Und die Staaten begaben sich ans Krankenbett
des Kapitalismus, um ihren Patienten, von
dem sie selbst leben, zu retten und wenn möglich
zu kurieren. Er soll wieder normal funktionieren,
er soll die Profite durch „Schaffung“
profitabler, d. h. niedrig bezahlter Arbeitsplätze
vermehren. Er soll auf diese Weise zu höheren
Steuereinnahmen des Staates beitragen.
Schnelles Handeln wurde erforderlich, als
der Patient eine heftige Fieberattacke erlitt.
Die Aktienkurse brachen in der zweiten Oktoberwoche
so heftig ein, dass Statistiker den größten
Wochenverlust in der Geschichte des Kapitalismus
feststellten.
Als die europäischen Staatschefs am
13. Oktober ihre Rettungspläne vorstellten,
sagte Merkel: „Der Staat ist der Hüter
der Ordnung“. Und kaum jemand zweifelte
daran, dass ohne die europaweiten Rettungsaktionen
der gesamte Kapitalismus in einen Abwärtsstrudel
geraten wäre. Die Europäer bringen
mehr als 1000 Milliarden Euro zur Rettung
des Kapitalismus auf (darunter das deutsche
500-Milliarden-Rettungspaket), nachdem zahllose
Einzelaktionen verpufft waren; die USA verabschiedeten
zuvor ein Notprogramm von 700 Milliarden US-$.
Zur Beruhigung der Finanzmärkte senkten
die bedeutendsten Notenbanken in einer koordinierten
Aktion die Leitzinsen.
Die Staaten hatten den Zusammenbruch gerade
noch abwenden können. Folgende Fragen
werden behandelt: Was sind die Ursachen der
großen Krise von 2008? Wie ist das staatliche
Krisenmanagement zu beurteilen? Auf welche
Grenzen stoßen solche Staatseingriffe?
Mit welchen politischen Konsequenzen ist zu
rechnen?
1. Warum die Finanzmarktkrise die Krise des
Kapitalismus ist
Bis hinein in die gewerkschaftliche Diskussion
wird die Krise als Resultat unregulierter
Finanzmärkte, als bloße Finanz-
und Bankenkrise gedeutet, die eine an sich
gesunde Wirtschaft gefährdet. Dies ist
eine sehr oberflächliche und die Verhältnisse
stark beschönigende Betrachtung, die
der kapitalistischen Wirklichkeit nicht gerecht
wird.
Über den Versuch der Ökonomen,
die Krisenursache jenseits des Kapitalismus
anzusiedeln
Besonders weit treiben das der Neoliberalismus
und die Neoklassik, die ein Marktmodell entwerfen,
worin marktendogene Krisenprozesse ausgeschlossen
sind. Krisen werden zu exogenen Ereignissen
umgedeutet, die angeblich nichts aber auch
gar nichts mit dem Marktsystem zu tun haben.
Äußere Umstände sollen es
sein, etwa die Lohnpolitik der Gewerkschaften,
die Finanzpolitik des Staates oder externe
Schocks (Ölpreisschocks etc.), die das
harmonisch wirkende Marktsystem stören
würden. Wie widersinnig und wirklichkeitsfern
dieser Marktutopismus ist, zeigt die jetzige
Finanzkrise auf besondere Weise: Eigentlich
sollen die Börsen den perfekten, vollkommenen
Markt repräsentieren. Entgegen der Lehre
sind es aber gerade die Börsen, die nun
zusammenbrechen und der Staatshilfe bedürfen.
In der keynesianischen Theorie, die bei Gewerkschaftlern
große Beliebtheit besitzt, wird der
Marksektor zwar etwas kritischer eingeschätzt.
Es wird eingeräumt, dass der Marktprozess
zu Instabilitäten neigt, so dass Arbeitslosigkeit
entsteht. Aber dennoch wird an der These von
der Stabilität der bürgerlichen
Ordnung festgehalten, da der Staat angeblich
alles managen kann, ohne irgendwelche Beschränkungen
zu besitzen. Diese Vorstellung prägt
die gegenwärtige Diskussion, die in den
beschlossenen Rettungsplänen ihren praktischen
Ausdruck findet.
Die Theorie vom „finanzmarktgetriebenen
Kapitalismus“ glaubt die bürgerliche
Ordnung dadurch stabilisieren zu können,
indem die Finanzmärkte stärker reguliert
werden. Man wünscht sich einen normal
funktionierenden Kapitalismus, wo die Finanzmärkte
und Banken keine Herrscher sondern bloße
Mittler sind für das reibungslose Funktionieren
der Wirtschaft.
Krisenzyklus, Kredit- und Zinszyklus
Erst in der marxistischen Krisentheorie wird
die Krise umfassend erklärt als „die
reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung
aller Widersprüche der bürgerlichen
Ökonomie.“ Die Finanzkrisen sind
auffälligster Teil eines aus dem Kapitalismus
heraus entstehenden Krisenprozesses.
Kapitalistische Entwicklung verläuft
in Form von Akkumulationszyklen. Solche Krisenzyklen
bestehen aus mehreren Phasen, aus der eigentlichen
Krise, worin sich die Widersprüche der
gesamten kapitalistischen Ökonomie zuspitzen
und das Vertrauen in die Kreditwürdigkeit
schwindet, aus dem allgemeinen Rückgang
der Geschäftstätigkeit, der häufig
zu einer Pleitewelle in der Wirtschaft und
zu erheblichen Belastungen des Bankensystems
führt und schließlich aus der Phase
der Ruhe oder Stagnation, gewissermaßen
die melancholische Phase des Kapitals, in
der sich die Angst legt, aber die Unsicherheit
über den Fortbestand der kapitalistischen
Ordnung fortschwingt. Es folgen die wieder
aufwärts gerichteten Konjunkturphasen,
zunächst die Erholung, dann die Prosperität,
die schließlich in die Phasen von Überproduktion
und Krise übergeht. Nimmt man diese Phasenfolge
ernst, dann stehen wir ziemlich am Beginn
eines allgemeinen Rückgangs der Geschäftstätigkeit.
Es ist dieser Akkumulationszyklus, der einen
Kredit- und Zinszyklus und damit auch die
Finanzkrise hervorbringt und es ist keineswegs
umgekehrt.
Während der aufwärts gerichteten
Konjunkturphasen existiert wegen der sich
allmählich beschleunigenden Akkumulation
großer Kreditbedarf, der aber meist
reibungslos gedeckt werden kann, da großes
Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der
Geschäftsleute besteht. Der Kredit expandiert,
sowohl der Kredit, den sich Käufer und
Verkäufer von Waren untereinander geben
(zum Teil dargestellt als Wechsel), als auch
der Kredit, den sich die Geschäftsleute
bei den Banken bzw. die Banken untereinander
holen. Bei relativ niedrigen Zinsen wächst
auch der Kredit von Privatleuten, die gerade
während dieser Zeit von Banken mit Kreditangeboten
bombardiert werden. Dies gilt sowohl für
Konsumentenkredite als auch für Immobilienkredite.
Gegen Ende des Aufschwungs lässt die
Dynamik der Nachfrage nach Waren bei stark
steigendem Angebot nach. Stockender Warenabsatz
mit Zahlungsverzögerungen ist die Folge,
so dass das Misstrauen der Geschäftsleute
untereinander sprunghaft zunimmt. Durch das
Misstrauen sinkt die Bereitschaft, Kredite
zu vergeben. Zugleich steigt aber der Kreditbedarf,
um darüber Zahlungsmittel zu bekommen.
Das Kreditsystem schlägt, wie Marx bereits
im 19. Jahrhunderts feststellte, plötzlich
ins Monetarsystem um. Bare Zahlung wird überall
verlangt.
2.
Warum die Krise diesmal besonders heftig ausfällt?
Die
Krise äußert sich derzeit vor allem
als Finanzkrise, genauer gesagt als Krise
der Finanzinstitute, insbesondere der Banken,
die wegen fauler Kredite teilweise zahlungsunfähig
sind. Um der Pleite zu entgehen, verkaufen
sie auf den Kapitalmärkten u. a. Wertpapiere,
um so an Liquidität zu kommen –
daher auch der starke Kursverfall an den Aktienmärkten.
Die Verflechtung zwischen den Banken ist derart
eng, dass die Pleite einer Großbank
zu einer Kernschmelze im gesamten Finanzsystem
führen würde. Der Versuch, das „systemische
Risiko“ zu begrenzen, steht im Vordergrund
der staatlichen Rettungspakete.
Was
sind die Ursachen für die besondere Heftigkeit
der gegenwärtigen Krise? Erstens sind
es die sich zuspitzenden Widersprüche
des kapitalistischen Akkumulationsprozesses
selbst, die zur Krise geführt haben und
im Krisenprozess einen gewissen, vorübergehenden
Ausgleich finden werden. Um die besondere
Heftigkeit der Krise zu erklären, genügt
es aber nicht, die normalen Widersprüche
des Krisenzyklus anzuführen. Hinzu kommen
die Widersprüche, die sich über
mehrere Zyklen hinweg angesammelt haben.
Umschlag
des Akkumulationstyps
Heute
blicken wir auf eine Phase beschleunigter
Akkumulation und auf einen stürmisch
gewachsenen Welthandel zurück. Gründe
dafür waren hohe Akkumulations- und Wachstumsraten
in China, Indien und in anderen Regionen der
Welt (zeitweise Mittelosteuropa, Russland,
die Golfstaaten, Brasilien), sowie die durch
die Entwicklung neuer Produktivkräfte
entstandenen Akkumulationsschübe in den
neuen bzw. technologisch stark veränderten
Wirtschaftszweigen wie der Computer-, Informations-
und Kommunikationstechnologie, der Energieerzeugung
(solare Energie, Windenergie) und der Biotechnologie.
Die gesamte Weltproduktion ist auf eine neue,
viel umfassendere Stufe gehoben. Folge davon
war, dass die Krisenzyklen weniger stark ihre
kritischen Seiten offenbarten. Die konjunkturelle
Prosperität verlief in etlichen Ländern
sehr stürmisch, in den meisten Ländern
akzentuierter als sonst, während der
Rückgang der Produktion gering war oder
sich gar nur in rückläufigen Wachstumsraten
zeigte. Größere Weltmarktkrisen
hat es seit Mitte der 80er Jahre nicht gegeben.
Diese
Phase scheint auszulaufen, so dass die kritischen
Phasen des Konjunkturzyklus stärker in
den Vordergrund treten. Denn die im Zuge des
Aufbaus neuer Industrien und ganzer Industriezweige
geschaffenen neuen Kapazitäten werden
mehr und mehr genutzt und vergrößern
das Angebot. Auf der anderen Seite sind die
Großprojekte weitgehend abgeschlossen,
der Nachfragesog lässt also nach. Nun
stellt sich heraus, dass im Vergleich zur
Nachfrage zuviel akkumuliert worden ist. Das
Angebot ist tendenziell größer
als die Nachfrage, mit der Folge, dass die
Sturm- und Drangperioden des Kapitals in eine
länger anhaltende Periode verlangsamter
und instabiler Akkumulation übergehen.
Der Ausgleich von Produktion und Markt wird
diesmal heftiger als sonst ausfallen, so dass
mit einem stärkeren Wirtschaftseinbruch
zu rechnen ist.
Stärkere
Kreditexpansion
Zweitens
haben die für das Kapital verhältnismäßig
guten Konjunkturjahre über mehrere Krisenzyklen
hinweg zu einer allgemeinen Aufblähung
des gesamten Kreditsystems geführt. An
der Oberfläche zeigt sich die Kreditexpansion
in Vermögensblasen, etwa in einer Aufblähung
des Aktien- und Immobilienvermögens,
in einem stark gewachsenen Anleihemarkt und
in einer ungeheuren Masse von Finanzderivaten
(etwa das sechsfache des Weltsozialprodukts),
die der US-Geldkapitalist Warren Buffet vor
Jahren schon furchtsam als „finanzielle
Massenvernichtungswaffen“ bezeichnete,
die eine „Megakatastrophe“ auslösen
könnten. Schrumpft nun die Wirtschaft,
dann ist die Bedienung von Schulden in Frage
gestellt, so dass die aufgetürmte Kreditpyramide
ins Wanken gerät.
Ungleichgewichte
auf dem Weltmarkt
Drittens
besitzt die sprunghaft gestiegene Verschuldung
eine sehr problematische internationale Dimension.
Die USA sind im Ausland hoch verschuldet.
Das anhaltend hohe US-Leistungsbilanzdefizit
verschärft die Lage von Jahr zu Jahr.
Hinzu kommt nun noch die stark wachsende Staatsverschuldung.
Trotz beider Schieflagen ist der US-$ Weltreservewährung.
Sobald die US-Wirtschaft stärker einbricht,
geraten beide Kreditberge ins Wanken mit der
Konsequenz, dass ausländische Anleger
ihre Dollar-Bestände verkaufen. Ein Sturz
des Dollars mit schwerwiegenden Turbulenzen
für die Weltwirtschaft zeichnet sich
ab. Dies wäre zugleich eine gewaltsame
Bereinigung von Disproportionen auf dem Weltmarkt.
Die
zurückliegende, scheinbar recht stabile
Phase der Akkumulation ließ aber nicht
nur solche Disproportionen entstehen, sie
führte auch nicht nur zu einer allgemeinen
Expansion des Kredits, sondern sie schuf auch
neue Instrumente, um das gewachsene Bedürfnis
nach Krediten rasch zu befriedigen.
Neue
Kreditinstrumente
Der
vierte Grund, der für die besondere Heftigkeit
der Finanzkrise angeführt werden soll,
betrifft solche innovativen Kreditinstrumente.
Dazu gehören die Verbriefung von Forderungen
(Kredite werden zu Paketen zusammengeschnürt
und können dann in alle Welt verkauft
werden) und der Handel mit Kreditderivaten.
Solche Derivate dienen beispielsweise dazu,
Kreditausfallrisiken durch CDS-Vereinbarungen
(Credit Default Swaps) zu verkaufen. Durch
die Möglichkeit des Verkaufs verbriefter
Kredite bzw. von Kreditrisiken kann die Bank
nun mehr Kredite vergeben, bis die Höhe
ihres Eigenkapitals Schranken setzt. Solche
Fortentwicklungen im Kreditwesen sind aber
nicht nur ein wichtiger Hebel für eine
beschleunigte Akkumulation, also auch ein
Hebel zur Beförderung der dieser Akkumulation
innewohnenden Widersprüche, sondern sie
bilden zugleich ein wichtiges Element, wodurch
das gesamte internationale Finanzsystem eine
besondere Störanfälligkeit erhält.
Denn es bedeutet, dass die Risiken weiter
gestreut, die wechselseitigen Verpflichtungen
undurchsichtiger sind, so dass schnell das
globale Finanzsystem ins Chaos geraten kann.
Das
Beispiel dafür lieferte die im vorigen
Jahr einsetzende Finanzkrise: Eine sektoral
und regional begrenzte Subprime-Hypothekenausfallkrise
bei Eigenheimkrediten reichte aus, um selbst
renommierte Bankhäuser in Europa ins
Wanken zu bringen.
Immobilienkrise
Damit
ist ein fünfter Punkt angesprochen, die
Immobilienkrise, die sich nicht nur in den
USA, sondern auch in Großbritannien,
Spanien, Irland, Frankreich aber auch in Teilen
Asiens zuspitzt. Ohne die neuen Finanzinstrumente
wäre eine derart rasche Expansion der
Kreditvergabe unmöglich. Aber ohne die
Sturm- und Drangperioden des Kapitals hätte
es nicht diesen Bauboom gegeben, der das Kreditbedürfnis
erst hervorrief. Niedrige Zinsen begünstigten
eine steigende Nachfrage nach Immobilien;
steigende Immobilienpreise ließen weitere
Immobilienkäufe als attraktiv erscheinen.
Mit dem Anstieg der Immobilienpreise wuchs
die Möglichkeit für weitere Kredite,
indem die teueren Immobilien zusätzliche
Sicherheiten etwa für Konsumentenkredite
boten. Die Spirale drehte sich immer weiter,
bis eine nachlassende Bauwirtschaft die Gegenbewegung
einleitete. Es waren die Zahlungsausfälle
am US-amerikanischen Markt für Hypothekarkredite
mit geringer Bonität (Subprime), die
dann Mitte 2007 zur Bankenkrise beitrugen.
Umschlag
des Kreditsystems ins Monetarsystem
Der
sechste Punkt betrifft den Umschlag des Kreditsystems
ins Monetarsystem. Eine solche Geldkrise bildet
eine besondere Phase der Produktions- und
Handelskrise. Diesmal ging sie aus der Immobilienkrise
hervor. Was sie so schwerwiegend macht, ist
der Umstand, dass sie mitten im Herzen des
Finanzsystems stattfindet, nämlich genau
dort, wo Banken untereinander Geld borgen.
Seit Mitte vorigen Jahres trauen die Banken
einander nicht mehr und meiden es, sich Kredite
zu geben. Nach dem Bankrott der US-amerikanischen
Investmentbank Lehman Brothers brach der Interbanken-Handel
völlig zusammen. Eine kurzfristige Refinanzierung
der Banken über den Geldmarkt war nun
nicht mehr möglich – eine der Ursachen
für den Zusammenbruch der Hypo Real Estate.
Selbst nach den jüngsten Rettungspaketen
sind die Banken immer noch misstrauisch und
parken ihr Geld lieber zu ungünstigeren
Zinsen bei der EZB, als es untereinander zu
leihen. So lag nach Angaben der EZB das Volumen
in der so genannten Einlage-Fazilität
am 14. Oktober beim Rekordstand von 182,8
Milliarden Euro. In normalen Zeiten wird diese
Möglichkeit wegen der ungünstigen
Zinsen kaum genutzt.
3. Können Regierungen den Kapitalismus
retten? Zu den Grenzen staatlichen Handelns
Die
Regierungen haben es noch einmal geschafft,
die Kernschmelze im Finanzsystem zu stoppen.
Wird ihr Erfolg von Dauer sein oder ist es
nur ein Pyrrhussieg, eine viel zu teuer erkaufte
Rettungsaktion, die mehr einer Niederlage
als einem Sieg ähnelt? Wo liegen die
Grenzen staatlichen Handelns?
Privateigentum
Die
erste Grenze ist durch das kapitalistische
Privateigentum selbst gegeben, das der Staat
unbedingt respektieren muss, will er sich
selbst nicht prinzipiell in Frage stellen.
Er darf nur mit „marktkonformen Mitteln“
agieren. Selbst wenn seine Akteure spürten,
dass ein anderes soziales System im Schoße
des Kapitalismus heranreift und sich darauf
vorbereitet, als System der assoziierten Produzenten
an seine Stelle zu treten, könnten sie
als Funktionäre des Staates nichts anderes
tun, als die Geburt des Neuen zu verhindern.
Dies macht den bürgerlichen Charakter
des Staates aus und führt zu der Schwierigkeit,
angemessen auf die gegenwärtige Krise
zu reagieren. Deshalb steckt der Staat in
dem Dilemma, die Finanz- und Wirtschaftskrise
nur durch solche Maßnahmen bekämpfen
zu können, die den Keim einer weiteren
Krise bereits in sich tragen. Über Systemalternativen
wird nicht nachgedacht.
Daran
hängt die zweite Grenze staatlichen Handelns.
Der Staat finanziert sich über Steuern
und Kredite. Beide Finanzierungsquellen liegen
aber jenseits seines Gestaltungsspielraums,
nämlich dort, wo sich die eigengesetzliche
Reproduktion des kapitalistischen Prozesses
vollzieht. Aber dieser Reproduktionsprozess
verläuft in Form von Krisenzyklen, verbunden
mit dem Problem, dass Stockungen in der Akkumulation
auch den Staat durch ein schrumpfendes Steueraufkommen
und durch Mehrausgaben treffen.
Verschuldungsgrenzen
Solch
eine Konstellation kündigt sich nun an.
Der Handlungsspielraum des Staates ist also
durch eine stockende Wirtschaft eingeschränkt,
obwohl weitere Interventionen erforderlich
wären. Hinzu kommt die stark gestiegene
Staatsverschuldung, vor allem in den USA.
Die hohe Staatsverschuldung verkleinert die
Manövriermasse, über die der Staat
noch verfügt. Die Staaten werden unbeschadet
kaum noch einen weiteren Kraftakt stemmen
können, wie sie es jetzt mit ihren Rettungspaketen
getan haben.
Besonders
dramatisch wird es erst, wenn die schlechte
Konjunktur große Industrie- und Handelsunternehmen
zu Fall bringt. Die Banken werden dann erneut
belastet und müssten auf die Kreditbürgschaften
des Staates zurückgreifen. Die Staatsverschuldung
würde ein weiteres Mal in die Höhe
schießen. Weitere Notprogramme wären
erforderlich, ohne dass der Staat die notwendigen
Reserven dazu besäße. Die Staaten
gerieten dann schnell in eine ausweglose Situation,
in der sie ihr Vertrauen verspielen, egal,
was sie tun.
Würden
sie tatenlos zusehen, wie die Pleitewelle
eine Firma nach der anderen dahinrafft, dann
wären zwar erst einmal keine weiteren
Kredite erforderlich, jedoch würde die
sich ausbreitende Krise die finanzielle Grundlage
der Staaten um so mehr untergraben. Würde
sie stattdessen weitere Notprogramme zur Rettung
von Konzernen auflegen, dann würde die
Staatsverschuldung sofort zunehmen, mit der
gleichen Folge, dass die Finanzmärkte
die Kreditwürdigkeit des Staates in Zweifel
zögen. In beiden Fällen bekäme
der Staat keine neuen Kredite, die er aber
unbedingt braucht, um wie ein Kreditritter
die alten Schulden zu bedienen. Der Staat
wäre pleite! Dann würden Nicolas
Sarkozy oder andere Regierungschefs erneut
aus dem Bett geklingelt mit der Nachricht,
dass der Markt schon bald das Todesurteil
vollstrecken würde, diesmal nicht über
ein Finanzinstitut sondern gegenüber
einem Staat. Bei einem kleinen Staat wie Island,
der bereits Bankrott ist, kann der Zusammenbruch
durch Auslandskredite noch abgewendet werden,
nicht aber bei den großen Staaten. Die
Staaten sind ebenso wie größere
Konzerne auf das Vertrauen angewiesen, das
ihnen die globale Finanzwelt entgegenbringt.
Vertrauen lässt sich nicht erzwingen,
selbst die USA können dies nicht.
4. Können Notenbanken den Kapitalismus
retten?
Wie
weit reicht der Handlungsspielraum der Notenbanken?
Auf den ersten Blick haben sie keine Schwierigkeiten,
Kredite in eigener Währung zu vergeben.
Denn sie besitzen diese Papiermaschine, die
wie durch Zauberschlag eine unerschöpfliche
Geldquelle zu sein scheint. Aber das Notenausgabemonopol
funktioniert nur, weil das Vertrauen da ist,
die Notenbanken würden durch eine umsichtige
Geldpolitik den Wert des Geldes einigermaßen
stabil halten. Ein solches Vertrauen ist ungeheuer
wichtig, denn es existiert kein wirklicher
Wert, der hinter dem Geld steht. Die Goldeinlösungspflicht
ist abgeschafft.
In
der bisherigen Krise haben die Notenbanken
ihr Vertrauen bereits aufs Spiel gesetzt.
Erstens haben sie sich an den bisherigen Rettungsaktionen
massiv beteiligt. Beispielsweise gewährten
die Fed einen 30-Mrd.-Dollar-Kredit zur Rettung
der US-Investmentbank Bear Stearns und einen
85-Mrd.-Dollar-Kredit zur Rettung des taumelnden
Finanzriesen AIG. Die Bank of England half
bei Northern Rock und bei anderen Instituten.
Zweitens
erweiterten etliche Notenbanken den Kreis
der Finanzinstitute, der sich bei ihnen verschulden
kann.
Sie
haben drittens die Bonitätsstandards
der Wertpapiere vermindert, die für solche
Kredite hinterlegt werden müssen. Etliche
Notenbanken, darunter die Fed, akzeptieren
inzwischen auch verbriefte Forderungen mit
fraglicher Kreditwürdigkeit, welche kaum
noch ihren Abnehmer finden. Aber die Notenbanken
nehmen sie ab und liefern dafür das allgemeine
Tausch- und Zahlungsmittel. Dazu ein wichtiges
Detail am Rande:
Mitte
Oktober 2008 beschloss die EZB, die Liste
notenbankfähiger Sicherheiten zu erweitern.
Zu den Sicherheiten, die die EZB im Rahmen
ihrer Offenmarktoperationen akzeptieren will,
gehören nun auch marktfähige Schuldtitel,
die auf US-$, Pfund Sterling und Yen lauten,
aber im Euroraum emittiert sind. Die Bonitätsanforderungen
für Sicherheiten wurden von A- auf BBB-
gesenkt. Das Handelsblatt (16.10.2008) zitiert
einen Geldhändler mit den Worten: „Jetzt
werden die Zentralbanken zum Mülleimer.
Was passiert, wenn die jetzt beschlossenen,
zum Teil doch eher fragwürdigen Sicherheiten
nicht eingelöst werden?“
Dann
passiert, dass die Notenbanken das Vertrauen
verlieren, wie es vor ihnen die Geschäftsbanken
verloren haben! Denn sie tauschen ihren eigenen
Kredit gegen fragwürdige Kreditpapiere.
Wenn zudem die heute noch als sicher geltenden
Staatsanleihen problematisch werden, die gleichfalls
in ihren Depots den Gegenposten für die
emittierten Banknoten bilden, dann muss die
Vertrauenskrise die Banknoten selbst erschüttern.
Das Papiergeld würde nicht mehr als Zirkulations-
und Zahlungsmittel akzeptiert, so dass die
Notenbank die Macht verloren hätte, aus
Papier Geld zu machen.
Zu
welchen Konsequenzen ein solcher Vertrauensverlust
führt, soll am Beispiel der USA skizziert
werden.
5. Das Beispiel USA
Ein
Vertrauensverlust des Staates einschließlich
der Notenbank hätte für die USA
und - wegen der großen Bedeutung der
US-Ökonomie - auch für den Weltmarkt
besondere Konsequenzen. Der US-$ fungiert
traditionsgemäß als Weltreservewährung.
Um diese Weltgeld-Funktion auch noch in Zukunft
zu erfüllen, muss der US-$ stabil sei.
Ansonsten würden die Dollarbesitzer Einbußen
hinnehmen mit der Konsequenz, dass sie sich
ein anderes Wertaufbewahrungsmittel suchen
müssten.
Die
ausländischen Notenbanken, allen voran
die chinesische und die japanische Zentralbank
halten den Dollar in Form zinstragender Wertpapiere,
die der US-Staat selbst emittiert oder zumindest
garantiert hat. Die sprunghaft wachsende Verschuldung
des US-Staates bei einer sich verschärfenden
Wirtschaftskrise lassen solche Wertpapiere
mehr und mehr als problematisch erscheinen.
Hinzu
kommt noch, dass die Fed fragwürdige
Wertpapiere in ihrem Depot hält, auf
deren Grundlage sie den US-$ emittiert hat.
Eine Vertrauenskrise solcher Wertpapiere schlägt
rasch um in eine Krise des US-$. Die Währungsreserven
sind also unsicher, nicht nur weil der Emittent
der Wertpapiere an Vertrauen verliert, sondern
auch deshalb, weil die Währung, auf die
die Wertpapiere ausgestellt sind, unsicher
ist. Welchen Grund sollten Anleger haben,
eine Währung in Reserve zu halten, die
auf faulen Krediten beruht. Und es würde
sich unter Risikogesichtspunkten verbieten,
diese zweifelhaft gewordene Währung noch
dazu in Form zweifelhafter Wertpapiere zu
halten, die der Staat möglicherweise
gar nicht auf Dauer bedienen wird.
Für
den US-$ besteht also die Gefahr, dass die
ausländischen Dollarbesitzer auf den
Vertrauensverlust mit Verkäufen ihrer
auf Dollar lautenden Wertpapiere und mit einem
Umtausch in andere Devisen oder in Gold reagieren.
Dies führte zum weiteren Kursverlust
des Dollars, zu einer Verteuerung des US-Importe
und auf diesem Weg zu steigenden Preisen in
den USA. Das Misstrauen in den USA gegenüber
ihrer eigenen Währung würde durch
solche Inflationsprozesse zusätzlich
gesteigert. Eine Hyperinflation könnte
die Folge sein, verbunden mit weiteren Kursverlusten
des Dollars. Ein sich beschleunigt entwertendes
Geld ist natürlich erst recht untauglich,
als Anlage-Währung, also auch untauglich,
als Weltreservewährung zu dienen.
Hyperinflation
und Dollar-Crash würden nicht nur das
Vertrauen erschüttern bzw. die Importe
verteuern, sondern es würden sich weitere,
noch viel ernstere Schwierigkeiten einstellen.
Ausländische Exporteure würden US-$
als unsicheres Zahlungsmittel ablehnen. Sie
würden andere Waren, „harte“
Devisen oder Gold verlangen. Auf jeden Fall
würden sie die Waren an den amerikanischen
Importeur nicht auf Dollar-Kredit verkaufen.
Die
USA sind im Ausland hoch verschuldet. Da ihre
Leistungsbilanz chronisch defizitär ist,
fließen den USA durch den Waren- und
Dienstleistungsverkehr per saldo keine Devisen
zu. Die Importüberschüsse sind nur
möglich, weil die erforderlichen Devisen
durch ausländische Geldanleger, die an
die Stabilität des Dollars glauben, durch
den Kauf von US-Wertpapieren ins Land fließen.
Das Spiel geht solange gut, wie der Dollar
als Anlagewährung weltweit attraktiv
ist. Das Spiel ist aber aus, sobald der Dollar
diese Attraktivität infolge des eigenen
Wertverlustes verliert, wenn also die für
den Importüberschuss benötigten
Devisen nicht mehr als Kapitalanlage in die
USA strömen. Und noch gefährlicher
würde sich die Situation darstellen,
wenn es statt der nötigen Devisenzuflüsse
zu Devisenabflüssen käme, wenn also
auch noch die Kapitalbilanz negativ würde.
Wegen
fehlender Devisenzuflüsse und aufgrund
von Geldabflüssen („Flucht aus
dem Dollar“) wären die USA gegenüber
dem Ausland praktisch pleite. Die Fed könnte
selbst die für den Außenhandel
nötigen Devisen nicht mehr zur Verfügung
stellen. Sie wäre machtlos, dagegen etwas
zu tun. Ihre Macht ist auf die Ausgabe von
Dollar begrenzt. Sie kann weder Devisen noch
Gold herbeizaubern.
Zu
dieser Grenze ihres Handelns kommt noch eine
zweite hinzu. Sie kann auch die Warenbesitzer
nicht zwingen, den Dollar als Kauf- und Zahlungsmittel
einzusetzen. Das große Mysterium, das
eine Notenbank umgibt, wenn sie Papier bedruckt,
das dann als Geld aufersteht, löst sich
nun in der Geldkrise auf. Es wird dann klar,
dass die Notenbank zwar über eine Papiermaschine,
nicht aber über eine Geldmaschine verfügt.
Um Geld zu schaffen, reicht eine Druckerpresse
nicht aus; es müssen noch andere Umstände
hinzukommen, die aber von der Notenbank weder
produzierbar, noch nennenswert beeinflussbar
sind. Nur wenn die Notenbank das Vertrauen
der Warenbesitzer hat, kann der bedruckte
Papierzettel die Eigenschaft des Geldes erhalten.
Ohne
Devisen müsste der Import der USA zusammen.
Ohne Import würde die Industrie still
stehen. Und ein solches Ausscheiden der USA
aus dem Weltmarkt würde zugleich zu einem
Stillstand des Welthandels führen. Eine
gefährliche Abwärtsspirale der Wirtschaft
wäre die Folge. Der Kapitalismus wäre
am Ende.
6. Kapitalismus am Ende?
Regierung
und Notenbanken können also nicht auf
Dauer den Kapitalismus stabilisieren. Dazu
reicht ihr Handlungspotenzial nicht aus, das
durch die besondere Heftigkeit der Krise zusätzlich
beschnitten wird. Eine Abwärtsspirale
der kapitalistischen Wirtschaft zeichnet sich
ab. Ist der Kapitalismus am Ende, vergleichbar
mit den staatssozialistischen Ländern
vor 20 Jahren?
Dass
der Kapitalismus abgewirtschaftet hat, ist
offensichtlich. Aber es fehlt eine real existierende
Alternative, die einfach übernommen werden
könnte. Das ist der Unterschied zu 1989,
als sich die Menschen beeinflusst vom real
existierenden Propagandaapparat des Westens
einbilden konnten, dass der Kapitalismus ein
Ausweg wäre.
Ein
neuer Anlauf der Befreiung ist erforderlich,
der mit dem ökonomischen Zusammenbruch
des Kapitalismus wichtige Voraussetzungen
hat. Es zeichnet sich nämlich eine dramatische
Zuspitzung der Widerspruche zwischen den Klassen
ab: Die Staaten müssen sich entschulden
und dies werden sie tun ganz auf Kosten der
abhängig Beschäftigten, Arbeitslosen
und Rentner durch Anhebung von Massensteuern,
durch Senkung von Sozialleistungen und durch
Enteignung der Sparer (mögliche Währungsreformen
und Staatsbankrotte). Die Unternehmen werden
Massenentlassungen vornehmen und versuchen,
durch Lohnsenkungen, Verlängerung der
Arbeitszeit und durch weitere Intensivierung
der Arbeit den Rückgang ihrer Profite
durch Erhöhung der Mehrwertrate aufzuhalten.
Ein Kampf um die Mehrwertrate zeichnet sich
ab, ein Kampf Klasse gegen Klasse, ein ökonomischer
und zugleich politischer Kampf, bei dem es
dann um mehr als um bloße Lohnsicherung
geht. Es wäre ein Kampf um die künftige
Gestaltung der Gesellschaft, der dann bald
in einen revolutionären Befreiungsversuch
münden könnte. Nur durch einen derart
bewussten politischen Akt lässt sich
der Kapitalismus abgeschaffen. Passierte das
nicht, dann würde er sich nach einer
Phase der Lähmung allmählich erholen
und sein zerstörerisches Werk fortsetzen.