„Das
Mass ist voll !“
Am
Dienstag 16. Februar 2011 hat das Gewerkschaftspersonal
der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental
die Arbeit niedergelegt. Auslöser war einerseits
die fristlose Absetzung des Berner Sektionsleiters
Roland Herzog durch das Management der Unia
sowie andererseits eine weiter zurückliegende
Verwarnung des Vertreters der Unia-Personalkommission
Nazmi Jakurti, deren Rücknahme von der
Geschäftsleitung verweigert wird, obwohl
diese entgegen allen Regeln ausgesprochen wurde.
Es
gibt keine Streiks aus nichtigen Gründen
Die
Gewerkschaftssekretär_innen an der Front
wissen sehr genau, was bei einem solchen Entscheid
auf dem Spiel steht. Einerseits kann der Konflikt
von den bürgerlichen Medien dazu missbraucht
werden, das Ansehen des Gewerkschaftsgedankens
zu diskreditieren. Dies was bisher der Hauptgrund
dafür, die Öffentlichkeit aus internen
Konflikten herauszuhalten. Andererseits drohen
- wie bei jedem Ungehorsam gegenüber einer
diktatorischen Direktion - Repressalien. Engagierte
gewerkschaftliche Mitarbeiter_innen sind ausserdem
auf dem Arbeitsmarkt der Privatwirtschaft nicht
gerade die begehrtesten Leute. Solche Aussichten
haben folglich einen disziplinierenden Effekt,
und das ist den Vorgesetzten wohl bekannt.
Gewerkschaftliches
Selbstverständnis gegen Modernisierungstrend.
Seit
der Fusion der Gewerkschaften SMUV, GBI und
VHTL zur Unia im Jahr 2004 läuft bei der
grössten Gewerkschaft der Schweiz ein Modernisierungsprozess
im Grunde neoliberalen Zuschnitts: Mit Callcenter
für Mitgliederanfragen anstatt Mitgliederkontakt,
mit einer Spezialisierung und Fragmentierung
der Dienstleistungen, mit einem Organizing-Konzept,
welches die aktiven Basismitglieder zunehmend
zu Instrumenten der Leitung macht anstatt ihnen
Autonomie und reale Mitentscheidung zu bieten.
Leider wird nicht versucht die Mitgliederbasis
und das Personal von der Einführung neuer
Organisationskonzepte, die bisweilen auch interessante
Aspekte in sich tragen, zu überzeugen.
Sie werden verordnet.
Wer
einem Beschluss des Managements im Wege steht,
wird eliminiert.
Zwar
gibt es bei der Unia eine interne, mit der nationalen
Personalkommission als Interessenvertretung
des Gewerkschaftspersonals ausgehandelte „Vereinbarung
über die Anstellungsbedingungen“
mit verbrieften Mitwirkungsrechten etc., die
denselben Status wie ein Gesamtarbeitsvertrag
in der Privatwirtschaft hat. Darin wird beispielsweise
postuliert, dass sich beide Seiten verpflichten,
gleichermassen für die Einhaltung der festgelegten
Regeln besorgt zu sein, und dass im Sinn von
Treu und Glauben gehandelt werden soll. Das
Problem ist nur, dass die Einhaltung der festgehaltenen
Bestimmungen durch die Mitarbeitenden eingefordert
und bei Verstoss sanktioniert wird, während
umgekehrt von oben noch und noch gegen die Rechtsansprüche
der Untergebenen verstossen wird, die sich aus
diesem Vertrag ableiten lassen. Ist ein_e Mitarbeiter_in
in Ungnade gefallen, fühlt sich die Obrigkeit
nicht mehr an Vertragliches gebunden.
Demokratie
– von Fall zu Fall
Gegenüber
der Mitgliederbasis kommt dieselbe Mentalität
zum Ausdruck. Selektive Information, das künstliche
Aufblähen von Schreckenszenarien, wenn
dem Vorschlag von oben nicht gefolgt werden
sollte, Überzeugungsarbeit im Gespräch
unter vier Augen oder durch einzelne Telefonanrufe,
Einladungen die „vergessen“ werden,
Mobilisierung bestimmter Wählergruppen
durch das Versprechen von Geschenken oder besonderen
Attraktionen sorgt für den optimalen Mix
an Stimmen, der bei Wahlen in gewerkschaftliche
Gremien den Wunschkandidat_innen der obersten
Chefs zum Durchbruch verhilft. Abgesehen davon,
dass meist nur dann alternative Kandidat_innen
zur Verfügung stehen, wenn sich jemand
zur Wahl stellt, der den Oberen suspekt ist.
Hält das Management etwas für besonders
wichtig und dringend spielen statutarische Bestimmungen
keine Rolle mehr. Wie ein solcher Mechanismus
funktioniert zeigt sich am Beispiel der gross
angekündigten Vertrauensleutekampagne mit
dem Namen „Unia-Forte“. Die von
einem Teil der Mitgliederbasis eingebrachten
Vorschläge zur Änderung von Statuten
und Grundsatzpapieren, mit dem Ziel, den Einfluss
der aktiven Mitgliedschaft zuungunsten des Managements
zu stärken, wurden am Unia-Kongress vom
Dezember 2010 an eine beratende Kommission überwiesen.
Seither hat man nichts mehr davon gehört.
Den
Repressalien Grenzen setzen.
Es
wird zunächst in erster Linie darum gehen,
die mutigen Mitarbeiter_innen, die sich in dieser
Auseinandersetzung exponiert haben, vor den
Rachegelüsten der Vorgesetzten zu beschützen.
Das ist ein defensiver Kampf, der Jahre dauern
wird und solide und andauernde Solidarität
bedingt. Die Methoden subtiler Repression kennen
wir. Immer von plausibel anmutender Argumentation
oder von falschen Versprechungen begleitet,
können Funktionsänderungen, Versetzungen
etc. angeordnet werden, Aufgaben können
entzogen oder in einem nicht mehr zu bewältigenden
Masse aufgedrängt werden. Persönlichkeitsbezogen
inkompatible Personen können durch Personalentscheide
in Abhängigkeit zueinander gebracht werden,
auf der Basis von gezielten Fehlinformationen
können schwerwiegende Verhaltensfehler
provoziert werden, die zu Sanktionen führen.
Den Möglichkeiten sind in einer Hierarchie
kaum Grenzen gesetzt. Wir kennen das aus der
Privatwirtschaft.
Zum
Kern des Problems vorstossen
Im
Grunde sind es nicht einmal schwerwiegende politische
Differenzen betreffend gewerkschaftliche Politik,
die den Unmut schüren. Der überwiegende
Teil des Gewerkschaftspersonals steht der sozialdemokratischen
Politik von Reformen und partieller Kollaboration
mit dem Bürgertum nahe. Da gibt es keinen
grundlegenden Unterschied zur Leitung. Der Kern
des Problems liegt vielmehr im Widerspruch zwischen
dem realen Innenleben der Gewerkschaft und ihrer
Proklamation nach aussen. Die Situation für
Mitarbeitende der Gewerkschaft, die beispielsweise
Mitglieder gegen Repressalien ihrer Chefs verteidigen
wollen, wird unerträglich, wenn sie mit
eigener Repression des Managements gegen Arbeitskolleg_innen
konfrontiert werden. Gewerkschaftsmitarbeiter_innen
an der Front, deren Aufgabe es ist, Lohnabhängige
von den Prinzipien der Gewerkschaft und den
Vorteilen bezüglich Rechtssicherheit die
der Gewerkschaftsbeitritt mit sich bringt, zu
überzeugen, können dies nicht mehr
mit dem notwendigen Enthusiasmus tun, wenn im
Innern der Gewerkschaft das pure Gegenteil von
Prinzipientreue und Rechtssicherheit herrscht.
Wie will sich ein_e Gewerkschaftssekretär_in
glaubhaft für den Schutz von Personalvertreter_innen
in der Privatwirtschaft einsetzen, wenn Vertreter
der eigenen Personalkommission unlauteren Disziplinierungen
durch die Gewerkschaftsleitung ausgesetzt sind?
Gefangen in diesen Widersprüchen, muss
die Motivation der Mitarbeitenden unweigerlich
Schaden erleiden, das interne Vertrauensverhältnis
wird zerstört. Dazu kommt, dass die Verhandlungsposition
gegenüber Unternehmern geschwächt
wird, wenn diese in der Auseinandersetzung darauf
hinweisen können, dass Unia-intern auch
keine Regeln eingehalten werden.
Die
Hindernisse der Demokratisierung
Eine
Gewerkschaft, die all ihre grossen Kampagnen
mit polterndem Verbalradikalismus einführt,
sich in Schaumschlägerei gefällt und
schliesslich sogar Niederlagen, in propagandistischer
Manier als Erfolge zu verkaufen versucht, untergräbt
ihre Glaubwürdigkeit. Es zeugt von einer
zynischen Haltung aktuellen und potentiellen
Mitgliedern gegenüber, davon auszugehen,
dass die Mitgliederzahl nur mittels aufgemotzter
PR-Kampagnen, gehalten oder vermehrt werden
können. Eine Gewerkschaft, die, sobald
sich in irgend einem Betrieb Widerstand manifestiert,
sofort wie die Feuerwehr ankommt und das Kommando
übernimmt, demobilisiert und entmutigt
Lohnabhängige, ihr Schicksal selber in
die Hand zu nehmen. Eine Gewerkschaftsleitung,
die ihrem eigenen Personal gegenüber diktatorisch
auftritt und arbeitsvertragliche Vereinbarungen
nicht einzuhalten bereit ist, richtet die Glaubwürdigkeit
der ganzen Bewegung zu Grunde. Gewerkschaftlicher
Paternalismus entpolitisiert und entmündigt
aktive Menschen, die versuchen ihre Rechte am
Arbeitsplatz durchzusetzen. Werden die formell
bestimmenden Basisorgane der Gewerkschaft nicht
auf ehrliche und transparente Art und Weise
in die Entscheidungsfindung miteinbezogen, so
werden Leute die Mitbestimmen wollen, entmutigt.
Zur Konsultation bleiben dann nur noch die Kopfnicker
übrig, die auch als Personalvertreter ihres
Betriebes nicht die wertvollsten sind. Wird
weiterhin eine gewerkschaftliche Bildungspolitik
betrieben, die das Bildungsangebot praktisch
ausschliesslich auf technische Aspekte konzentriert
und die politische Bildung der Mitglieder vernachlässigt,
so wird nicht die Emanzipation der Mitglieder
erreicht und ihr Kampfbereitschaft erhöht,
sondern die politische Hegemonie der Leitung
konserviert.
Zu meinen, die Gewerkschaft Unia könne
mit der aktuellen Direktion zu einer demokratisch
funktionierenden Organisation oder gar zu einer
Interessevertretung der Arbeiter_innenschaft
gemacht werden, die transparent funktioniert
und darauf verzichtet, hinter den Kulissen mit
den Unternehmern zu kungeln, ist allerdings
eine Illusion.
Was bedeutet eine demokratische und partizipatorische
Gewerkschaftsbewegung?
Die
modernen Methoden des gewerkschaftlichen Aufbaus,
die Organizing, Campaigning etc. genannt werden,
bestehen darin, die Personen, welche man überzeugen
will, in einem ersten Schritt über ihre
Sorgen, Bedürfnisse und Bereitschaft zur
Aktion zu befragen. Sie können auf unterschiedliche
Weise genutzt werden. Entweder man stellt mögliche
Widerstände gegen das von vornherein verfolgte
Vorhaben fest und ergreift Massnahmen, die Vorbehalte
oder deren Träger zu eliminieren, oder
aber man tritt in einen ehrlichen Dialog mit
den betreffenden Personen und versucht, einen
Konsens zu finden. Eine andere, partizipative
Gewerkschaftspolitik würde voraussetzen,
dass alle Aktivitäten einer Bilanz unterzogen
werden, bei der breite Kreise einbezogen werden
und eine selbstkritische Reflektion über
das Geschehene gefördert wird. Eine andere
demokratische Gewerkschaft würde ihre von
den Mitgliedern bezahlte Infrastruktur und das
gesammelte Wissen in den Dienst der Lohnabhängigen
die sich zur Wehr setzen stellen und diese darüber
entscheiden lassen, wie sie ihre Interessen
verteidigen wollen.
Der
Streik der Berner Kolleg_innen, so ist zu hoffen,
könnte Auslöser dafür sein im
Personal und bei der Mitgliederbasis eine breite
Diskussion über eine demokratische Unia
von unten zu führen. Dafür Anstoss
zu geben und Perspektiven zu entwickeln wurde
ein nationales Komitee gegründet. Dem Projekt
ist Glück und Durchhaltevermögen zu
wünschen.
Natürlich
sind nicht alle im Management im gleichen Masse
an der geschilderten Willkür beteiligt.
Da es in diesem Kreis jedoch keine Kraft gibt,
diktatorischem Gehabe etwas entgegenzusetzen
gilt auch die kollektive Verantwortung der Machthabenden
und einiger ihrer regionalen Kader, die diesen
ihre Karriere zu verdanken haben. All die geschilderten
Fehlleistungen haben ihren Ursprung bei der
Direktion, selbst dann, wenn diese im Feld von
Subalternen ausgeführt werden: Der Fisch
stinkt bekanntlich vom Kopf her - oder, wenn
wir schon bei Sprichwörtern sind: eine
Treppe muss von oben nach unten gewischt werden.
*
Hanspeter Gysin war, bis zu seiner Pensionierung
2007, 10 Jahre lang Präsident der Unia-Personalkommission
Weitere
Infos auf:
http://www.unia-von-unten.ch
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