Es wird
zwischen zwei Formen von Pflege unterschieden.
Bei der Akut- und Übergangspflege nach
einer medizinischen Behandlung übernimmt
die Krankenversicherung die Kosten bis zwei
Wochen nach dem Spitalaustritt. Das klingt gut,
ist aber zu relativieren, weil die neue Spitalfinanzierung
die Spitäler anhält, die PatientInnen
so rasch wie möglich zu entlassen, was
– im Fachjargon – zu so genannten
„blutigen Austritten“ führen
dürfte.
Bei der Langzeitpflege – hier geht es
vor allem um betagte Menschen – bezahlt
die Krankenversicherung nur einen Grundbeitrag.
Der Rest wird auf die pflegebedürftigen
Menschen abgewälzt (bis 20% der nicht gedeckten
Kosten oder 7'100 Franken pro Jahr), sowie auf
andere soziale Sicherungssysteme wie die AHV
(Pflege zu Hause) und die Ergänzungsleistungen
(EL) (Heimpflege). Zweifellos wird durch diese
Kostenverlagerungen auch der Druck auf Angehörige
(in der Regel sind es Frauen) steigen, doch
ihre älteren Verwandten selbst zu pflegen.
Und auf längere Sicht könnte dann
der seit einigen Jahren zirkulierende Vorschlag,
die Pflegefinanzierung aus der Krankenversicherung
auszugliedern und eine neue Pflegeversicherung
einzuführen, wieder Auftrieb erhalten.
Die Versicherten müssten dann eine zusätzliche
Versicherung bezahlen, um weiterhin gegen Pflegekosten
abgesichert zu sein.
Ärztestopp und Vertragsfreiheit
Seit Jahren machen politische Behörden
und Gesundheitsexperten die „zu hohe Ärztedichte“
verantwortlich für einen Teil des Anstiegs
der Gesundheitskosten. 1998 wurde der Numerus
Clausus für das Medizinstudium eingeführt.
Er gilt immer noch, während schweizerische
Spitäler scharenweise ausländische
ÄrztInnen rekrutieren und bald schon auch
ein Mangel an Hausärztinnen auftreten dürfte.
2002 wurde erstmals ein Ärztestopp verhängt,
d.h. die Eröffnung neuer Arztpraxen ist
seither kaum mehr möglich. Aus der Sicht
des Bundesrates und der Krankenkassen handelt
es sich nur um einen Übergangsschritt zur
so genannten „Aufhebung des Vertragszwangs“:
Die Kassen wollen nicht mehr die Behandlungskosten
aller ÄrztInnen übernehmen, sondern
nur noch von jenen, mit denen sie entsprechende
Verträge abschliessen – und die also
nach ihren Wünschen arbeiten und abrechnen.
Diese Vertragsfreiheit für die Kassen wäre
das Ende der freien Arztwahl für die PatientInnen.
Das konnte bislang nicht durchgesetzt werden,
zu stark war der Widerstand gerade auch unter
den ÄrztInnen.
Aber es zeichnet sich ein gut helvetischer Kompromiss
ab, der auch von Bundesrat Burkhalter propagiert
wird: Demnach soll ein zweistufiges System eingeführt
werden, in dem die Versicherten wählen
müssen zwischen der freien Arztwahl und
dem Anschluss an ein Netzwerk von Leistungserbringern
(HMO; Managed Care). Natürlich müssten
diejenigen, die weiterhin ihre ÄrztInnen
frei wählen möchten, eine höhere
Krankenkassenprämie bezahlen und höhere
Selbstbehalte tragen. Damit würde das Zweiklassensystem
mit Grundversicherung und Zusatzversicherungen
(zum Beispiel für Zahnarztrechnungen) in
ein Dreiklassensystem umgewandelt.
Kostenbeteiligung der Versicherten
Natürlich machen die Experten auch die
PatientInnen für die steigenden Gesundheitskosten
verantwortlich. Obwohl davon auszugehen ist,
dass mindestens so viele Menschen zu selten
zum Arzt gehen wie zu oft (und aus medizinischthera-peutischer
Sicht ist es besser, zu oft zu gehen), wird
permanent über Massnahmen diskutiert, um
Menschen von „unnötiger“ medizinischer
Beratung und Behandlung abzuhalten.
Nun
ist die Beteiligung der Versicherten an den
Kosten des Gesundheitswesens in der Schweiz
bereits sehr hoch: etwa ein Drittel der Kosten
wird von den privaten Haushalten direkt aus
der Tasche bezahlt (Selbstbehalt, Kostenbeteiligung,
nicht versicherte Leistungen, etc.), und ein
weiteres Drittel bezahlen die Versicherten über
die unsolidarischen Kopfprämien der Krankenversicherung.
Dennoch wird im Parlament darüber diskutiert,
den Regelsatz für die Kostenbeteiligung
der PatientInnen von 10 auf 20 Prozent zu erhöhen
– vielleicht mit Ausnahme der Versicherten
in Managed Care-Modellen.
Wo
sind Alternativen?
Nach diesem kleinen Überblick müssen
wir uns die Frage stellen, wie wünschenswert
es wäre, wenn unter dem neuen Bundesrat
Didier Burkhalter das angesprochene politische
Patt überwunden würde. In allen Bereichen
werden Massnahmen angestrebt, die zu Lasten
der Versicherten gehen und den Einfluss und
die Profite des privaten Sozialstaats stärken.
Im
linken Spektrum dominiert eine gewisse Hilflosigkeit
angesichts der Übermacht der von den Lobbyisten
und Gesundheitsexperten/- bürokraten vorgebrachten
Projekte. Dies zeigt sich etwa bei der Lektüre
des Widerspruch-Hefts zum Thema Krankheit und
Gesundheit, in dem als Alternativen das Modell
der persönlichen Gesundheitsstelle, d.h.
eine Variante von Managed Care, und Ideen der
Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren
(!) präsentiert werden. Die Personalverbände
im Gesundheitswesen ihrerseits haben eine Petition
zur DRGEinführung lanciert, in der flankierende
Massnahmen gefordert werden, um das Schlimmste
zu verhindern – auch dies eine rein defensive
Plattform.
In
einer linken Perspektive wäre es notwendig,
grundsätzlich die Frage aufzuwerfen, was
für ein Gesundheitssystem wir eigentlich
wollen, statt mit mehr oder weniger fortschrittlich
abgewandelten Varianten aus der aktuellen „Reformdiskussion“
zu hausieren.
Dafür
lassen sich Ansatzpunkte finden, insbesondere
bei den Mobilisierungen des Pflegepersonals
und der ÄrztInnen in verschiedenen Ländern
(die sogar die Schweiz ein wenig erfasst hat),
sowie bei kritischen Studien zum Gesundheitssystem,
wie sie zum Beispiel in Deutschland oder angelsächsischen
Ländern durchgeführt wurden.
Der
Blick nach Frankreich ist interessant, weil
dort eine kritische Tradition der Arbeitsmedizin
besteht und interessante Untersuchungen zum
Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit gemacht
wurden. Ein Teil der Alternativen wird sich
darauf konzentrieren müssen, die durch
den heutigen Kapitalismus geförderten,
krankmachenden Arbeitsbedingungen und Lebensstile
in Frage zu stellen statt einfach nur an die
individuelle Verantwortung jedes/r Einzelnen
zu appellieren. Auf der anderen Seite sind Überlegungen
angebracht, wie in der Schweiz ein integriertes
System der sozialen Sicherheit geschaffen werden
könnte, das den Bedürfnissen der lohnabhängigen
Bevölkerungsmehrheit statt den Interessen
privater Versicherungen entspricht, und in dem
die Krankenversicherung ein zentrales Element
sein müsste.
siehe
auch:
Flyer
der Medizinstudierenden für ein DRG-Moratorium
|