Die
KVG-Revision, die am 1. Januar 2006 in Kraft
getreten ist, zeigt was uns erwartet. Seither
dürfen die Krankenkassen die Bezahlung
von Leistungen bei den Versicherten einstellen,
gegen die juristisch vorgegangen wird, weil
sie ihr Prämien oder die Kostenbeteiligung
nicht beglichen haben. Dabei greift die Sozialhilfe
erst ein, wenn die Insolvenz festgestellt wurde.
Diese Massnahme führte zu derart schwerwiegenden
Folgen, dass sogar die Presse darüber berichten
musste. Tausende Patienten sind seit Monaten
von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen.
Professor Hans Wolff und sein Kollege Christophe
Marti von der Polyklinik der Genfer Spitäler
haben in einem Artikel in der Revue médicale
suisse von dramatischen Situationen berichtet,
denen sie bei der Arbeit begegnen. Sie haben
eine klare Meinung, welche sozialen Schichten
davon betroffen sind. Bei den Opfern dieses
Systems handelt es sich sehr überwiegend
um Personen aus so genannten bescheidenen Verhältnissen,
die meistens unter chronischen Krankheiten leiden.
Bei dieser KVG-Revision wurden ausserdem die
Prämien für Kinder in Haushalten mit
mittleren oder tiefen Einkommen auf die Hälfte
reduziert. Der entsprechende Betrag wird seit
Januar 2006 durch die öffentliche Hand
im Rahmen der Prämienverbilligungen übernommen.
Das ist aber kein wirklicher Fortschritt. Denn
falls die Initiative für eine Einheitskasse
am 11. März angenommen wird, werden die
Prämien für Kinder schlicht und einfach
gestrichen. Die Initiative verlangt nämlich,
dass die Prämien abhängig vom Einkommen
der Versicherten festgelegt werden.
Bei
einem Nein am 11. März: die bittere Medizin
des Bundes
Aber die laufende KVG-Revision wird uns bald
weitere unangenehme Überraschungen bereiten.
Am 26. Mai 2004 hat der Bundesrat vorgeschlagen,
die Kostenbeteiligung der Versicherten für
Ausgaben oberhalb der Franchi se von 10% auf
20% zu erhöhen. Die Obergrenze der Kostenbeteiligung
soll bei 700 Franken bleiben. Falls diese Massnahme
umgesetzt wird, führt sie zu einer deutlichen
Erhöhung der finanziellen Belastung der
Versicherten im Krankheitsfall. Denn bei einer
Kostenbeteiligung von 20% würde die Obergrenze
schon bei Gesundheitsausgaben von 3800 Franken
in einem Jahr erreicht. Heute müssen dagegen
noch 7600 Franken ausgegeben werden, um diese
Obergrenze zu erreichen. Die Kommission des
Nationalrats hat bereits im September 2004 entschieden,
dieses Projekt aufzuschieben. Wir gehen davon
aus, dass es rasch wieder aus der Schublade
geholt wird, falls die Initiative für eine
Einheitskasse am 11. März abgelehnt wird.
Betreffend die Finanzierung der Alters- und
Pflegeheime sowie der Pflege zu Hause (Spitex)
sieht es ähnlich aus. Der Bundesrat schlägt
vor, dass die Patienten, die solche Pflegedienste
in Anspruch nehmen, einen Teil (etwa 20%) der
Kosten der Grundversorgung übernehmen,
welche zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse
(sich anziehen, sich waschen, sich ernähren)
erbracht wird.
Weil Versicherte aus bescheidenen Verhältnissen
eine solche zusätzliche Belastung schlicht
und einfach nicht ertragen könnten, hat
der Bundesrat vorgeschlagen, zu diesem Zweck
auf die Ergänzungsleistungen der AHV/IV
zurückzugreifen.
Doch im September 2006 hat der Ständerat
entschieden, die Kostenbeteiligung der Versicherten
auf sämtliche Behandlungen auszudehnen.
Dies würde zu einer stärkeren Belastung
der mehrheitlich betagten Patienten führen.
Sie und ihre Kinder müssten zahlen, so
lange sie über entsprechende Mittel verfügen.
Der Nationalrat wird sich mit diesem Vorschlag
in den nächsten Monaten befassen.
„Die
Kosten senken“ und die Profite der Kassen
befreien
Die übrigen Aspekte der KVG-Revision betreffen
die Grundlagen des schweizerischen Gesundheitssystems.
Das offizielle Ziel besteht daraus, die Kosten
zu senken. Die Folgen: die Preisgabe der öffentlichen
Kontrolle des Gesundheitswesens und eine Vormachtstellung
der Krankenkassen, die zu Lasten der Qualität
der Grundversorgung geht. Dies wird zwangsläufig
mehr Nutzer dazu bringen, Zusatzversicherungen
abzuschliessen. Mit diesen Versicherungen fahren
die Kassen ganz legal ihre Gewinne ein. Ausserdem
will der Bundesrat die Versicherten dazu bringen,
einem Gesundheitsnetzwerk beizutreten. Sie müssen
ihre Gesundheit einer begrenzten Zahl von Leistungserb
ringern anvertrauen und kommen dafür in
den Genuss tieferer Prämien. Solche Netzwerke
hatten in der Schweiz bisher wenig Erfolg. Auch
die Massnahmen, die das eidgenössische
Parlament im Dezember 2006 beschlossen hat,
werden nicht viel daran ändern. Aber die
Anhänger der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens
werden sicher bald schon einen neuen Anlauf
nehmen.
Die
Spitäler werden durch die Kassen überwacht
Die Reform der Spitalfinanzierung plant der
Bundesrat in zwei Schritten.
1. Kurzfristig sollen alle
Spitäler, die Leistungen der Grundversicherung
erbringen, gleich behandelt werden. Unabhängig
davon, ob es sich um öffentliche, subventionierte
oder private Einrichtungen handelt.
Die öffentliche Hand soll die Verantwortung
für die Investitionen der öffentlichen
und subventionierten Spitäler abgeben.
Der Staat soll sich darauf beschränken,
die Spitalplanung auf kantonaler Ebene zu erstellen
und die Spitäler zusammen mit den Krankenkassen
je zur Hälfte zu finanzieren.
In der Grundversicherung ist vorgesehen, mit
allen Spitälern Leistungsvereinbarungen
abzuschliessen, bei denen die Finanzierung nicht
mehr auf den tatsächlichen Kosten sondern
auf Kostenpauschalen für verschiedene Behandlungen
beruht.
In Deutschland wurde dieses System bereits vor
einigen Jahren eingeführt. Es verursachte
eine scharfe Konkurrenz unter den Spitälern.
Viele Spitäler sind bereits verschwunden.
Bei den Überlebenden hat sich die Qualität
der Leistungen ebenso verschlechtert wie die
Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals. Niemand
hat die Bürgerinnen und Bürger gefragt,
ob sie zu diesen Bedingungen unters Messer kommen
wollen.
2. Auf der zweiten Stufe will
der Bundesrat die Spitalfinanzierung ganz in
die Hände der Krankenkassen legen. Dieses
Ziel versteckt sich hinter dem barbarischen
Ausdruck der „monistischen Finanzierung“.
Unter einem solchen Regime werden die wirtschaftlichen
Kriterien zwangsläufig bei der Grundversorgung
in den Spitälern immer mehr den Ausschlag
geben. Die Spitalversorgung wird zu einem Teil
des Gesundheitsmarkts.
Die Verabschiedung der Massnahmen für den
ersten Schritt der Finanzierungsreform durch
das eidgenössische Parlament ist in den
Monaten nach der Abstimmung vom 11. März
geplant. Aber der Bundesrat hat bereits angekündigt,
spätestens drei Jahre danach dem Parlament
ein Gesetz vorzulegen, das der „monistischen“
Finanzierung (das heisst der Kontrolle durch
die Krankenkassen) im Bereich der Grundversorgung
in den Spitälern den Weg ebnet.
„Die
Freiheit“ des Fuchses im Hühnerstall
Auch
bei den ambulanten Behandlungen will der Bundesrat
die Leistungserbringer dem Diktat der Krankenkassen
unterstellen. Deshalb soll der bestehende „Vertragszwang“
durch eine neue „Vertragsfreiheit“
ersetzt werden. Konkret geht es dabei um Folgendes.
Heute muss eine Krankenkasse jede Rechnung begleichen,
die durch einen anerkannten Arzt für Leistungen
im Bereich der Grundversicherung ausgestellt
wurde. Unter den Bedingungen der Vertragsfreiheit
müsste die Kasse nur noch Rechnungen von
Ärzten und anderen Leistungserbringern
begleichen, mit denen sie einen Vertrag geschlossen
hat.
Die Versicherten verlieren durch diese „Vertragsfreiheit“
(der Krankenkassen) ihre Freiheit bei der Ärztewahl.
Das erklärte Ziel dieser Neuerung besteht
in der Reduktion der Anzahl der Ärzte und
anderen Leistungserbringern in den Gebieten,
in denen es davon scheinbar zu viele gibt, das
heisst in den Städten und Agglomerationen.
In diesen Gebieten werden nur diejenigen Leistungserbringer
überleben, welche die Bedingungen der Krankenkassen
akzeptieren (siehe die zwei Kasten nebenan).
Diese Massnahme ist für die durch den Bundesrat
beabsichtigte KVG-Revision von zentraler Bedeutung.
Der Ausgang ist offen. Natürlich wurde
die Diskussion im Parlament auf die Zeit nach
der Abstimmung vom 11. März verschoben…
Eine
schwarze Liste der „schlechten Zahler“ |
Am
5. Januar 2007 berichtete die Gratiszeitung
20 Minutes von der „Todesgefahr
im Falle nicht bezahlter Kranken-kassenprämien“.
Dr. Hans Wolff vom Genfer Universitätsspital
erläuterte, was dies im Falle einer
Nierentransplantation bedeutet: Wenn der
Patient die Behandlung während einem
Monat unterbricht, gefährdet er sein
Leben, und der gesamte Eingriff war nutzlos.
Bis im November 2006 waren auf der Polyklinik
260 Personen bei insgesamt 426 Fällen
von einem Unterbruch der Krankenversicherungsdeckung
betroffen. Oft handelt es sich um chronische
Krankheiten, meistens um Menschen aus
benachteiligten sozialen Gruppen. Bei
40% der Fälle kann der Unterbruch
der medizinischen Behandlung schwerwiegende
oder fatale Auswirkungen haben.
Im Tages-Anzeiger vom 7. Februar 2007
war zu lesen, dass in der Schweiz 150'000
Menschen ohne Schutz einer Krankenkasse
dastehen. Allein im Kanton Zürich
sind es 17'000; im Kanton Aargau 10'000.
Keine Kasse, kein Arzt: vor allem chronisch
Kranke sind davon betroffen.
Nun wollen die Direktoren von Helsana
und CSS (die Kasse mit dem so unpassenden
Namen: Christlich-soziale Krankenkasse
der Schweiz) eine zentrale schwarze Liste
der „schlechten Zahler“ erstellen.
Denn das wird die Zahlungsmoral verbessern,
wie ein CSS-Direktor zu behaupten wagte
(SonntagsBlick, 11.2.2007).
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Freiheit
für einen neuen Markt |
Nach
welchen Kriterien wird der Vertragszwang
abgeschafft? Ganz nach dem Geschmack der
Krankenkassen. Ein Patient, der Jahre
lang seine Prämien bezahlte, kann
deshalb daran gehindert werden, zu seinem
bisherigen Arzt zu gehen - sofern er nicht
superreich ist oder zu dem Zweck sein
Erspartes ausgeben will.
Wir fragen uns, wie es juristisch möglich
ist, die Abschaffung des „Vertragszwangs“
zu rechtfertigen und gleichzeitig die
„Versicherungspflicht“ zu
erhalten?
Mit dieser Drohung, die durch Couchepin
unterstützt wird, versuchen die Krankenkassen
die Ärzte in die Knie zu zwingen.
Und gleichzeitig öffnen sie einen
neuen Markt. Zum Beispiel hat die Groupe
Mutuel nach der Streichung gewisser Alternativmedizinen
aus der Grundversicherung den Versicherten
angeboten, diese Leistungen gegen eine
Zusatzprämie weiterhin zu übernehmen.
Wir können sicher sein, dass die
Versicherten in Zukunft gegen eine höhere
Prämie für die Zusatzversicherung
zu einem „schwarzen Schaf“
gehen können, das nach der Abschaffung
des Vertragszwangs von der Ärzteliste
gestrichen wurde. Ein lukrativer Markt.
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