Hugo Chávez
beeindruckt zunächst durch die Kühnheit,
mit der er sich bietende Gelegenheiten ergriff,
um Dinge zu ändern. Der Sohn eines Lehrerpaars
aus Barinas in den staubigen Ebenen im Westen
Venezuelas trat in den 70er Jahren als Teenager
in die Armee ein, war 1992 Anführer eines
gescheiterten Staatsstreichs junger Offiziere
und wurde 1998 zum ersten Mal zum Präsidenten
gewählt. Im Verlauf dieses Prozesses trug
er zur Desintegration der beiden Hauptparteien
bei, die vier Jahrzehnte lang im Wechsel die
Regierung bildeten und sich die Pfründe
aus den Staatsämtern teilten.
Chávez
berief sich auf den venezolanischen Nationalhelden
Simón Bolívar, der auch die führende
Rolle bei der Befreiung Lateinamerikas von der
spanischen Kolonialherrschaft spielte, und erkor
ihn zum Bannerträger seiner nationalen
Revolution und der südamerikanischen Einheit,
der sein Hauptbestreben galt.
In seiner
14-jährigen Amtszeit schrieb Chávez
die venezolanische Verfassung um (wodurch die
Republik die Bezeichnung «bolivarisch»
erhielt) und überlebte in rascher Folge
einen rechten Putschversuch, der von US-Präsident
Bush unterstützt wurde, einen Streik der
Ölindustrie und ein Referendum zu seiner
Abberufung. Das Ausmaß der öffentlichen
Ausgaben stieg dramatisch an – zugunsten
der ärmsten Bevölkerungsteile des
Landes. Unter der Losung «Sozialismus
des 21.Jahrhunderts» verstaatlichte die
Regierung hunderte Unternehmen und verteilte
in großem Maßstab Land um.
Chávez
forderte die Hegemonie der USA heraus. Gegen
eine von den USA geförderte Gesamtamerikanische
Freihandelszone (ALCA) lancierte er eine alternative
Bolivarische Allianz (ALBA), die Länder
wie Kuba, Bolivien, Ecuador, Nikaragua und Argentinien
umfasst.
Chávez’
Regierung bot dem Neoliberalismus die Stirn,
der seit den 80er Jahren in Lateinamerika im
allgemeinen und in Venezuela besonders drastisch
durchgesetzt worden war. Im Februar 1989 fand
in Caracas ein Aufstandsversuch der Armen statt,
der vom Militär brutal unterdrückt
wurde (womit Chávez später teilweise
seinen Putschversuch von 1992 rechtfertigte).
Während der 90er Jahre brach der Lebensstandard
– vor allem der Ärmsten – ein.
Die
Grundlagen seines Regimes
Zwei Faktoren
erklären den Erfolg des scharfen Richtungswechsels,
den Chávez eingeführt hat. Der eine
ist das Öl. Venezuelas Vorkommen sind gewaltig.
Tatsächlich sind sie, nach der Neudefinition
von Teersanden als «Schweröl»,
nun offiziell die größten in der
Welt, sie übertreffen sogar die Saudi-Arabiens.
Chávez
hatte Glück, dass er unmittelbar vor einer
Boomphase bei den Ölpreisen gewählt
wurde, das haben viele gesagt: Anfang 1999 lagen
sie noch bei 10 Dollar je Barrel, anschließend
stiegen sie jedoch auf 100 Dollar und mehr.
Dieser Boom, der selbst fünf Jahre Weltwirtschaftskrise
überlebte, spielte allerdings eine Rolle.
Doch Chávez half seinem Glück auch
nach. Frühere venezolanische Regierungen
hatten auf Geheiß der USA OPEC-Abkommen
unterlaufen. Chávez hingegen bekräftigte
Venezuelas Mitgliedschaft im Ölkartell
und machte gemeinsame Sache mit den OPEC-Falken.
Gleichzeitig verstärkte er die Kontrolle
der Regierung über die halbautonome staatliche
Ölgesellschaft PDVSA und erhöhte die
Förderabgaben (sowohl für die PDVSA
als auch für ausländische Ölgesellschaften),
was der Regierung einen stetigen Geldfluss sicherte.
Die Öleinnahmen
erlaubten eine Steigerung der Ausgaben für
die Bedürfnisse der ärmsten Venezolaner.
Das Öl stärkte auch die Beziehungen
innerhalb von ALBA. Kubanische Ärzte, die
im Austausch gegen billiges Öl nach Venezuela
geschickt wurden, bildeten das Rückgrat
der Gesundheitsprojekte in den Slums. Das Öl
ermöglichte auch den vermehrten Kauf militärischer
Ausrüstung von Russland und anderen Ländern.
Der zweite
Faktor, auf den Chávez sich stützte,
war die Massenmobilisierung. Diese erfolgte
anfänglich fast vollständig spontan.
In seinen ersten Amtsjahren war Chávez
weitaus vorsichtiger als später, wo er
vor der UNO-Generalversammlung erklärte,
es rieche nach Schwefel, weil am Tag zuvor US-Präsident
Bush gesprochen hatte. Der frühe Chávez
hat sich sogar zustimmend zu Tony Blairs «drittem
Weg» geäußert.
Die Mittelschicht
und die bürgerliche Opposition antwortete
jedoch auf Chávez’ erste Schritte
der Landreform und der Kontrolle der Ölindustrie
mit großen Demonstrationen und forderte
ihn heraus; demgegenüber war Mäßigung
schwerer einzuhalten. 2002 wurde Chávez
durch einen Putsch gestürzt. Nur durch
die Gegendemonstrationen der armen Mehrheit
der Bevölkerung gelang es ihm, die Machtverhältnisse
innerhalb des Militärs zu verschieben und
seine Wiedereinsetzung zu erzwingen.
In gleicher
Weise entscheidend erwies sich die Unterstützung
und Organisierung der Massen, als die Opposition
2002/03 mehrere Monate lang die Ölindustrie
stilllegte, wodurch 80% der Exporte und ein
großer Teil des Staatseinkommens verloren
gingen.
Basisstrukturen
und Präsidialsystem
Für
eine Bilanz von Chávez’ Erbe aus
der Sicht der revolutionären Linken ist
die Schlüsselfrage nicht der Umfang des
Staatseigentums oder der staatlichen Kontrolle
über die Wirtschaft – dem Staatseigentum
an sich haftet nichts Sozialistisches an –,
auch nicht der Umfang der Ausgaben für
soziale Zwecke. Entscheidend ist die Beziehung
zwischen Chávez und der Bewegung der
Massen, die ihn gestützt haben, d.h. das
Kräfteverhältnis zwischen den Klassen.
Es sind
Basisstrukturen entstanden: Kommunalräte,
die den Stadtteilen helfen, an der Aufstellung
des Haushalts und der Planung der für sie
relevanten Ausgaben teilzunehmen. Arbeiter haben
erbitterte Arbeitskämpfe geführt,
und auf einige von ihnen wurde mit Verstaatlichung
reagiert. In einigen Produktionsbetrieben hatten
Selbstverwaltungsräte die Aufgabe, Schritte
in Richtung Arbeiterkontrolle zu machen.
Nach der
Präsidentschaftswahl von 2006 wurde eine
neue Partei gebildet, die Vereinigte Sozialistische
Partei Venezuelas (PSUV), die bei ihrer Gründung
großen Zulauf hatte.
Doch jede
positive Entwicklung wurde zugleich durch den
extremen Präsidialcharakter von Chávez’
Regierungsweise untergraben oder zumindest stark
eingeschränkt. Die Verfassung von 1999
garantiert viele Rechte, darunter das der Beteiligung
der Bevölkerung an den gesellschaftlichen
und politischen Angelegenheiten. Aber sie hat
auch die Macht des Präsidenten gestärkt.
Die Amtszeit des Präsidenten wurde auf
sechs Jahre ausgedehnt und die Beschränkung,
dass es nicht zwei Amtszeiten hintereinander
geben darf, aufgehoben. Nunmehr waren zwei Amtszeiten
das Limit. Chávez musste später
zwei Referenden überstehen, bevor er auch
diese Einschränkung beseitigte, die ihm
eine dritte Kandidatur 2012 unmöglich gemacht
hätte. Viermal erhielt Chávez das
Recht, ein Jahr lang per Dekret zu regieren,
und bekam dafür eine Mehrheit in der Nationalversammlung
– womit die Verfassung der Bolivarischen
Republik umgangen wurden.
Autonomie
der Arbeiterklasse nicht erwünscht
Wie begrenzt
der Raum für autonome Aktionen war, spiegelte
sich in den Kämpfen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung
wider.
Die historische
Gewerkschaftsföderation CTV war eng mit
Acción Democrática, einer der
traditionellen Regierungsparteien und Mitglied
der Sozialistischen Internationale, verbunden.
In den 90er Jahren hatten Linke versucht, die
Dominanz des Apparats in der CTV zu brechen,
aber sie wurden mit undemokratischen und betrügerischen
Mitteln besiegt. Die CTV arbeitete eng mit der
Opposition gegen Chávez zusammen und
unterstützte aktiv den Putsch von 2002
und den Streik in der Ölindustrie (der
eher eine Aussperrung war). Die Arbeiter, die
den reaktionären Streik brachen und Chávez
an der Macht hielten, versuchten daraufhin,
eine neue, unabhängige Gewerkschaftszentrale,
die UNT, aufzubauen. Diese rekrutierte rasch
eine große Mitgliedschaft, aber wiederholte
Versuche, eine Führung zu wählen,
wurden von der chavistischen Minderheit um die
FSBT (Fuerza Socialista Bolivariana de los Trabajadores)
blockiert. Die FSBT hat sich mittlerweile von
der UNT abgespalten und ist faktisch die einzige
Gewerkschaftsorganisation, die von der Regierung
als Tarifpartner anerkannt wird.
Chávez
hat es offen abgelehnt, dass sich die Arbeiterklasse
autonom gegenüber der «revolutionären»
Partei organisiert – vielleicht ein Erbe
seiner militärischen Ausbildung oder eine
von den Kubanern gelernte Lektion. Der prominente
venezolanische Trotzkist Stalin Pérez
Borges, der in die PSUV eingetreten ist und
dort die Tendenz «Marea Socialista»
gegründet hat, hat über die fehlenden
Möglichkeiten, sich an der Basis der sehr
hierarchischen Partei zu organisieren, berichtet.
Die jüngsten Nominierungen von PSUV-Kandidaten
für Gouverneurs- und Bürgermeisterämter
wurden von der Parteiführung per Erlass
durchgesetzt.
Das Problem
ist, dass ein «revolutionäres»
Projekt, das die Arbeiterklasse nicht an die
Macht bringt, darin enden wird, die Macht an
die einzige andere Klasse zurückzugeben,
die in der modernen Gesellschaft herrschen kann
– die Bourgeoisie. Die wütende Opposition
dieser Klasse gegen Chávez und seine
Politik verdunkelt diesen Tatbestand –
Chávez’ gemischte, schwarzafrikanische
und indigene Ursprünge, die er mit der
Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung
teilt, haben dazu beigetragen, dass ihn der
wohlhabendere Teil der Gesellschaft, der überwiegend
weißer, europäischer Herkunft ist,
verabscheut.
Bei all
seiner Rhetorik vom «Sozialismus des 21.Jahrhunderts»
hatte Chávez nicht vor, die Bourgeoisie
als Klasse zu enteignen. Zu seiner politischen
Koalition gehörten politische Barone, die
enge – und einträgliche – Verbindungen
zu Geschäftsleuten unterhalten, die unter
dem neuen Regime aufblühten und sich den
Titel «Boli-Bourgeoisie» einhandelten.
Chávez’
politische Unterstützung für arbeiterfeindliche
Regime wie das von Ahmadinejad, Putin, Lukaschenko
und das der chinesischen Staatskapitalisten
war nicht nur Ausdruck der Notwendigkeit, sich
mit anderen gegen die US-Dominanz zu verbünden,
sondern auch eines Verständnisses von Antiimperialismus
und internationaler Solidarität, das nicht
in der Arbeiterklasse wurzelt.
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