Am
15. September 2008 jährte sich die Pleite
von Lehman Brothers zum dritten Mal. Mit ihr
hat offiziell die eigentliche Finanzkrise begonnen.
Und schon stehen wir am Anfang einer neuen Krise.
Die Staaten sind überschuldet und der Grund
für diese Überschuldung soll bei den
unfähigen Regierungen und ihrer ungezügelten
Ausgabenpolitik liegen. Dies ist aber keineswegs
der Grund. Die Staatsschuldenkrise ist nichts
anderes als die Fortsetzung der großen
Krise, die vor drei Jahren beinahe die ganze
Welt erfasst hat. Als die Immobilienblase (insbesondere
in den USA) platzte, wurde die Verschuldung
der Privathaushalte zur Verschuldung der Finanzinstitute
und diese wiederum führte zur Verschuldung
der Staaten. Die Karikatur eines Beispiels dafür
wurde der irische Staat: Er übernahm die
Verpflichtungen der Banken, die von toxischen
Aktiva der Finanzkrise belastet waren und versuchte
damit, ein Fass ohne Boden zu füllen: 29,3
Mrd. Euro zum Beispiel alleine für den
Versuch, die Anglo Irish Bank zu sanieren. Zur
Rettung der Banken, deren Verluste vorher verschwiegen
wurden, wurden bis heute insgesamt 50 Mrd. Euro
oder fast ein Drittel des Bruttoinlandprodukts
(BIP) ausgegeben. [1]
Die
Überschuldung der Privathaushalte hat die
Finanzwelt gefährdet und die Staaten haben
keine Sekunde gezögert und sind ihnen zu
Hilfe geeilt, ohne irgendwelche Bedingungen
zu stellen, ganz nach dem guten alten Prinzip
„Privatisierung der Profite, Vergesellschaftung
der Verluste“. Gemäß der Europäischen
Kommission der EU haben die 27 Mitgliedsländer
im Jahr 2009 den Finanzinstituten 352 Mrd. Euro
an Hilfe zukommen lassen, das sind knapp 3 %
des BIP der EU. In dieser Summe sind die Garantien
inbegriffen, die noch keine wirklichen Ausgaben
darstellen. Ohne Garantien beträgt die
Hilfe an den Finanzsektor 224 Mrd. Euro (für
die Rekapitalisierung der Banken oder zur Tilgung
ihrer toxischen Aktiva oder zur Verbesserung
ihrer Liquidität), was ca. 2 % des BIP
der EU-27 ausmacht. [2] In den USA beträgt
die Hilfe des Troubled Asset Relief Program
(TARP) an diverse Finanzinstitute 700 Mrd. Dollar.
Gleichzeitig hat die Fed (die amerikanische
Zentralbank) diesen Institutionen für über
2500 Mrd. Dollar zinslose Darlehen gewährt.
[3] Nach offiziellen Zahlen hat in Frankreich
die Rettung des Finanzsystems während der
Krise die öffentliche Hand 128 Mrd. Euro
gekostet. Die Europäische Kommission schätzt
die effektiven Ausgaben des französischen
Staates viel höher ein, nämlich von
2008 bis 2009 auf 210 Mrd. Euro für Rekapitalisierungen
und Garantien, was Zweifel an der Höhe
der tatsächlichen Hilfe aufkommen lässt,
da die Garantien keine Ausgaben bedeuten. Zweifel
sind auch angebracht bezüglich der 128
Mrd. Euro. [4]
Der
vergiftete Stab der Überschuldung wurde
so von Hand zu Hand weitergereicht, ohne dass
er deshalb aus der Welt geschafft worden wäre,
ganz im Gegenteil. Zu dieser schweren Last kamen
noch die Auswirkungen des Rückgangs der
öffentlich finanzierten Aktivitäten
hinzu, Auswirkungen, die die Steuereinnahmen
schmälern und zu höheren Ausgaben
führen. Dabei darf die Riesenlast der zahlreichen
Pläne für den Wiederaufschwung nicht
vergessen werden. China allein hat dafür
585 Mrd. Dollar ausgegeben.
Der
beste Beweis für den nahtlosen Übergang
von der Immobilienkrise zur Krise der Staaten
ist aus der Tabelle 1 ersichtlich, die die Entwicklung
des Anteils der öffentlichen Defizite am
BIP aufzeigt. Von 2005 bis 2007 lag deren Umfang
in den meisten europäischen Ländern
in durchaus vernünftigen Grenzen. Diese
Defizite stiegen in Wirklichkeit erst 2008/09
sprunghaft an als Folge der Bankenrettungen
und der kostspieligen Wiederaufschwungpläne
und weil im Rückgang der Aktivitäten
der öffentlichen Hand (und der Steuereinnahmen)
die Folgen der großen Krise des 21. Jahrhunderts
spürbar wurden. Das öffentliche Defizit
der gesamten Eurozone belief sich 2009 auf 6,3
% des BIP, im Gegensatz zu 2007, als es lediglich
0,7 % betrug. In allen OECD-Ländern stieg
dieses Defizit von 1,3 % im Jahr 2007 auf 8,2
% im Jahr 2009. Einige dieser Länder wiesen
2007 sogar einen Überschuss auf. Darunter
auch einige heute besonders gefährdete
Länder wie Irland oder Spanien. Hinzu kommt,
dass zahllose Steuererleichterungen für
die Reichsten in den meisten Ländern, die
Steuerparadiese und die Einschränkungen
in der öffentlichen Ausgabenpolitik ebenfalls
zu Steuermindereinnahmen geführt und so
der öffentlichen Hand in einem äußerst
wichtigen Augenblick den finanziellen Spielraum
geraubt haben. (Tabelle 1)
Dies
wird von Tabelle 2 bestätigt, die die Entwicklung
der Schulden der nationalen Verwaltungen in
Prozent des BIP zeigt. 2005 liegt dieser Prozentsatz
in einigen Ländern besonders tief (zum
Beispiel Irland, Spanien) und in einigen Ländern
besonders hoch (zum Beispiel Griechenland, Japan).
Doch in allen Ländern kommt es 2009, ja
sogar bereits 2008 zu einem sprunghaften Anstieg.
Auch diese Tabelle zeigt klar, dass ein Zusammenhang
besteht mit der großen Krise des beginnenden
21. Jahrhunderts, sei dies nun die Rettung der
Banken mit öffentlichen Geldern, die extrem
teuren Wiederaufschwungspläne oder das
Dahinschmelzen der Steuereinnahmen, von denen
der Rückgang der Aktivitäten begleitet
wird. (Tabelle 2)
Um
das Misstrauen einzudämmen zu versuchen,
wurde ein europäischer Fonds gegründet
und Griechenland im Frühjahr 2010 eine
erste Hilfe von 110 Mrd. Euro zugesprochen (dessen
öffentliche Verschuldung damals 140 % des
BIP ausmachten). Seither ist die Bedrohung noch
gewachsen: Auf Griechenland folgten rasch Irland
und Portugal mit einer öffentlichen Verschuldung
von 114 % resp. 93 % des BIP. Dann Spanien und
eventuell Italien mit 120 %. Und schließlich
Frankreich, warum auch nicht. Am 21. November
2010 stürzt Irland wegen seiner Banken
und bekommt von der EU und vom IWF eine Hilfe
von 85 Mrd. Euro. Am 7. April 2011 trifft es
Portugal; am 3. Mai 2011 erhält es von
der EU und vom IWF 78 Mrd. Euro. Am Ende des
Jahres 2010 weist es ein Staatsdefizit von 9,2
% des BIP aus und eine Staatsverschuldung von
160 Mrd. Euro. Gleichzeitig mit dieser „Hilfe“
werden riesige Opfer abverlangt, überall
muss die Bevölkerung für eine Krise
bezahlen, die sie nicht verursacht hat.
Unter
dem Druck der „Märkte“ will
jedes Land in Sachen Härte der Musterknabe
sein in der Hoffnung, so Sanktionen zu entgehen.
Als Italien von der Spekulation bedroht wurde,
wurde überstürzt ein zweites „Sparpaket“
von 48 Mrd. Euro geschnürt und am 15. Juli
2011 beschlossen. Es sieht weitere Privatisierungen
vor, das Einfrieren der Löhne und einen
Anstellungsstopp bei den Staatsangestellten
sowie eine Senkung der Beiträge an die
Gemeinden. Diese Logik des „Musterschülers“
ist in Tat und Wahrheit ein schrecklicher Teufelskreis.
Die massive Senkung der öffentlichen Ausgaben
in allen Ländern (USA inbegriffen) und
der weitverbreitete Griff zur „Sparpolitik“
führen zur Beschränkung öffentlicher
Aktivitäten. Auf die nach Erhalt der Finanzhilfe
von 78 Mrd. Euro in Portugal als Gegenleistung
beschlossenen Maßnahmen werden zwei Jahre
Rezession folgen (2012/13), was selbst Befürworter
dieser Hilfe zugeben. [5] Der Rückgang
der öffentlichen Aktivitäten führt
zum Rückgang der Steuereinnahmen, was wiederum
das Defizit erhöht. Die „Märkte“,
die zu Ausgabenkürzungen drängen,
stellen ein erhöhtes Defizit fest und verlangen
für Darlehen an den betroffenen Staat ständig
höhere Zinsen, womit sie die Schuldenlast
noch vergrößern. So stiegen am 11.
Juli 2011 die Zinsen auf langfristige, zehnjährige
Darlehen in Spanien und Italien auf historische
Rekordhöhen, zwischen 5,5 und 6 %. Am 2.
August 2011 stiegen die gleichen Zinsen erneut:
Die Zinsen auf spanische Obligationen wurden
auf 6,326 % und auf italienische Obligationen
auf 6,165 % erhöht. Der Abstand zum Zinssatz
Deutschlands (er lag damals bei 2,426 %), der
als Referenzzinssatz dient, stieg ebenfalls
auf einen neuen Rekord. Eine mittel- und langfristig
klar unhaltbare Situation. Gleichzeitig kletterten
die Zinsen für 10-jährige Darlehen
in Portugal auf 10,708 % und jene in Griechenland
blieben stabil, allerdings bei 14,454 %! [6]
Und es geht schnell: Am 27. Juli gab das italienische
Schatzamt zehnjährige Titel im Betrag von
942 Millionen Euro aus zum Zins von 4,07 %,
während die vorhergehende ähnliche
Operation vom 27. Mai noch zum Zins von 2,51
% erfolgte! [7] Sollte es in diesem Rhythmus
weitergehen, wird die Finanzierung des Defizits
durch den italienischen Staat mit „Hilfe“
der Märkte schnell einmal prohibitiv.
Bei
dieser Flucht nach vorn ist auf dem europäischen
Gipfel in Brüssel vom 21. Juli 2011 eine
Schwelle überschritten worden. Es wurde
ein neues Hilfspaket für Griechenland von
109 Mrd. Euro beschlossen. Die diesem Land gewährten
alten und neuen Darlehen wurden von 7½
auf 15 Jahre verlängert. Der sehr hohe
Zins von 6 % wurde auf 3,5 % und 4 % gesenkt.
Irland und Portugal, denen Europa ebenfalls
„geholfen“ hat, kommen ebenfalls
in den Genuss dieser tieferen Zinsen. Dem Europäischen
Stabilitätsfonds wurden neue Aufgaben übertragen.
Er darf in Zukunft Regierungen für die
Rekapitalisierung ihrer Banken mit Darlehen
unterstützen oder sogar in Schwierigkeiten
geratenen Banken direkt Darlehen gewähren.
So wird die gleiche zerstörerische Politik
weiterverfolgt. Die Hilfe an die Finanzwelt
ist massiv, bedingungslos. Ihr fließen
weiterhin unglaubliche Summen zu, ohne dass
dafür irgendwelche Gegenleistung, Einschränkung,
Regulierung verlangt wird. Im Gegensatz dazu
werden von der Bevölkerung, die bereits
unter „Spar“-Plänen, Privatisierungen
und der Zerstörung des öffentlichen
Dienstes leidet, unglaubliche Opfer abverlangt.
Und dies alles, ohne dass sich eine Lösung
der Krise abzeichnet: Die Financial Times schätzt,
dass die Schulden Griechenlands mit dem ganzen
Maßnahmenpaket des Gipfeltreffens lediglich
um 7 % gesenkt werden können. Andere rechnen
mit einer Senkung von 10 % oder 20 % [8], doch
so oder so sind wir von einer Lösung weit
entfernt. 2010 betrug das Staatsdefizit Griechenlands
10,4 % seines BIP anstatt der ursprünglich
geplanten 9,6 %. [9] Im Jahr 2011 wird seine
öffentliche Verschuldung 150 % des BIP
übersteigen und das Land weiterhin im Würgegriff
halten, das wirtschaftlich und sozial bereits
auf den Knien ist.
Der
Gipfel vom 21. Juli bedeutet also lediglich
die Fortführung einer unheilvollen Politik.
Er bedeutet jedoch trotzdem eine Wende, allerdings
auf einem ganz anderen Gebiet: Zum ersten Mal
wurde auch ein Beitrag vom Privatsektor, von
Banken und anderen Finanzinstituten verlangt.
Dies muss als Folge des Drucks von Seiten wütender
SteuerzahlerInnen gesehen werden. Das Bewusstsein
über den Ernst der Lage ist ebenfalls gewachsen
und darüber, dass nicht einfach im gleichen
Stil weitergemacht werden kann. Es wurde beschlossen,
dass die Schulden des griechischen Staates nicht
wie ursprünglich vorgesehen behandelt werden
und dass die Gläubiger die Wahl haben zwischen
folgenden möglichen Lösungen: Tausch
ihrer Titel gegen solche mit längeren Laufzeiten
(30 Jahre), Weiterführung der abgelaufenen
Titel zu gleichen Konditionen oder Verkauf ihrer
Titel mit einer Abschreibung auf einem Wiederverkaufsmarkt.
Im
letzteren Fall könnte der Europäische
Stabilitätsfonds ebenfalls eingreifen,
indem er diese „Second-Hand“-Schuldbriefe
aufkaufen könnte. Tatsache ist, dass auf
diesem Gipfel beschlossen wurde, dass Aufkäufe
dieser Art von allen Ländern der Eurozone
einstimmig bewilligt werden müssen. Trotzdem
können Banken auf diese Art günstig
einen Teil ihrer toxischen Papiere loswerden,
da für die Kosten die europäischen
SteuerzahlerInnen aufkommen. Man könnte
sogar sagen, dass sie dazu aufgefordert werden,
da sie beim Kauf von Wertpapieren größere
Risiken eingehen können, wohl wissend,
dass sie sie leicht wieder los werden können.
Leider ist diese Vorgehensweise nicht neu. Ist
es nicht bereits so gelaufen, bevor der Europäische
Stabilitätsfonds diese Kompetenzen erteilt
hat? Die Banken vergaben Darlehen an Länder
der Eurozone, ohne sich groß um deren
Überschuldung zu kümmern, so sicher
waren sie, bei ernsthaften Problemen finanzielle
Hilfe aus Europa zu bekommen. So konnten sie
gleichzeitig extrem hohe Zinsen verlangen, die
berühmte „Risiko-Prämie“
(wobei sie sich für 1 % bei der Europäischen
Zentralbank refinanzieren können), und
sicher sein, dass sie bei Verfall ihr geliehenes
Geld wieder zurückerhalten. Das Risiko,
das normalerweise vom privaten Geldgeber getragen
wird, war de facto bereits der öffentlichen
Hand übertragen worden.
Der
Europa-Gipfel vom 21. Juli ist aber in anderer
Hinsicht eine klare Wende: Zum ersten Mal wird
Zahlungsunfähigkeit zugelassen. Es kursieren
sehr unterschiedliche Schätzungen. Der
neue Hilfsplan für Griechenland soll sich
auf 160 Mrd. Euro belaufen. 109 Mrd. sollen
von Europa und vom IWF stammen, der Rest von
privaten Gläubigern. Nach Angaben des IWF
sollen die Gläubigerbanken Griechenlands
zwischen 2011 und 2020 135 Mrd. beisteuern,
54 Mrd. davon bis 2014. Die europäischen
Banken und Versicherungen sollen 21 % von dem
abschreiben, was ihnen Griechenland schuldet.
[10] Doch genaue Zahlen sind im Moment unwichtig.
Es ist auch unwichtig, ob von einer teilweisen
Zahlungsunfähigkeit oder von einer selektiven
Zahlungsunfähigkeit die Rede ist. Wichtig
ist, dass sie als Möglichkeit anerkannt
wird. Die Finanzlobby hat gute Arbeit geleistet:
Das von den kreditgebenden Banken abverlangte
Opfer ist sehr bescheiden: Insgesamt kommen
die Rückstellungen auf griechische Wertpapiere
für die französischen Banken lediglich
auf 1,4 Mrd. Euro und für die deutschen
Banken auf 843 Millionen. [11] Dennoch: Ein
Gläubiger des griechischen Staates hat
heute nicht mehr die Gewissheit, dass er sein
Geld in vollem Umfang und zum vorgesehenen Zeitpunkt
zurückbezahlt erhält. Bereits am 22.
Juli hat die Rating-Agentur Fitch verlauten
lassen, dass sie beabsichtigt, Griechenland
für teilweise zahlungsunfähig zu erklären.
Am 25. Juli hat Moody’s erklärt,
Griechenland stehe knapp vor der Zahlungsunfähigkeit.
Diese würde eintreten, sobald der Austausch
der alten Darlehen der griechischen Verschuldung
gegen neue abgeschlossen sei.
Eine
solche Zahlungsunfähigkeit kann schwerwiegende
Konsequenzen haben. Sie schwächt die vielen
Banken, die, geblendet von der Aussicht auf
Gewinne, riesige Mengen an öffentlichen
griechischen Obligationen gezeichnet haben.
Hinzu kommt, dass die Europäische Zentralbank
damit droht, bei Zahlungsunfähigkeit als
Gegenwert für Finanzspritzen an griechische
Banken keine griechischen Papiere mehr entgegenzunehmen
(wie sie dies bis dahin getan hat). Tatsächlich
wollte das Europa des Geldes mit der Gewährung
der notwendigen Garantien die Europäische
Zentralbank ersetzen, doch sein Engagement bleibt
unklar und es ist unsicher, ob dies genügt.
Vergessen wir vor allem nicht, dass viele Finanzinstitute,
die Griechenland Darlehen gewährt haben,
sich für den Fall von Zahlungsunfähigkeit
mit Kreditausfall-Swaps (credit default swaps,
CDS) abgesichert haben. CDS sind „Derivate“,
deren Wert und Eigentümer unbekannt sind.
Hier droht eine Staumauer zu brechen und es
könnte zu einem Tsunami kommen.
Diese
Gefahr ist schon groß, doch wirkliche
Gefahr droht anderswo. Die TeilnehmerInnen am
Europa- Gipfel waren vielleicht der Meinung,
Griechenland gerettet zu haben. Doch bei Zahlungsunfähigkeit
könnte das Misstrauen der Märkte sofort
negative Folgen für das nächste Land
auf der Liste haben (Irland, Portugal …):
der Dominoeffekt wäre in Gang gesetzt.
Die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands akzeptieren,
kommt dem Scheitern der gesamten bisherigen
Strategie gleich. Damit würde der Zweifel
wachsen, dass mit dieser Strategie die Probleme
der anderen Länder der Eurozone gelöst
werden können. Die Tatsache, dass im Schlusskommuniqué
des Europa-Gipfels Griechenland als Einzelfall
bezeichnet wird, zeigt, woher Gefahr droht.
Doch die Hilfe an Griechenland könnte weiteren
bedrohten europäischen Ländern wegen
deren Größe und wegen des Ausmaßes
ihrer Verschuldung schwerlich ebenfalls gewährt
werden. Hier würde eine wahre Schuldenmauer
bersten, was kein Europäischer Stabilitätsfonds
aufzuhalten vermöchte, wäre er mit
noch so viel Finanzmitteln ausgestattet (heute
belaufen sich diese auf 750 Mrd. Euro, aber
die tatsächliche Darlehensgarantie auf
440 Mrd. Euro). Von daher gesehen wurde eine
Schwelle überschritten, als sich im Juli
2011 das Misstrauen der Investoren gegen Italien
richtete, denn dieses Land allein wiegt wirtschaftlich
mehr als doppelt so schwer wie die drei Länder
zusammen, die bis dahin „Hilfe“
erhalten haben (Griechenland, Irland, Portugal).
Wir
stehen also vor einer grundlegenden Wende, sozusagen
in einer Krise in der Krise, weil Griechenland
eine gigantische Zahlungsunfähigkeit einläutet
und weil die Tatsache, dass Italien zur Bedrohung
dazugekommen ist, zeigt, dass die EU nicht alle
Länder retten kann, selbst wenn sie ihre
Anstrengungen koordiniert. Der Präsident
der Europäischen Kommission, José
Manuel Barroso, hat schließlich zugegeben,
dass heute ganz Europa von der Verschuldungskrise
betroffen ist und nicht bloß dessen Peripherie.
Es muss heute sogar anerkannt werden, dass die
Überschuldungskrise der öffentlichen
Haushalte weltweiten Charakter angenommen hat,
was nichts anderes ist als ein Ausdruck der
weltweiten Krise von 2008/09. Wenn die USA und
Japan momentan noch vom Diktat der Märkte
verschont geblieben sind, so hängt das
mit ihrem Ruf zusammen: Wer kann sich vorstellen,
dass zwei der größten Wirtschaftsmächte
der Welt zahlungsunfähig werden könnten?
Hinzu kommt, dass die Staatsverschuldung Japans
im Wesentlichen von japanischen Unternehmen
getragen wird, was sie viel stabiler macht und
dazu führt, dass sie der Spekulation weniger
stark ausgesetzt ist. In Wirklichkeit sind die
USA und Japan von der Überschuldung ebenso
betroffen wie Europa. Die Staatsverschuldung
Japans bricht sämtliche Rekorde: Zu Beginn
des Jahres 2011 229 % des BIP. [12] Das Defizit
der USA (Nettokreditaufnahme) betrug im 1. Quartal
2011 9,1 % des BIP. Die Verschuldung des öffentlichen
Haushalts der USA hat Mitte Mai 2011 ihre gesetzlich
festgelegte Grenze erreicht (14 294 Mrd. Dollar).
Darüber hinaus darf der Staat keine weiteren
Schulden machen. Diese Obergrenze macht 96 %
des BIP der USA aus und wurde am Ende des 1.
Quartals 2011 erreicht (das BIP wird in Jahreszahlen
angegeben). Als diese Schuldenobergrenze aufgehoben
wurde, stieg die Verschuldung der öffentlichen
Haushalte der USA bis am 2. August auf 14 580,7
Mrd. Dollar. Damit wurde das gesamte BIP von
2010 überschritten und belief sich am Ende
des 1. Quartals 2011 auf 98 % des BIP. [13]
Damit nähert man sich 100 %. Nach Angaben
des IWF wird dieser Prozentsatz 2012 bei 103
% ankommen. [14] 2007 betrug er 64,4 %. [15]
Auch hier erfolgte dieser Sprung nach ganz klar
während der Krise von 2008/09.
Obwohl
die Abstufung der öffentlichen Verschuldung
der USA durch die Rating-Agentur Standard and
Poor’s eine logische Folge dieser Situation
war, schlug sie wie eine Bombe ein. Am 5. August
erfolgte die Abstufung von AAA (Maximum) auf
AA+ mit negativen Aussichten. Dieser Entscheid
hat zur Folge, dass amerikanische Staatsanleihen
teurer werden (und somit die Verschuldung weiter
steigen wird), die Zinsen mittel- und langfristig
steigen, das weltweite Finanzsystem bedroht
wird (das sich teilweise nach den Anweisungen
der amerikanischen Schatzkammer richtet), jene
einen Verlust erleiden, die Papiere von amerikanischen
Staatsanleihen besitzen (in erster Linie China),
das Außenhandelsdefizit der USA immer
schwieriger zu finanzieren ist, und vor allem
das Misstrauen gegenüber jeder Art von
Staatsanleihen enorm geschürt wird. Wenn
man den USA nicht mehr uneingeschränkt
vertrauen kann, wie soll man dann anderen Staaten
noch vertrauen? Dies alles wird die Finanzierung
aller öffentlichen Defizite weiter verteuern
und weitere Länder in die Zahlungsunfähigkeit
treiben. Auch das Vertrauen der wirtschaftlichen
Akteure wird extrem schwinden, die noch weniger
investieren und konsumieren werden als bisher.
Einige
orientierten sich an Keynes und dachten, dass
die Budgetpolitik, die Pläne für den
wirtschaftlichen Wiederaufschwung und die Erhöhung
der öffentlichen Defizite die ultimative
Lösung für die Krise seien, ein Mittel,
das einzusetzen die Orthodoxie im Jahr 1929
verhindert habe und für dessen Einsatz
man heute nun den Mut gehabt habe. Es zeigt
sich jetzt, dass die so geschaffene öffentliche
Verschuldung lediglich eine besondere Form einer
Krise ist, die andauert und lediglich ständig
ihr Aussehen ändert. Von einer Flucht nach
vorn zur nächsten Flucht nach vorn wurde
Zeit gewonnen, die Zahlungsfristen hinausgeschoben,
es ging von der Krise der New Economy zur Immobilienkrise,
von der Überschuldung der Privathaushalte
zur Überschuldung der Banken und schließlich
von der Überschuldung der Banken zur Überschuldung
von Staaten. Aber die Welle der Ungleichgewichte
entzieht sich nun der Kontrolle, die Staaten
sind der letzte Damm und dieser gibt nun langsam
nach. Nun ist die Stunde der Abrechnung gekommen.
In meinem Buch „La grande crise du XXIe
siècle“, das im März 2009
herausgekommen ist, schreibe ich: „Man
kann sich (…) fragen, ob die nächste
Form der Krise nicht die katastrophale sein
wird, nämlich die des Misstrauens gegenüber
Staatsanleihen, die gewöhnlich für
absolut sicher gehalten werden. Bis jetzt hat
das Kapital, das nicht mehr an die Börsen
fließt oder keine Unternehmensobligationen
mehr kauft, massiv Staatsanleihen gekauft, so
dass sich die Staaten günstig finanzieren
konnten. Aber auch hier wächst die Gefahr,
die sich immer klarer abzeichnet (…) Je
stärker die öffentliche Verschuldung
wächst, umso teurer wird eine weitere Verschuldung.
Die Staaten können intervenieren, um das
kapitalistische System zu retten, was sie bis
heute ohne Skrupel auch getan haben. Aber wer
wird die Staaten selbst retten, wenn ihre wirtschaftliche
Glaubwürdigkeit bedroht ist? Sie sind die
letzte Stützmauer: nachher gibt es nichts
mehr.“ [16]
DIE VEREINIGTEN STAATEN
Wie
wir gesehen haben, war anfangs Sommer 2011 Europa
das große Sorgenkind. Es war allgemein
anerkan-nt, dass die Welt von dieser Ausnahme
abge-sehen aus der Krise herausge-funden habe.
Die weltweite Konjunkt-ur behandeln heißt,
zuerst einmal die amerikanische Konjunktur analysieren.
Es lässt sich mit Bestimmtheit nicht behaupten,
die USA hätten nun die schwerste Krise
seit 1929 überwunden, ganz im Gegenteil.
Schauen
wir das mal genauer an. Das BIP der USA stagnierte
2008 (-0,3 %) und sank dann stark 2009 (-3,5
%). Ein katastrophaler Rückgang, der ohne
massive Intervention der öffentlichen Hand
ins Bodenlose hätte führen können.
Die Einkommen der Privathaushalte gingen 2009
im Vergleich zu 2008 stark zurück (-530
Mrd. Dollar). Aber der Schlingerkurs wäre
noch viel größer gewesen ohne massive
Aufstockung der öffentlichen Transfer-Zahlungen
zu den Privathaushalten (+259 Mrd.). Diese Aufstockung
hat die Lohnsenkung fast vollständig wettgemacht
(-272 Mrd.). Das verfügbare Einkommen der
Privathaushalte schrumpfte ebenfalls (-235,7
Mrd.), jedoch viel weniger als ihre Gesamteinkommen.
Dies wurde möglich mit einer dramatischen
Senkung der Einkommenssteuern für natürliche
Personen (-294,3 Mrd.). Dies hing teilweise
mit dem Rückgang der Einkommen zusammen,
aber auch mit Steuererleichterungen großen
Ausmaßes. Diese Summe (Löhne der
öffentlichen Angestellten plus öffentliche
Transfer-Zahlungen an die Privathaushalte minus
Einkommenssteuern der natürlichen Personen)
zeigt, in welchem Ausmaß die öffentliche
Hand die Privathaushalte unterstützt hat.
2008 beläuft sich diese Unterstützung
auf 1587,6 Mrd. Dollar, im Jahr 2009 auf 2172
Mrd., was einer Zunahme von 584,4 Mrd. entspricht.
Eine Unterstützung außergewöhnlichen
Ausmaßes. Dank dieser Unterstützung
sank das verfügbare Einkommen der Privathaushalte
nur halb so viel wie deren Einkommen. Diese
Unterstützung hat verhindert, dass aus
der Rezession eine tiefe Depression wurde.
Die
wesentliche Frage ist demnach, wie sich diese
Wirtschaft verhalten wird, wenn ihr dieses riesige
öffentliche Gerüst einmal entzogen
wird.
Wenden
wir uns zu diesem Zweck den Quartalszahlen dieser
Gesamtsumme zu (Löhne der öffentlichen
Angestellten plus öffentliche Transfer-Zahlungen
minus Einkommenssteuern der natürlichen
Personen). Sie zeigen, dass die massive öffentliche
Unterstützung im Laufe des Jahres 2008
und im ersten Halbjahr 2009 massiv zugenommen
hat. Diese Unterstützung bleibt 2010 auf
hohem Niveau, schwankt allerdings ständig.
Im 1. Quartal 2011 kommt die Wende: die erwähnte
Summe sinkt massiv(-133 Mrd. Dollar) und die
öffentlichen Ausgaben sinken deutlich (-5,9
% und -1,1 % im 2. Quartal). Jetzt beginnt also
der Rückgang der öffentlichen Unterstützung.
Doch der Privatsektor springt nicht in die Bresche.
Im Immobiliensektor dauert die Krise an: -27,7
% im Jahr 2010 (im 3. Quartal), dann Stagnation:
+2,5 % (im 4. Quartal), -2,4 % im Jahr 2011
(1. Quartal) und +3,8 % (im 2. Quartal). Die
Unternehmen investieren zwar mit steigender
Tendenz, doch der Rhythmus des Wachstums verlangsamt
sich: 18,6 % im Jahr 2010 (2. Quartal), 11,3
% (3. Quartal), 8,7 % (4. Quartal) und schließlich
2,1 % im Jahr 2011 (1. Quartal), gefolgt von
einem kleinen Aufschwung (+6,3 %) (2. Quartal).
Der Beitrag des Außenhandels ist manchmal
positiv, aber oft negativ. Im 1. Quartal 2011
liegt das Gesamtergebnis nahe bei der Stagnation
(+0,4 %) und im 2. Quartal ist es äußerst
knapp (+1,3 % BIP).
Bleibt
das Wesentliche: Der Konsum der Privathaushalte,
der in den USA besonders ins Gewicht fällt
(70,5 % des BIP gegen nur 56 % zum Beispiel
in Frankreich). Doch der Privatkonsum keucht
unter den sinkenden Löhnen, ist von Erwerbslosigkeit
bedroht und wird von den sinkenden Werten im
Immobiliensektor negativ beeinflusst, sodass
er zunehmend schwächelt. In Jahresrhythmen
betrachtet stieg er im 4. Quartal 2010 um 3,6
%, im 1. Quartal 2011 lediglich um 2,1 % und
um bedeutungslose 0,1 % im 2. Quartal. Man wird
einwenden, der Konsum in den USA leide nicht
erst seit kurzem unter all diesen Belastungen
und er habe sich immer wieder erholt. Das trifft
zu, allerdings dank der Losung „immer
weniger sparen, immer mehr Schulden“.
Damit wurde die globale Nachfrage gestützt,
als sie sich abschwächte, und dies, ohne
dass die Löhne erhöht werden mussten,
weil der Rückgang der Sparquote den Konsum
erhöhte, ohne dass das Einkommen anstieg,
der Anstieg der Schuldenquote stützte die
Konsum- oder Investitionsausgaben (Immobilien),
obwohl die Einkünfte stagnierten. Ein Modell,
das auf Wunder hofft, aber explosiv ist, da
der Rückgang der Sparquote und der Anstieg
der Verschuldung einmal ein Ende haben. Die
Krise von 2008/09 ist die Krise dieses Modells
und es ist kein Weg in Sicht, wie die gleichen
Resultate ohne dieses Modell erzielt werden
können.
Die
Sparquote der Privathaushalte steigt nun wieder
an und man stellt beeindruckt fest, dass den
beiden Rezessionsjahren (2008/09) ein Anstieg
dieser Quote vorausging (von 2,4 % im Jahr 2007
auf 5,4 % im Jahr 2008). Dies zeigt die ganze
Bedeutung dieser Anpassungen, das Ausmaß
des Rückgangs dieser Quote über mehrere
Jahre (2005 lag sie bei 1,5 %) hat den Konsum
belebt und folglich auch das Wachstum. Es zeigt
aber auch die Bedeutung ihres Anstiegs (siehe
dazu Grafik 1). Ein solcher Aufschwung –
den es in einer Krise unbedingt braucht –
ist aufgrund des Wiedererstarkens des Sparens
aus Vorsicht möglich geworden, aber auch
durch das Platzen der Immobilienblase und den
sich daraus ergebenden Preisverfall bei den
Immobilien: Dieser Wertverlust beim Eigentum
führt zu einem Konsumrückgang und
zu einem entsprechendem Anstieg der Sparquote.
(Grafik 1)
Grafik
1: USA:
Sparquote der Privathaushalte (%)
|
Unter
den Schritten der amerikanischen Wirtschaft
öffnet sich ein Abgrund, weil sich die
öffentliche Unter-stützung zurückzu-ziehen
begann, ohne dass der Privatsektor in die Bresche
gesprun-gen ist. Dies deshalb, weil das alte
Modell („immer weniger sparen, immer mehr
Schulden“) nicht mehr funktioniert und
durch kein anderes ersetzt wurde. Es ist nicht
mehr möglich, was lange Jahre der Fall
gewesen ist, den Konsum mit einer tieferen Sparquote
anzukurbeln anstatt mit einem Anstieg der Einkommen.
Es ist auch nicht mehr möglich, was ebenfalls
viele Jahre möglich war, den Immobiliensektor
mit bedenkenloser Verschuldung anzukurbeln.
Es kam zur Krise und sie spielt ihre Rolle,
indem sie die Gleichgewichte wieder herstellt,
die Sparquote der Privathaushalte erhöht,
die beinahe bei null war und die Verschuldung
eindämmt, die unerträglich geworden
war (siehe Grafik 2). 2008 hatte die Verschuldung
der amerikanischen Privathaushalte ihren Höhepunkt
erreicht und belief sich auf 13 844 Mrd. Dollar.
Dann sank sie 2009 auf 13 611 Mrd., 2010 auf
13 386, im 1. Quartal 2011 auf 13 318 Milliarden.
Die Sackgasse ist dergestalt, dass man sich
fragen kann, ob die amerikanische Wirtschaft
ohne Spekulationsblase, ohne (Börsen-)
Blase der New Economy oder ohne Immobilienblase
je wieder zu Wachstum zurückfinden kann
(Grafik 2).
Grafik
2: USA: Verschuldungsquote der Privathaushalte
|
Auf
beiden Seiten des Atlantiks hat die Stunde der
Wahrheit geschlagen, weil die Krise in unterschiedlicher
Form andauert, die diversen Hilfsmittel zum
Herausschieben der Verfallsdaten hingegen langsam
erschöpft sind. In Europa nimmt die Krise
vor allem die Form der öffentlichen Überschuldung
an, in den USA wird vor allem das Wachstum abgewürgt.
Doch die Entscheidung von Standard and Poor’s,
die USA herabzustufen, sagt genug über
den universellen Charakter einer weltweiten
Krise.
Der
letzte Schutzwall, die USA, gibt langsam nach.
Die „Märkte“ beißen jene,
die sie gefüttert haben und fordern, mit
öffentlichen Geldern gerettet zu werden,
zögern dann aber nicht, diese gleichen
Staaten anzugreifen, die ihnen geholfen haben.
Unter dem Druck der „Märkte“
vertieft die „Sparpolitik“ die Krise
weiter. Deren Auswirkungen verschlimmern sich
dadurch, dass die „Sparpolitik“
inzwischen überall angewendet wird. Mit
dieser „Sparpolitik“ soll die Verschuldung
gesenkt werden, sie verschlimmert sie aber weiter,
weil die Steuereinnahmen gesenkt werden. Gefangen
in diesem Teufelskreis hat die kapitalistische
Welt immer mehr Mühe, einen Ausweg zu finden,
da das öffentliche Pulver verschossen ist,
sei dies nun mit Hilfe des Budgets oder mit
Hilfe von Währungsmanipulationen, während
die Nationalbanken die Zinsen weiterhin hoch
halten, allerdings ergebnislos. Hinter den entwaffneten
Staaten zeigen sich nun klar die unerbittlichen
Gesetze des kapitalistischen Systems, Gesetze,
die vom unstillbaren Durst nach Profit diktiert
wurden, ein System, das zusammenzubrechen droht
und das die ganze Menschheit mit sich in den
Abgrund ziehen könnte.
WAS TUN?
Hier
kann nicht ein ganzes Programm mit allen notwendigen
Maßnahmen vorgestellt werden. Einige ergeben
sich direkt aus der aktuellen Lage, andere wären
die logische Folge davon, andere wiederum greifen
das kapitalistische System in seinen Grundfesten
an. Ein solches Programm wäre zwar nützlich,
doch oberste Priorität hat das Löschen
der Feuersbrunst der Verschuldung. Dann müssen
die Finanzinstitute in den Griff genommen werden,
sie müssen daran gehindert werden, weiterhin
Schaden anzurichten. Schließlich müssen
die Grundlagen für einen Neustart so gelegt
werden, dass Arbeitsplätze gesichert sind.
Es
ist absolut dringend, das Problem der öffentlichen
Schulden anzupacken.
Drei
Punkte sind wichtig:
Es muss unabhängig von einem Land ein Moratorium
auf alle bestehenden Schulden erlassen werden.
Die Schulden müssen einem Audit unterworfen
werden, um je nach den Umständen beurteilt
zu werden und um festzulegen, welche Schulden
zurückbezahlt werden und welche nicht.
Es ist klar, dass ein wesentlicher Teil der
Schulden nicht anerkannt wird. Der Rest wird
in Tranchen aufgeteilt, reduziert, eine Obergrenze
festgelegt usw.
Die Statuten der Europäischen Zentralbank
müssen so rasch wie möglich revidiert
werden, um das öffentliche Defizit finanziell
zu decken (die EZB kauft Titel der öffentlichen
Schuld bei deren Herausgabe). Die EZB kauft
bereits solche Papiere, doch es geht vor allem
um den „Second-Hand-Markt“, auf
dem die von den Banken gekauften Wertpapiere
weiterverkauft werden. Damit können die
Banken beim Kauf eine Risikoprämie verlangen
und erhalten gleichzeitig die Garantie, die
Wertpapiere weiterverkaufen zu dürfen.
Durch die finanzielle Deckung des Defizits könnte
sich die Finanzwelt nicht mehr erpresserisch
verhalten.
Beim öffentlichen Defizit muss die Situation
neu aufgegleist werden, insbesondere wenn auf
die vom Markt zur Verfügung gestellten
Fonds verzichtet werden soll. Eine umfassende
Steuerreform ist notwendig, um die den Unternehmern
gewährten Vorteile abzuschaffen und um
die hohen Einkommen, die Profite der Gesellschaften
und den Besitz der Reichen hoch zu besteuern.
Die
Krise hat klar gezeigt: Die Finanzwelt muss
an die Kandare genommen werden. Neben dem Verbot
der Verbriefung von Forderungen und spekulativem
Kapital müssen das Bankgeheimnis aufgehoben,
Steuerparadiese stillgelegt und ein großer
öffentlicher Bankenpool geschaffen werden.
Letzteres soll mit Hilfe der Verstaatlichung
einer ganzen Reihe von Großbanken geschehen.
Der Bankapparat muss strenger Kontrolle unterstehen.
Es bedarf einer klaren Trennung zwischen Investmentbanken
und Geschäftsbanken. Die Finanztransaktionen
müssen besteuert und die Kapitalflüsse
kontrolliert werden. Leerverkäufe müssen
verboten werden, die die Spekulation mit Papieren
möglich machen. Die Börsen müssen
eine untergeordnete Stellung erhalten, was wir
mit der Einführung einer stärkeren
Besteuerung der Mehrwerte, mit der Einführung
einer Frist zwischen Kauf und Wiederverkauf
von Aktien oder einfach damit erreichen können,
dass emittierte Papiere nicht zediert (abgetreten)
werden können. Schließlich müssen
die Zentralbanken und sämtliche Finanzinstitute
der strikten Kontrolle der öffentlichen
Hand unterstellt werden.
Wenn
man nicht will, dass die gleichen Ursachen immer
die gleiche Wirkung haben, muss mit dem Modell
der liberalen Globalisierung gebrochen werden.
Dafür sind Dinge notwendig, die hier nicht
entwickelt werden können, sei es bezüglich
des Rechts auf Unternehmensbesitz, sei es eine
andere Globalisierung (und ein anderes Europa),
sei es der Umfang der gemeinschaftlichen Güter
oder die Umweltkrise. Aber unerlässlich,
der Grundstock, auf dem aufgebaut werden kann,
ist ein neues Lohnverhältnis. Eine neue
Aufteilung des hinzugefügten Wertes ist
notwendig, die sich radikal von der heutigen
unterscheidet, um so die Grundlagen zu schaffen
für eine andere Entwicklung. Zudem muss
der Arbeitsmarkt stabilisiert werden, in dem
die unbefristeten Arbeitsverträge wieder
der Normalfall werden, in dem die verschiedenen
Formen prekärer Arbeit beschränkt
werden, ebenso die Entlassungen. Die sozialen
Errungenschaften müssen garantiert sein,
die „Sparpolitik“ beendet und wieder
öffentliche Dienste aufgebaut werden, die
diesen Namen auch verdienen.
Das
sind die dringendsten Dinge. Dies zu erreichen
wäre schon toll, sich damit zu begnügen
wäre unlogisch. Wird nicht gesehen, dass
hinter dem einen oder anderen „Auswuchs“
der Finanzwelt der Geist eines Systems steht,
des Kapitalismus? Wird nicht gesehen, dass hinter
der liberalen Globalisierung immer noch und
erneut die Ansprüche eines Systems stehen,
des Kapitalismus? Die gegenwärtige Krise
hat auf der Welt bereits unsägliches Leid
verursacht. Deren neue Entwicklungen sind von
daher extrem bedrohlich. Es ist Zeit, einen
Schlussstrich zu ziehen, es ist Zeit, nach neuen
Ufern aufzubrechen.
[1]
Le piège de la dette publique. Comment
s’en sortir, Jacques Cossart, Evelyne
Dourille-Feer (coord.), Attac, Ed. Les liens
qui libèrent, Mai 2011, S. 70
[2]
Bericht der Europäischen Kommission in
französischer Sprache. Rapport sur les
aides d’État accordées par
les États membres de l’UE, mise
à jour de l’automne 2010, S. 11.
Siehe http://gesd.free.fr/aides10.pdf
[3]
La dette ou la vie, Damien Millet et Eric Toussaint,
coord., edit. Aden, Mai 2011, S. 213.
[4]
Martine Orange, Mediapart, 4. Dezember 2010.
Siehe http://gesd.free.fr/aide1100.pdf
[5]
Agence France Presse (AFP), 5. Mai 2011
[6]
idem, 2. August 2011
[7]
idem, 27. Juli 2011
[8]
Martine Orange, Mediapart, 26. Juli 2011
[9]
AFP, 9. Mai 2011
[10]
Reuters, 28. Juli 2011
[11]
Martine Orange, Mediapart, 26. Juli 2011
[12]
AFP, 4. August 2011
[13]
AFP, 4. August 2011. Die hier erwähnte
Verschuldung kommt zu jener des ganzen amerikanischen
Staates sowie der Mitgliedstaaten hinzu, ebenso
die Verschuldung der lokalen Verwaltungen, im
Gegensatz zu Tabelle 2, wo nur die Schulden
der zentralen Verwaltungen aufgeführt sind.
[14]
AFP, 25. Juli 2011
[15]
AFP, 4. August 2011
[16]
La grande crise du XXIe siècle –
Une analyse marxiste, La Découverte,
Paris 2009, S. 118–119
17.
August 2011
Isaac
Johsua ist Lehrbeauftragter für Wirtschaftswissenschaften
an der Université Paris XI, Mitglied
der Stiftung Copernic und des Wissenschaftsrates
von Attac. Autor u. a. von „Le grand tournant
– Une interrogation sur l’avenir
du capital“, PUF, Actuel Marx, Paris 2003,
„Une trajectoire du Capital. De la crise
de 1929 à celle de la nouvelle économie“,
Syllepse, Paris 2006, „La Grande Crise
du XXIe siècle – Une analyse marxiste“,
La Découverte, Paris 2009.
Übersetzung: Ursi Urech
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