Die Krise hat sich inzwischen weiter zugespitzt,
so dass sich die US-Regierung gezwungen sah,
ein Notpaket in Höhe von 700 Mrd. US-$
zum Ankauf fauler Hypothekenkredite zu schnüren.
Diese geplante Rückkaufaktion besitzt eine
neue Qualität im Krisenmanagement. Über
die bisherigen punktuellen Hilfsaktionen hinaus
sollen jetzt die zweifelhaften Kredite selbst,
über die bereits etliche prominente Finanzinstitute
gestolpert waren, durch den Staat übernommen
werden. Die Staatsverschuldung, die bereits
bei 9,7 Billionen Dollar liegt, wird sich weiter
erhöhen. Schon ohne die Notmaßnahmen
hatte die US-Regierung für 2009 ein Defizit
von 438 Milliarden Dollar eingeplant. Nun wird
die Billionen-Dollar-Grenze überschritten.
In der Phantasie der Finanzwelt verfügen
Regierung und Notenbank über grenzenlose
Macht. Sie scheinen die Fähigkeit zu besitzen,
jede Krise zu bezwingen. Es ist dieser Mythos
von der Beherrschbarkeit der Krise, der dem
Trio - bestehend aus Fed-Chef Ben Bernanke,
dem US-Finanzminister und langjährigen
Chef der Investmentbank Goldman Sachs und Timothy
Geithner, Chef der New Yorker Fed-Filiale und
erprobter Regierungsfachmann für die Aufsicht
über den Finanzsektor - die volkstümliche
Bezeichnung „Komitee zur Rettung der Welt“
eingebracht hat.
Wie weit diese Macht tatsächlich reicht
und wer von den künftigen Staatsaktionen
betroffen sein wird, soll dieser Artikel zeigen.
Bei aller Dramatik der Ereignisse fällt
auf, dass die Finanzöffentlichkeit die
Krise überwiegend als ein vom ökonomischen
Gesamtprozess abgetrenntes Phänomen interpretiert,
als durch „Gier und Größenwahn“
ausgelöste Schockwellen an den Finanzmärkten,
nicht aber als der nur auffälligste Teil
einer Ökonomie, die in sich instabil ist
und deren innere Widersprüche sich in Gestalt
von Krisen zuspitzen. Wenn aber die Krise im
tiefsten Inneren der Wirtschaft ihre Wurzeln
hat, dann lässt sie sich keinesfalls durch
bloße Geld- und Kreditmanipulationen oder
durch eine Ausweitung der Staatsverschuldung
beheben. Die Gesamtkonjunktur selbst muss thematisiert
werden, um das wirkliche Ausmaß der Finanzkrise
zu erfassen und um eine Vorstellung darüber
zu erhalten, welchen Handlungsspielraum Regierung
und Notenbank überhaupt besitzen.
1.
Bankenkrach und Wirtschaftskrise
Die
Brisanz der gegenwärtigen Krise besteht
nicht allein darin, dass die zusammenbrechenden
Finanzinstitute Regierungen und Notenbanken
in Feuerwehren verwandeln, die ausrücken,
um das immer wieder offen ausbrechende Feuer
eines scheinbar geheimnisvoll schwelenden Brands
zu löschen. Die besondere Brisanz kommt
dadurch herein, dass es bereits brennt, noch
bevor die Auswirkungen einer allgemeinen Wirtschaftskrise
das Feuer so richtig entfachen. Denn noch wächst
die Wirtschaft in bedeutenden Regionen der Welt,
und selbst die US-Ökonomie wies für
das erste Halbjahr 2008 moderate Wachstumsraten
auf.
Dem Brand vorausgegangen war eine durch den
allgemeinen Wirtschaftsaufschwung verursachte
rasche Ausweitung des Kredits, die zu dem Bedürfnis
führte, neue Kreditinstrumente einzusetzen,
auf die noch zurückzukommen ist. Als kritischster
Teil erwiesen sich dabei die Immobilienkredite.
Niedrige Zinsen begünstigten eine steigende
Nachfrage nach Immobilien; steigende Immobilienpreise
ließen weitere Immobilienkäufe als
attraktiv erscheinen. Mit dem Anstieg der Immobilienpreise
wuchs die Möglichkeit für weitere
Kredite, indem die teueren Immobilien zusätzliche
Sicherheiten etwa für Konsumentenkredite
boten.
Die Spirale drehte sich immer weiter, bis eine
nachlassende Bauwirtschaft die Gegenbewegung
einleitete. Es waren die Zahlungsausfälle
am US-amerikanischen Markt für Hypothekarkredite
mit geringer Bonität (Subprime), die dann
Mitte 2007 zur Bankenkrise führten. Die
Banken misstrauten einander, liehen sich kein
Geld mehr, so dass der Geldhandel zusammenbrach.
An die Stelle traten die Notenbanken und stellten
den Banken das Geld zur Verfügung, das
sie sich sonst untereinander geliehen hätten.
Das Kreditsystem schlug ins Monetärsystem
um. Diese Situation hat sich inzwischen weiter
verschärft. Trotz der Bereitstellung gigantischer
Geldsumme führten Zahlungsausfälle
zu der Bankenpleite, die mit der Verstaatlichung
der beiden größten Hypothekenbanken
des Landes, dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers
und den sich anschließenden Feuerwehraktionen
von Regierung und Notenbanken einen neuen Höhepunkt
erreichten.
Die Feuerwehren verausgaben sich. Die Banken,
die bislang überlebt haben, verlieren ihre
Reserven, sind bereits erschüttert, noch
bevor die Folgen der allgemeinen Krise in Form
einer Pleitewelle aus der Wirtschaft spürbar
sind. Solche Zahlungsausfälle kommen demnächst
auf die Banken zu! Hier liegt die besondere
Brisanz der gegenwärtigen Situation. Denn
gewöhnlicher Weise folgt die Bankenkrise
einer allgemeinen Wirtschaftskrise, so dass
dann ein durch den vorangegangenen Aufschwung
genährtes Bankensystem schon etliche Belastungen
verkraften kann, bis die Zahlungsausfälle
der Wirtschaft zu ernsthaften Erschütterungen
führen. Nur wenn diese Pleitewelle zu groß
wird, wie das in einer schwereren Wirtschaftskrise
der Fall ist, brechen Banken zusammen. Nun ist
das gegenwärtige Finanzsystem schon vorher
stark erschüttert. Sollte zudem die allgemeine
Wirtschaftskrise mit ihren Zahlungsausfällen
stärker als gewöhnlich ausfallen,
dann könnte daraus eine große Depression
entstehen, eine gewaltige Krise nicht nur der
Finanzmärkte sondern der gesamten Ökonomie
mit all ihren sozialen und politischen Auswirkungen
auf die verschiedenen Klassen der Gesellschaft
sowie auf die Beziehungen der Staaten untereinander.
Wie ist die Gesamtkonjunktur zu beurteilen,
wie stark wird der Abschwung der Wirtschaft
sein, der bevorsteht?
2.
Wechsel im Tempo der Weltmarktentwicklung
Kapitalistische Entwicklung verläuft in
Form von Akkumulationszyklen. Solche Krisenzyklen
bestehen aus mehreren Phasen, aus der eigentlichen
Krise, worin sich die Widersprüche der
gesamten kapitalistischen Ökonomie zuspitzen,
aus dem allgemeinen Rückgang der Geschäftstätigkeit,
der häufig zu einer Pleitewelle in der
Wirtschaft und zu erheblichen Belastungen des
Bankensystems führt und schließlich
aus der Phase der Ruhe oder Stagnation, gewissermaßen
die melancholische Phase des Kapitals, in der
sich die Angst legt, aber die Unsicherheit über
den Fortbestand der kapitalistischen Ordnung
fortschwingt. Es folgen die wieder aufwärts
gerichteten Konjunkturphasen, zunächst
die Erholung, dann die Prosperität, die
schließlich in die Phase der Überproduktion
übergeht. Nimmt man diese Phasenfolge ernst,
dann stehen wir ziemlich am Beginn einer Krise,
mit den bekannten Symptomen wie wachsende Absatzstockungen,
rückläufige Produktion, Vernichtung
von Kapital, Firmenpleiten mit hohen Kreditausfällen
bei Banken, Banken- und Finanzkrisen, Entlassungswellen,
Druck auf die Löhne, erneute Versuche seitens
der Unternehmer, die Arbeitszeit auszuweiten.
Konjunkturmuster
und lange Wellen der Akkumulation
Das
Ausmaß dieser Abwärtsbewegung hängt
davon ab, ob der Krisenzyklus in eine eher ansteigende
oder abfallende Welle der Akkumulationsbewegung
eingebunden ist. In einer Phase beschleunigter
Akkumulation, wie sie beispielsweise in etlichen
Ländern zwischen 1950 und 1972 anzutreffen
war, fielen die zyklischen Krisen äußerst
milde aus, der allgemeine Rückgang der
Geschäftstätigkeit zeigte sich –
wie in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten
in China – meist nur in rückläufigen
Wachstumsraten. Die abwärts gerichteten
Phasen waren aber nicht nur weniger intensiv,
sie fielen zudem kürzer aus. Umgekehrt
verhielt es sich mit den aufwärts gerichteten
Phasen: Gerade erst eine Konjunkturflaute durchlaufen,
setzte sogleich eine kräftige Erholung
ein, gefolgt von einer stürmischen Prosperität.
Die 70er Jahre bis Anfang der 80er Jahre produzierten
dann auf der Grundlage einer tendenziell verlangsamten
Akkumulationsphase ein anderes Konjunkturbild.
Nun traten die Krisen stärker hervor, die
rückläufige Geschäftstätigkeit
zeigte sich in längeren Perioden des Produktionsrückgangs,
die Erholung setzte verzögert ein und der
Prosperität fehlte die kräftige Aufwärtsdynamik.
Ein solcher Wechsel im Konjunkturmuster scheint
schon früher vorgekommen zu sein, wie wirtschaftsgeschichtliche
Untersuchungen zeigen. "Der Unterschied
im Verlauf der Konjunkturschwankungen in den
einzelnen Perioden ist gewaltig“, schrieb
beispielsweise der Leiter der Statistischen
Abteilung des ADGB Wladimir Woytinski Anfang
der 30er Jahre. Bezug nehmend auf die statistischen
Untersuchungen Spiethoffs errechnete er folgenden
prozentualen Anteil der Zahl der Stockungs-
und Aufschwungsjahre für verschiedene Akkumulationsspannen.
|
Aufschwungs-
jahre |
Stockungsjahre |
Stockungsspanne 1822-1842
(England)
|
43
v.H. |
57 v.H. |
Aufschwungsspanne
1843-1873 (Deutschland) |
68
v.H. |
32 v.H. |
Stockungsspanne
1874-1894 (Deutschland) |
29
v.H. |
71 v.H. |
Aufschwungsspanne
1895-1913 (Deutschland) |
79
v.H. |
21 v.H. |
„Es
ist dabei noch zu berücksichtigen“,
fährt Woytinski fort, „dass die Krisen
in einer Stockungsspanne härter und die
Aufstiege der Wirtschaft schwächer sind
als in einer Aufschwungsspanne." 1
Der in Deutschland lebende russische Sozialist
Parvus (A.L. Helphand) hatte noch früher
auf solche Perioden hingewiesen: “Es gibt
also Perioden einer verlangsamten und einer
beschleunigten Entwicklung der kapitalistischen
Weltproduktion. So hatten wir in der zweiten
Hälfte des 19. Jhds. die wirtschaftliche
Depression, die sich auf allen Gebieten geltend
machte, und haben jetzt eine neue Sturm- und
Drangperiode der kapitalistischen Entwicklung,
die mit dem industriellen Aufschwung der 90er
Jahre einsetzte.”2
Seit dieser Zeit ist die Diskussion über
Lange Wellen der Konjunktur nicht mehr verstummt.3
Auch von bürgerlicher Seite wurde das Thema
„Lange Wellen der Konjunktur“ gelegentlich
aufgegriffen, wie beispielsweise von dem österreichischen
Ökonom J. A. Schumpeter.
Einige Jahre nach Parvus haben die beiden Holländer
J. van Gelderen (1913) und später S. de
Wolff (1924) sowie der Leiter des Moskauer Instituts
für Konjunkturforschung Kondratieff (1922/1926)
solche längeren Perioden der kapitalistischen
Produktionsentwicklung als Lange Wellen der
Konjunktur interpretiert, die mehr oder weniger
regelmäßig auftreten und eine Zeitspanne
von durchschnittlich etwa 50 Jahre umfassen
würden. Anfang der 60er Jahre prognostizierte
der marxistische Ökonom Ernest Mandel das
baldige Ende der Nachkriegsprosperität.
Mandel kommt in seinem Buch „Der Spätkapitalismus“
zu dem Ergebnis, dass die “Existenz solcher
langen Wellen angesichts des erdrückenden
Beweismaterials kaum in Abrede gestellt werden
kann.” Verschiedene Schlüsselindikatoren
wie die Industrieproduktion oder der Welthandel
würden gut abgrenzbare Perioden unterschiedlicher
wirtschaftlicher Dynamik aufweisen.
Umschlag
in eine Phase verlangsamter und instabiler Akkumulation
Nun
gibt es etliche Hinweise darauf, dass der gegenwärtige
Akkumulationsprozess einen Phasenwechsel durchlebt,
ein Wechsel von einer vergleichbar stabilen
Phase der Akkumulation hin zu einer instabilen,
verlangsamten Akkumulation. So haben sich Welthandel
und Produktion seit Anfang der 90er Jahre ohne
größere Rückschläge rasch
ausgeweitet. Gründe dafür sind zunächst
die Sturm- und Drangperioden des Kapitals in
China und in anderen asiatischen Ländern,
wo die Investitionsquoten teilweise (wie China)
bei mehr als 40 % liegen. Hinzu kommen neuerdings
die Golfstaaten, die ihre hohen Öleinnahmen
für den Ausbau ihrer Industrie und ihrer
Infrastruktur ausgeben. Auch die Öffnung
der mittelosteuropäischen Märkte hat
seit den 90er Jahren neue Anlagesphären
für das Kapital geschaffen.
Die beschleunigte Akkumulation ist noch auf
einen weiteren wichtigen Umstand zurückzuführen.
Technologische Veränderungen haben neue
Industrien entstehen lassen. Dazu zählen
Technologie-Sprünge im Bereich der Computer-,
Informations- und Kommunikationstechnologie,
der Energieerzeugung (solare Energie, Windenergie)
und in der Biotechnologie. Solche Produktivkraftentwicklungen
gehen mit hohen Extraprofiten einher, die zu
einer Quelle beschleunigter Akkumulation werden.
Der Aufbau neuer Industrien samt der dazu gehörenden
Infrastruktur beinhaltet eine anhaltend starke
Nachfrage nach Produktionsmitteln verschiedenster
Art. Außerdem werden Arbeitskräfte
benötigt, so dass zugleich die Nachfrage
nach Konsumgütern steigen muss. Es ist
also ein ganzer Sektor entstanden, der während
der Aufbauphase zunächst nur kauft, ohne
selbst zu verkaufen. Das kehrt sich erst später
um, wenn die erstellten Produktionsanlagen anfangen
zu produzieren. Dann wird in Höhe des verbrauchten
fixen Kapitals mehr verkauft als gekauft. Der
Umschlag des fixen Kapitals schafft also die
Notwendigkeit des zeitlichen Auseinanderfallens
von Kauf und Verkauf.
Solange aber die Nachfrage überwiegt, wirken
sich die Wachstumsimpulse des neuen Sektors
selbst in entfernteren Wirtschaftsbereichen
aus. Diese Phase besteht seit etwa 20 Jahren
und hat zu einer enormen Erweiterung des Weltmarkts
geführt.
Beeindruckt von dieser Entwicklung sprechen
etliche Beobachter von der Globalisierung als
einer neuen Phase des Kapitalismus oder gar
vom „Weltkapital“ (Robert Kurz),
das die Nationalökonomie und den Nationalstaat
aushöhlen, schließlich sogar beseitigen
würde. In Wirklichkeit handelt es sich
nur um einen gewöhnlichen Rhythmus des
Weltmarktes, der abwechselnd mal stärker
mal schwächer wächst, oder gar schrumpft
wie im Zuge und nach der Weltwirtschaftskrise
1929/1932.
Heute blicken wir auf eine Phase beschleunigter
Akkumulation und auf einen stürmisch gewachsenen
Welthandel zurück. Die gesamte Weltproduktion
ist auf eine neue, viel umfassendere Stufe gehoben.
Folge davon war, dass die Krisenzyklen weniger
stark ihre kritischen Seiten offenbarten. Die
konjunkturelle Prosperität verlief in etlichen
Ländern sehr stürmisch, in den meisten
Ländern akzentuierter als sonst, während
der Rückgang der Produktion gering war
oder sich gar nur in rückläufigen
Wachstumsraten zeigte. Größere Weltmarktkrisen
hat es seit Anfang der 80er Jahre nicht gegeben.
Diese Phase scheint auszulaufen, so dass nun
die kritischen Phasen des Konjunkturzyklus stärker
in den Vordergrund treten. Denn die im Zuge
des Aufbaus neuer Industrien und ganzer Industriezweige
geschaffenen neuen Kapazitäten werden mehr
und mehr genutzt und vergrößern das
Angebot. Auf der anderen Seite sind die Großprojekte
weitgehend abgeschlossen, der Nachfragesog lässt
also nach. Das Angebot könnte deshalb schon
bald tendenziell größer sein als
die Nachfrage, mit der Folge, dass die Sturm-
und Drangperiode des Kapitals in eine länger
anhaltende Periode verlangsamter und instabiler
Akkumulation übergeht. Die abwärts
gerichteten Phasen des Konjunkturzyklus’
wie Krise und Rückgang der Produktion werden
voraussichtlich stärker ausfallen und die
zyklische Prosperität wird eine geringere
Aufwärtsdynamik besitzen. Auf ökonomischem
Gebiet muss mit turbulenten Zeiten gerechnet
werden.
Noch einmal zurück zu den großen
Akkumulationswellen in der Geschichte des Kapitalismus.
Greifen wir die übliche Datierung auf,
wie sie beispielsweise bei Mandel4
zu finden ist, dann könnte die Fortschreibung
der Zahlen folgendermaßen aussehen:
Phase
verlangsamter Akkumulation |
Sturm-
und Drangperioden des Kapitals |
|
1848
bis 1873 |
1874
bis 189 |
1894
bis 1913 |
1914
bis 1939 |
1940(1948)
bis 1967 |
1968
bis 1982* |
1983*
bis ca. 2008* |
*Eigener
Datierungsvorschlag
Folgendes
lässt sich zusammenfassend sagen: Die Anhaltspunkte
mehren sich, dass wir vor einem großen
Wechsel im Tempo der Weltmarktentwicklung stehen.
Es ist damit zu rechnen, dass die Krise und
der darauf folgende Produktionsrückgang
stärker ausfallen werden. Im Zuge schärferer
Krisen und stärkeren Absatzstockungen nimmt
die Wahrscheinlichkeit von größeren
Firmenzusammenbrüchen und hohen Zahlungsausfällen
zu. Die eigentliche Kreditkrise steht noch bevor!
Sie trifft auf ein bereits geschwächtes
Finanzsystem, das – wie wir nun sehen
werden – auch durch technische Veränderungen
anfälliger geworden ist.
3.
Änderungen im Finanzsystem
Die
zurückliegende Sturm- und Drangperiode
des Kapitals hat nicht nur den Welthandel samt
der Produktion auf eine neue, viel umfassendere
Stufe gehoben, sie hat nicht nur dort die Computer-,
Informations- und Kommunikationstechnik revolutioniert,
sie hat durch ihr wachsendes Bedürfnis
nach Kredit das Kreditsystem selbst in einigen
Bereichen revolutioniert. Dazu zählt die
wachsende Verflechtung von Bankgeschäft
und Kapitalmarkt, in deren Verlauf neue Kreditinstrumente
geschaffen wurden.
Verbriefung
von Forderungen
Vergab
früher eine Bank einen Kredit, dann blieb
sie in der Regel Gläubiger, solange der
Kredit lief, und trug das entsprechende Risiko
(„originate and hold“). Dies ist
nun anders. Banken übernahmen in den zurückliegenden
Jahren von kleinen lokalen Volksbanken Tausende
von Hypotheken, schnürten sie zu riesigen
neuen Bündeln zusammen und ließen
sie von Moody’s oder Standard & Poors
oder Fitch bewerten. Anschließend wurden
dann diese Hypothekenpfandbriefe an Pensionsfonds,
Hedge-Fonds oder an andere Banken verkauft.
Mit dem Instrument der Verbriefung von Forderungen
lassen sich auch andere Kredite in handelbare
Wertpapiere verpacken, seien es nun Hypotheken,
Verbraucherkredite, Kreditkartenforderungen
oder Darlehen an Unternehmen oder für den
Autokauf. Diese Kredite sind durch einfachen
Kauf und Verkauf der Papiere handelbar. Kreditrisiken
können so von Amerika nach Europa wandern.
Der Markt für Verbriefung von Forderungen
ist gigantisch: Das globale Neuvolumen lag 1997
bis 2002 bei durchschnittlich 500 Mrd. US-$.
Es stieg dann rasant auf mehr als 2.000 Mrd.
US-$ in 2006 an. Im Januar 2007 betrugen die
Forderungen auf US-Hypothekenschulden rund 6,5
Billionen US-Dollar.
Kreditrisikotransfer
durch Kreditderivate
Kreditrisiken
werden noch durch ein weiteres Instrument in
alle Welt gestreut: durch den Handel mit Kreditderivaten.
Zu diesen Instrumenten des Kreditrisikotransfers
(Credit Risk Transfer, CRT) gehören die
weit verbreiteten Credit Default Swaps (CDSs).
Der Deal läuft folgendermaßen ab:
Der Sicherungsnehmer – der Kreditgeber
(z. B. die Bank A, die einen Kredit an C fortgegeben
hat) – schließt mit dem Sicherungsgeber
– dem Versicherer (z. B. der Hedge Fonds
B) eine CDS-Vereinbarung ab. Bank A verpflichtet
sich darin, eine regelmäßige Gebühr
an B zu zahlen. Dafür erhält sie von
B die Garantie, den versicherten Kreditbetrag
erstattet zu bekommen, sollte der Kreditnehmer
C seine Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllen.
Die Bank A hat also ihre Kreditausfallrisiken
verkauft. Sie bekommt Kreditschutz.
Die CDSs ähneln einer Versicherungspolice,
ohne dass aber der Versicherungsgeber (im Beispiel
der Hedge-Fonds B) entsprechende Rückstellungen
bilden muss. Es werden keine Vermögenswerte
als Sicherheit hinterlegt. Das so genannte Kontrahenten-Risiko
ist also erheblich. Kann beispielsweise C seinen
Kredit nicht zurückbezahlen, weil der Absatz
seiner Waren krisenbedingt stockt, muss der
Hedge-Fonds B zahlen. Fehlen ihm aber die Mittel
dazu, fällt das Risiko an die Bank A zurück,
die dann möglicherweise ihre eigenen Verpflichtungen
nicht mehr ausgleichen kann. Eine Kettenreaktion,
eine Art Kernschmelze im Finanzsystem, könnte
die Folge sein.
Der Markt für CRT-Instrumente ist sprunghaft
gewachsen. Von Sommer 2004 bis Mitte 2007 haben
sich diese Kreditderivate auf USD 51 Billionen
(ausstehende Verbindlichkeiten) mehr als verzehnfacht.
Fortentwicklungen
im Kreditwesen wirken als Hebel für eine
beschleunigte Akkumulation und als krisenverschärfendes
Element
Der
Einsatz der neuen Finanzinstrumente war erforderlich,
um dem in der Phase beschleunigter Akkumulation
stark gewachsenen Bedürfnis nach Krediten
besser nachzukommen. Erstens kann die Bank nun
ihre Kreditkunden mit Krediten bedienen, ohne
dass ihr begrenztes Eigenkapital eine Schranke
dafür bildet. Sie braucht nur ihre Kreditrisiken
oder die als Wertpapier verpackten Forderungen
an andere Investoren, beispielsweise an andere
Finanzinstitute oder an Vermögensverwaltungen
in Europa zu verkaufen, und schon wird Eigenkapital
frei, das weiteren Krediten unterlegt werden
kann. Der gesamte Kapitalmarkt steht ihr zur
Verfügung.
Zweitens fällt die Schranke fort, die mit
einer regionalen oder sektoralen Spezialisierung
der Bank gegeben ist. Konzentrationsrisiken
können durch den Verkauf der Risiken bzw.
durch den Verkauf einer Gesamtforderung reduziert
werden.
Solche Fortentwicklungen im Kreditwesen sind
aber nicht nur ein wichtiger Hebel für
eine beschleunigte Akkumulation, also auch ein
Hebel zur Beförderung der dieser Akkumulation
innewohnenden Widersprüche, sondern sie
bilden zugleich ein wichtiges Element, wodurch
das gesamte internationale Finanzsystem eine
besondere Störanfälligkeit erhält.
Denn es bedeutet, dass die Risiken weiter gestreut,
die wechselseitigen Verpflichtungen undurchsichtiger
sind, so dass schnell das globale Finanzsystem
ins Chaos geraten kann.
Das Beispiel dafür liefert gerade die gegenwärtige
Finanzkrise: Eine sektoral und regional begrenzte
Subprime-Hypothekenausfallkrise bei Eigenheimkrediten
reichte aus, um selbst renommierte Bankhäuser
in Europa ins Wanken zu bringen. Dass Notenbanken
und Regierungen größere Bankhäuser
stützen, ist Ausdruck für die Angst
vor einem Zusammenbruch des Finanzsystems. Mit
der Pleite von Lehman Brothers und dem Beinahe-Zusammenbruch
des US-Versicherungskonzerns AIG - beide Unternehmen
waren wichtige Marktteilnehmer im Handel mit
Kreditderivaten5 –
schien die befürchtete Kernschmelze des
Finanzsystems einzusetzen.
Vertreter von Fed und Regierung sahen, wie die
gewaltige Kreditpyramide zu schwanken begann.
Das Vertrauen der USA als zuverlässige
Schuldnernation stand auf dem Spiel. Wäre
beispielsweise AIG Pleite gegangen, dann wären
die von AIG getätigten Versicherungen gegen
Zahlungsausfälle auf Anleihen wertlos gewesen;
die Käufer von US-Anleihen, darunter die
großen ausländischen Käuferländer
wie China oder die Ölländer ständen
plötzlich ohne Versicherungsschutz da.
Die Fed hatte praktisch keinen Spielraum. Sie
musste den Zusammenbruch von AIG verhindern,
wie sie zuvor aus vergleichbaren Gründen
den Zusammenbruch der beiden Hypothekenversicherer
Fannie Mae und Freddie Mac verhinderte. Sie
konnte nicht die Kreditwürdigkeit des Landes
aufs Spiel setzen. Und hier liegt auch der Grund
für das 700 Milliarden schwere Notprogramm
der Regierung.
4.
Wie Regierung und Fed ihr Vertrauen verspielen
Man
hat gesehen, dass der US-Staat, dass Regierung
und Fed, die Kernschmelze im Bereich des Finanzsystems
durch Verstaatlichungen, durch die Vergabe von
Krediten, durch die Bereitstellung von ungeheuren
Geldsummen und nicht zuletzt durch das verkündete
Notprogramm erst einmal verhindert haben.
Lässt sich mit den gigantischen Interventionen
die Finanzkrise wirklich aufhalten oder gar
beseitigen? Ein Aufschub ist möglich, nicht
aber eine wirkliche Bereinigung der Finanzkrise.
Dazu reicht selbst das 700-Milliarden-Notprogramm
nicht aus. Denn die faulen Kredite bleiben,
auch wenn sie der Staat vorübergehend in
Quarantäne hält. Der rasante Anstieg
der Staatsverschuldung verkleinert die Manövriermasse,
über die der Staat noch verfügt, ohne
den Ruf als zuverlässiger Schuldner zu
verlieren. Ein solcher Ruf ist schnell verspielt
und nur schwer wieder herstellbar. Das gilt
nicht nur im normalen Geschäftsleben, sondern
auch für den Staat, der innerhalb des internationalen
Finanzsystems keine privilegierte Position besitzt.
Er ist ebenso wie ein größerer Konzern
auf das Vertrauen angewiesen, das ihm die globale
Finanzwelt entgegenbringt. Vertrauen lässt
sich nicht erzwingen, selbst die USA können
dies nicht.
Der US-Staat wird unbeschadet kaum noch einen
weiteren Kraftakt stemmen können, wie er
es jetzt mit dem Notprogramm tun will. Dennoch
wird die Wirtschaft weitere Rettungsaktionen
einfordern. Bereits jetzt gibt es Zweifel, ob
das Paket und die bisherigen Rettungsaktionen
wirklich ausreichen, um die Kreditkrise in den
Griff zu bekommen. Schließlich gibt es
eine große Zahl zweifelhafter Kredite,
die sich jenseits des Immobiliensektors befinden.
Besonders dramatisch wird es dann, wenn die
konjunkturbedingte Pleitewelle aus der Wirtschaft
auf das Finanzsystem zurollt. Wie gezeigt, könnte
diese Welle größer sein als sonst.
Die US-Regierung steht ohne Reserven da, wenn
diese Welle kommt. Sie geriete dann schnell
in eine ausweglose Situation, in der sie ihr
Vertrauen verspielt, egal, was sie täte.
Würde sie tatenlos zusehen, wie die Pleitewelle
eine Firma nach der anderen dahinrafft, dann
wären zwar erst einmal keine weiteren Kredite
erforderlich, jedoch würde die sich ausbreitende
Krise die finanzielle Grundlage des Staates
um so mehr untergraben. Eine wirtschaftliche
Depression würde zwangsläufig die
Staatseinnahmen drastisch verringern und trotz
größter Vorsicht zu einer Erhöhung
der Staatsausgaben führen. Konsequenz wäre
eine wachsende Staatsverschuldung, die aber
gerade verhindert werden sollte, um das Vertrauen
als zuverlässiger Schuldner nicht zu verspielen.
Ein Vertrauensverlust träte also dennoch
ein.
Würde aber die Regierung stattdessen weitere
Notprogramme zur Rettung Not leidender Konzerne
auflegen, dann würde die Staatsverschuldung
sofort zunehmen, mit der gleichen Folge, dass
die Finanzmärkte die Kreditwürdigkeit
des Staates in Zweifel zögen.
Was nun die US-Notenbank Fed angeht, so hat
sie erst einmal keine Schwierigkeiten, Kredite
in Dollar zu vergeben, die sie selbst in beliebiger
Höhe schaffen kann. Sie besitzt diese Papiermaschine,
die wie durch Zauberschlag eine unerschöpfliche
Geldquelle zu sein scheint. Da sie das Notenausgabemonopol
besitzt, kann sie als so genannter „lender
of last resort“ zum letztinstanzlichen
Gläubiger werden. Das Notenausgabemonopol
funktioniert aber nur, weil das Vertrauen da
ist, die Notenbank würde durch eine umsichtige
Geldpolitik den Wert des Geldes einigermaßen
stabil halten. Ein solches Vertrauen ist ungeheuer
wichtig, denn es existiert kein wirklicher Wert,
der hinter dem Geld steht. Die Goldeinlösungspflicht
ist abgeschafft.
Die Fed setzt aber ihr Vertrauen durch ihre
aggressiven Stützungsmaßnahmen aufs
Spiel, wenn sie in wachsendem Maße Gläubigerin
von weniger gut gesicherten Krediten wird. Denn
sie hat nicht nur den Kreis der Finanzinstitute
erweitert, der sich bei ihr verschulden kann.
Sie hat zudem die Bonitätsstandards der
Wertpapiere vermindert, die für solche
Kredite hinterlegt werden müssen. Die Fed
akzeptiert inzwischen auch verbriefte Forderungen
mit fraglicher Kreditwürdigkeit, welche
kaum noch ihren Abnehmer finden. Aber die Fed
nimmt sie ab und liefert dafür das allgemeine
Tausch- und Zahlungsmittel. Sie tauscht ihren
eigenen Kredit gegen fragwürdige Kreditpapiere.
Hinzu kommen noch die Noteinsätze für
zahlungsunfähige Finanzinstitute. Beispielsweise
stellte die Fed einen 30-Mrd.-Dollar-Kredit
zur Rettung der US-Investmentbank Bear Stearns
und einen 85-Mrd.-Dollar-Kredit zur Rettung
des taumelnden Finanzriesen AIG zur Verfügung.
Die Fed hat Milliarden-Kredite gegen höchst
fragwürdige Sicherheiten vergeben. So sammeln
sich die Risiken mehr und mehr bei ihr. Der
letztinstanzliche Gläubiger verspielt seine
Glaubwürdigkeit.
5.
Das Ende einer Ära
Ein
neuer Abschnitt kapitalistischen Verfalls kündigt
sich an: Das Finanzsystem ist angeschlagen,
die Notenbanken, allen voran die Fed, setzen
ihr Vertrauen aufs Spiel, wenn sie zur Rettung
des Finanzsystems ihren Kredit gegen fragwürdige
Sicherheiten eintauschen und die Märkte
mit Geld überfluten6
, der US-Staat häuft in kürzester
Zeit gigantische Schuldenberge an, wodurch seine
künftigen Handlungsspielräume stark
beschnitten werden – all dies passiert
zu einer Zeit, in der die materielle Grundlage
brüchig wird, die Wirtschafts-Konjunktur
nicht nur an Dynamik verliert, sondern abzustürzen
droht.
Vertrauensverlust
der Fed und Sturz des US-Dollars
Angesichts
solcher Rahmenbedingungen stellt sich die Frage,
in welches Szenario der Weltmarkt schon bald
hineinschlittern wird, wie sich der US-Dollar
entwickelt und was die Fed gegen den Niedergang
der Leitwährung überhaupt tun kann.
Turbulent wird es in jedem Fall. Folgendes Szenario
besitzt zumindest eine gewisse Plausibilität.
Mit dem Beginn der allgemeinen Konjunktur-Krise
kommen zusätzlich neue Belastungen (Kreditausfälle
durch illiquide Unternehmen möglicherweise
zunächst im Autosektor, Kreditausfälle
bei Privatpersonen, die gleichfalls ihre Kredite
nicht zurückzahlen können) auf die
Banken zu. Weitere Rettungsaktionen von Notenbank
und Regierung werden erforderlich. Die Schwierigkeiten,
die bereits die partielle Krise des Immobiliensektors
gebracht hat, werden durch die allgemeine Krise
gesteigert. Bankenkrise und Vertrauensverlust
bei den Notenbanken nehmen zu.
Vor allem der sich anbahnende Vertrauensverlust
der Fed wird Konsequenzen haben für den
US-Dollar, der von der Fed emittiert wird.
Warum sollten Dollar-Anleger (Besitzer von US-Wertpapieren
wie Aktien, Anleihen, Schatzbriefe, Pfandbriefe,
von sonstigen, nicht verbrieften Forderungen
in US-$) dem Dollar Vertrauen schenken, wenn
die Bank, die ihn emittiert hat, dafür
faule Kredite bekam. Und warum sollten sie Staatsanleihen,
staatlich gesicherte Pfandbriefe etc. in ihren
Depots halten, wenn die Garantien, die der Staat
gab, zweifelhaft werden und wenn selbst der
Schuldendienst als nicht mehr gesichert erscheint.
Ausfallrisiken und Dollarrisiken könnten
sich zu einem Gesamtrisiko kumulieren, das kein
Anleger mehr bereit wäre, freiwillig einzugehen.
Nun ist der Dollar Weltreservewährung.
Die Sache wird dadurch keineswegs einfacher.
Welchen Grund sollten Anleger haben, eine Währung
in Reserve zu halten, die auf faulen Krediten
beruht. Und es würde sich unter Risikogesichtspunkten
verbieten, diese zweifelhaft gewordene Währung
noch dazu in Form zweifelhafter Wertpapiere
zu halten, die der Staat möglicherweise
gar nicht auf Dauer bedienen wird. Solche Schuldner
werden von den Finanzmärkten hart bestraft,
selbst wenn es Staaten sind, die jene Schuldtitel
emittierten.
Für den US-$ besteht also die Gefahr, dass
die ausländischen Dollarbesitzer auf den
Vertrauensverlust mit Verkäufen reagieren.
Dies führte zum weiteren Kursverlust des
Dollars, zu einer Verteuerung des US-Importe
und auf diesem Weg zu steigenden Preisen in
den USA. Das Misstrauen in den USA gegenüber
ihrer eigenen Währung würde durch
solche Inflationsprozesse zusätzlich gesteigert.
Eine Hyperinflation könnte die Folge sein,
verbunden mit weiteren Kursverlusten des Dollars.
Ein sich beschleunigt entwertendes Geld ist
natürlich erst recht untauglich, als Anlage-Währung,
also auch untauglich, als Weltreservewährung
zu dienen.
Hyperinflation und Dollar-Crash würden
nicht nur das Vertrauen erschüttern bzw.
die Importe verteuern, sondern es würden
sich weitere, noch viel ernstere Schwierigkeiten
einstellen. Ausländische Exporteure würden
US-Dollar als unsicheres Zahlungsmittel ablehnen.
Sie würden „harte“ Devisen
oder Gold verlangen. Auf jeden Fall würden
sie die Waren an den amerikanischen Importeur
nicht auf Dollar-Kredit verkaufen.
Problemfall
Leistungsbilanz
Nun
kommt ein Problem hinzu, das sich in der Vergangenheit
sukzessive aufgebaut hat, ohne ernsthafte Schwierigkeiten
zu bereiten. Die USA ist im Ausland hoch verschuldet.
Da ihre Leistungsbilanz chronisch defizitär
ist, fließen ihr durch den Waren- und
Dienstleistungsverkehr per saldo keine Devisen
zu. Die Importüberschüsse sind nur
möglich, weil die erforderlichen Devisen
durch ausländische Investoren, die an die
Stabilität des Dollars glauben, durch den
Kauf von US-Wertpapieren ins Land fließen.
Das Spiel geht solange gut, wie der Dollar als
Anlagewährung weltweit attraktiv ist. Das
Spiel ist aber aus, sobald der Dollar diese
Attraktivität infolge des eigenen Wertverlustes
verliert, wenn also die für den Importüberschuss
benötigten Devisen nicht mehr als Kapitalanlage
in die USA strömen. Und noch gefährlicher
würde sich die Situation darstellen, wenn
es statt der nötigen Devisenzuflüsse
zu Devisenabflüssen käme, wenn also
auch noch die Kapitalbilanz negativ würde.
Wegen fehlender Devisenzuflüsse und aufgrund
von Geldabflüssen („Flucht aus dem
Dollar“) wären die USA gegenüber
dem Ausland praktisch pleite. Die Fed könnte
wegen ihrer Zahlungsunfähigkeit keine Devisen
zur Verfügung stellen. Sie wäre machtlos,
dagegen etwas zu tun. Ihre Macht ist auf die
Ausgabe von Dollar begrenzt. Sie kann weder
Devisen noch Gold herbeizaubern.
Sie kann auch die Warenbesitzer nicht zwingen,
den Dollar als Kauf- und Zahlungsmittel einzusetzen.
Das große Mysterium, das eine Notenbank
umgibt, wenn sie Papier bedruckt, das dann als
Geld aufersteht, löst sich in dieser Situation
der Geldkrise auf. Es wird dann klar, dass die
Notenbank zwar über eine Papiermaschine,
nicht aber über eine Geldmaschine verfügt.
Um Geld zu schaffen, reicht eine Druckerpresse
nicht aus; es müssen noch andere Umstände
hinzukommen, die aber von der Notenbank weder
produzierbar, noch nennenswert beeinflussbar
sind. Nur wenn die Notenbank das Vertrauen der
Warenbesitzer hat, kann der bedruckte Papierzettel
die Eigenschaft des Geldes erhalten.
Ohne Devisen müsste der Import der USA
zusammen. Ohne Import würde die Industrie
still stehen. Und ein solches Ausscheiden der
USA aus dem Weltmarkt würde zugleich zu
einem Stillstand des Welthandels führen.
Eine gefährliche Abwärtsspirale der
Wirtschaft wäre die Folge.
Regierung und Fed müssten versuchen, ihr
Vertrauen zurückzugewinnen. Wahrscheinlich
könnten sie dies nur durch Rückkehr
zu irgendeiner Art Goldstandard, durch Rückgabe
ihrer Kreditrisiken an das Finanzsystem und
durch Entschärfung der Schuldensituation
des Staates. Es müssten also auch die Dinge
zurück genommen werden, die man gerade
zur Entschärfung der Krise eingesetzt hatten.
Die Probleme, die der Staat an die Wirtschaft
zurückgäbe, wären also gigantisch
und würden dort zu großen Verwerfungen
führen. Die Krisenprozesse würden
nachgeholt, die Regierung und Fed durch ihre
Interventionen nur verschoben hatten. Und sie
würden in den denkbar schlechtesten Zeiten
nachgeholt, wenn nämlich die konjunkturelle
Lage der Wirtschaft ihren Tiefpunkt hätte.
Um Vertrauen im Ausland zurück zu gewinnen,
müssen die dort gehaltenen Staatspapiere
(Bonds, Schatzbriefe) und die staatlich garantierten
Pfandbriefe, die als Folge der Hypothekenkrise
ökonomisch gesehen wertlos sind, sicher
sein. Wie sollte aber der Staat seine Schulden
und seine Sicherheitsgarantien bedienen, wenn
die Steuereinnahmen konjunkturbedingt rückläufig
sind und dazu die Wirtschaftskrise weitere Staatsausgaben
erfordert? Er wäre in einer Schuldenspirale
gefangen, aus der er nicht herauskommt und in
der er das Schlimmste, seinen eigenen Bankrott,
nur dadurch verhindern kann, indem er durch
weitere Neuverschuldungen die Schuldenspirale
weiter treibt. Er müsste das verstärkt
tun, was er bereits seit langem tut: Aufnahme
von neuen Schulden, um die alten zu bedienen.
Statt Vertrauen aufzubauen, würde der Staat
in einem solchen Fall das Misstrauen gegen ihn
nur noch steigern.
Politische
Konsequenzen
Politisch gesehen wäre dies eine äußerst
kritische Phase. Diejenigen, die über das
Vermögen der Nation verfügen, darf
der Staat nicht durch höhere Steuern oder
gar durch Konfiskation des Vermögens belasten,
da das kapitalistische Privateigentum seine
eigene Grundlage bildet, auf die er selbst ruht.
Es wäre frommes Wunschdenken, von der Regierung
einen solchen Brudermord einzufordern.
Ganz im Gegenteil wird der Staat alles daran
setzen, um seine materielle Grundlage, die Akkumulation
des Kapitals zu befördern. Er wird versuchen
müssen, den Wirtschaftsstandort USA möglichst
attraktiv zu machen. Aus der deutschen Standortdebatte,
die zur Agenda 2010 geführt hatte, können
wir ahnen, was das heißen wird. Aber die
Situation in den USA wäre um ein Vielfaches
angespannter, so dass die Maßnahmen bedeutend
radikaler ausfallen würden. Die Zielsetzung
wäre aber gleich: Erhöhung der Kapitalrentabilität,
Erhöhung also der Verwertungsbedingungen
des Kapitals durch direkte Lohnkürzungen,
durch Abbau indirekter Löhne (weniger Krankenkassenzuschüsse,
Rentenkürzungen, Kürzungen bei staatlichen
Arbeitslosenleistungen etc.), durch Verlängerung
der Arbeitszeit und durch größere
Arbeitsintensität. Das wären alles
Maßnahmen, die auf eine Erhöhung
der Mehrwertrate hinausliefen, um dadurch die
Profitrate oder Kapitalrentabilität zu
erhöhen.
Den durch die Wirtschaftskrise bereits unter
Druck stehenden Lohnabhängigen und dem
anschwellenden Arbeitslosenheer würde der
Fehdehandschuh hingeworfen, den sie aufgreifen
müssten, um nicht völlig zu verelenden.
Zugleich wären Verteidigungskämpfe
gegen die Unternehmer erforderlich, die Massenentlassungen,
Lohnkürzungen, Arbeitszeitverlängerung
und dergleichen erzwingen wollen. Ein Kampf
um die Mehrwertrate wäre die Folge, ein
Kampf Klasse gegen Klasse, ein ökonomischer
und zugleich politischer Kampf, bei dem es dann
um mehr als um bloße Lohnsicherung geht.
Das Lohnsystem selbst, das Verhältnis von
Lohnarbeit und Kapital, würde als problematisch
erscheinen. Es wäre ein Kampf um die künftige
Gestaltung der Gesellschaft, der dann bald in
einen revolutionären Befreiungsversuch
münden könnte.
Wie der Kampf auch immer ausgehen mag, er kündigt
sich bereits in der heutigen Finanzkrise an.
Und wenn Regierung und Notenbank alles tun,
um den Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern,
dann tun sie das nicht nur, um das Kapital vor
gigantischen Entwertungsprozessen zu schützen,
sondern auch, weil sie in einer dramatischen
Zuspitzung der Krise die Gefahr ihres eigenen
Untergangs wittern. Denn das Ende des US-Kapitalismus
wäre zugleich ihr eigenes Ende. Und wenn
die wissenschaftlichen und journalistischen
Interpreten die Krise auf eine reine Finanzkrise
verengen, die nichts aber auch gar nicht mit
dem eigentlichen Kapitalismus zu tun habe, die
nur entstanden sei, weil findige Verkäufer
einst US-Bürgern Immobilienkredite aufschwatzten,
weil der frühere Fed-Chef Alan Greenspan
die Zinsen zu stark senkte, weil raffsüchtige
und skrupellose Manager zu hohe Risiken eingegangen
seien oder weil Spekulanten das Geschäftsleben
störten, dann sollen solche Interpretationen
von der endogenen Krisenhaftigkeit des kapitalistischen
Systems ablenken. Das System als solches soll
in jedem Fall gerettet werden und es lässt
sich ideologisch nur retten, wenn der kapitalistische
Normalzustand idealisiert und all die Widersprüche,
Gegensätze, Gewalttaten des Systems in
bloße Missstände umgedeutet werden.
Aber auch außenpolitisch würde sich
die Situation zuspitzen. Jedes Land würde
versuchen, die Krisenlast durch protektionistische
Maßnahmen auf das andere Land abzuwälzen.
Um das Land in diesem auswärtigen Kampf
zu einen, würden nationale Leidenschaften
produziert und je schwieriger dieser Kampf,
desto stärker müssten die Leidenschaften
entfacht werden.7
Ein wachsender Nationalismus mit Wirtschaftskriegen
und der Gefahr eines Umschlags in größere
militärische Konfrontationen wären
mögliche Folgen. Aber die erzeugten nationalen
Leidenschaften würden auch eingesetzt,
den Kampf um die Mehrwertrate als Kampf um das
nationale Überleben, als Kampf um die viel
beschworenen „gemeinsamen nationalen Werte“
zu verdrehen.
1
Woytinski, W.: Das Rätsel der langen Wellen.
Schmollers Jahrbuch 55 (1931), S. 581
2 Parvus, Die kapitalistische Produktion und
das Proletariat, Berlin 1908, Verlag Buchhandlung
Vorwärts, S. 10f. Ähnliche Hinweise
in der Schrift “Die Handelskrisis und
die Gewerkschaften”, in: Die langen Wellen
der Konjunktur, Berlin 1972, S. 26
3
Einen guten Überblick zur Diskussion langer
Wellen findet sich bei Ernest Mandel, Die Langen
Wellen im Kapitalismus, Frankfurt 1983 und in:
Der Spätkapitalismus, Frankfurt 1972, IV.
Kapitel, S. 101ff.
4
Mandel, Spätkapitalismus, S. 133f
5
Grund für deren Zusammenbruch waren Kreditderivate,
mit denen sowohl Lehman Brothers wie auch AIG
große Räder drehten. In dem populären
Segment der Kreditderivate, den Collateralised
Debt Obligations (CDOs), war Lehman Brothers
zuletzt einer der Marktführer; AIG ist
einer der wichtigsten Marktteilnehmer bei Derivaten
auf Schuldverschreibungen. Noch nicht völlig
geklärt sind die Auswirkungen der Verstaatlichung
auf die von AIG ausgegebenen Kreditderivate.
Teilweise enthalten die Verträge Klauseln,
in denen die Verstaatlichung einem Konkurs gleichgestellt
wird. In einem solchen Fall würden die
Derivate wertlos. Weil viele Kreditderivate
ineinander verschachtelt sind, kann es Wochen
dauern, bis die wahren Verluste ans Licht kommen.
6
Die Pleite von Lehman Brothers verunsicherte
die Bankenwelt derart, dass der Dollar-Geldmarkt
erneut austrocknete, wie es seit Beginn der
Finanzkrise schon öfter der Fall war. Das
Kreditsystem schlug wieder um ins Monetarsystem.
Die Europäische Zentralbank (EZB) stellte
den Finanzmärkten auf dem darauf folgenden
Donnerstag (18.9.2008) insgesamt 40 Milliarden
US-Dollar über so genannte Swap-Geschäfte
zur Verfügung. Die US-Zentralbank Federal
Reserve pumpte 180 Milliarden Dollar in das
internationale Finanzsystem. Die Bank of England
kündigte eine Finanzspritze von 40 Milliarden
Dollar an. Beteiligt an der gemeinsamen Aktion
waren auch die Zentralbanken Kanadas und Japans.
Die Währungsvereinbarungen laufen bis zum
30. Januar 2009.
7
Mehr dazu bei G. Sandleben, Nationalökonomie
& Staat, Hamburg 2003, S. 125f
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