Sektion Zürich
 
anklicken Antiglobalisierung
anklicken ArbeiterInnenbewegung
anklicken Bildungspolitik
anklicken Frauenbewegung
anklicken Geschichte
anklicken Imperialismus & Krieg
anklicken International
anklicken Kanton Zürich
anklicken Marxismus
anklicken Umweltpolitik

anklicken Startseite
anklicken Über uns
anklicken Agenda
anklicken Zeitung
anklicken Literatur
anklicken Links
anklicken Kontakt

Schwerpunke / Kampagnen
anklicken Bilaterale II



 

Leben eines Revolutionärs

Jan Willem Stutje, Rebell zwischen Traum und Tat.
Ernest Mandel (1923-1995),

480 Seiten, Hamburg: VSA 2009, ISBN 978-3-89965-316-8

Eine Rezension von Phil Hearse*


Jan Willem Stutje hat mit dem Verfassen dieser Biographie eine enorme Aufgabe auf sich genommen – und wahrscheinlich eine unmögliche. Ernest Mandel gerecht zu werden, ihn zu bewerten, heißt, die revolutionäre Linke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu bewerten, was wiederum heißt, die Entwicklungstendenz der Weltpolitik in ihrer Gesamtheit zu beurteilen.

Mandel verfügte über eine solche Fülle von Kontakten und Interessen, dass es extrem schwer ist, den Wald von den Bäumen zu unterscheiden und zu erkennen, was wichtig ist und was zweitrangig oder gar Klatsch und Tratsch. Hinzu kommt, dass Ernest mit so vielen Menschenleben in Berührung kam und so viele Leute beeinflusste, dass gewiss viele Leser dieser Biographie ihre eigene Version von Ernest Mandel haben und Meinungen vertreten und über Erinnerungen verfügen, die mit einigem, was das Buch sagt, kontrastieren.

Für oder gegen Ernest Mandel zu sein war ja tatsächlich für Viele in der trotzkistischen Bewegung Teil ihrer Identität; die Militant–Leute und ihre Nachfolger sprachen [in Großbritannien] von der Vierten Internationale stets als [engl.] "Mandelites" (und sie tun das heute noch), während unter den englischsprachigen Anhängern von Mandels politischer Richtung sich einige – nur halbwegs im Scherz – als [span.] "Mandelistas" bezeichneten.

Mao Zedong soll auf die Frage nach seiner Bewertung der Französischen Revolution gesagt haben, dafür sei es noch ein wenig zu früh. Und vielleicht ist es einfach noch zu früh, um eine ausgewogene Mandel-Biographie zu schreiben, denn das impliziert ja, dass man – das ist vielleicht das zentrale Thema dieses Buchs – eine Bewertung von Mandels ewigem "Optimismus" vornimmt und seiner letztendlichen Erbitterung angesichts der Wende der Ereignisse in Osteuropa und des Aufkommens des Neoliberalismus, mit anderen Worten, eine Bewertung der Aussichten des Sozialismus in für uns absehbarer Zukunft.

Jan Willem Stutje hat den Versuch gewagt, Erzählung und Analyse zu verknüpfen und uns ein Bild von Mandels Persönlichkeit und seinem privaten Leben wie von seinen theoretischen Leistungen und politischen Erfolgen und Misserfolgen zu geben - und das ist ihm in vielerlei Hinsicht gelungen. Stutje hat mit vielen Menschen gesprochen und er war der erste, der Zugang zu Mandels Archiv hatte. Mandel war ein überaus produktiver Korrespondent und konnte an einem Abend 'mal eben so ein halbes Dutzend Briefe von der Länge einer ganzen Abhandlung schreiben. Die Korrespondenz, aus der zitiert wird, z.B. der Briefwechsel mit Perry Anderson, ist teilweise sehr erhellend. Im Zeitalter der E-Mail ist das eine Quelle, die künftigen Biographen wahrscheinlich nur noch dann zugänglich sein wird, wenn sie sehr gute Beziehungen zu den Geheimdiensten haben.

Dies ist also ein ernstzunehmendes, mit Informationen über Mandels Leben vollgepacktes Buch, das Linke auf der ganzen Welt interessant finden werden. Letzten Endes ist es aber, meiner Meinung nach, unausgewogen und räumt, bei aller Berechtigung mancher Kritik im Einzelnen, insgesamt gesehen Mandels außergewöhnlichen Fähigkeiten und Leistungen nicht den gebührenden Platz ein.

Jeder Mensch ist ein Produkt seiner Zeit und was er aus seinem Leben macht, hängt nicht nur von seinen eigenen Fähigkeiten und seinem Charakter ab, sondern auch von den Umständen, in denen er lebt. Wie Marx sagte: “Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht unter Umständen, die sie selbst gewählt haben." Für Revolutionäre umfassen diese Umstände auch die überlieferten theoretischen und politischen Konzepte, mit denen sie arbeiten oder die zu modifizieren sie versuchen müssen.

Mandel zu bewerten heißt sich anzusehen, was er erreicht hat, und an dem zu messen, was er hätte erreichen können. So gesehen erweisen sich Ernest Mandels Leistungen als außerordentlich. Seine Schwächen sind oft die Schwächen der aus dem Kampf der Linken Opposition gegen den Stalinismus hervorgegangenen Bewegung (der "trotzkistischen" Bewegung) überhaupt. Zunächst aber ein kurzer Schlenker zu Mandels Privatleben, über das das Buch viele Worte verliert, vielleicht zu viele.

Ernests Schwierigkeiten beim Versuch, seinen privaten Beziehungen zu Frauen Stabilität zu geben, insbesondere die Probleme seines Liebeslebens, nehmen in Stutjes Buch breiten Raum ein. Die seelische Krankheit und der Suizid seiner Partnerin Gisela Scholtz werden ausführlich behandelt, auch Mandels Unfähigkeit, ihr zu helfen. Dass er der politischen Arbeit immer Vorrang vor dem Privatleben einräumte, hat in diesem Zusammenhang gewiss eine Rolle gespielt. Eine Beziehung mit jemandem wie Ernest Mandel zu haben, wäre aber in jedem Fall außerordentlich schwierig gewesen. Ein führender Revolutionär zu sein, bedeutet immer, dass man sein Privatleben enormen Belastungen aussetzt.

Stutje leitet daraus gleich eine ganze Theorie ab, und behauptet, Mandels emotionale Entwicklung sei in seiner Pubertät unterbrochen worden, was ihn zu wirklich intimen Beziehungen unfähig gemacht habe. Hier versucht sich der Biograph als Psychoanalytiker, hier leitet er unnötigerweise aus Tatsachen Vermutungen ab. Isaac Deutscher ist es im Unterschied hierzu in seiner Trotzki-Biographie gelungen, das Privatleben seines Protagonisten auf anrührende Weise in seine Geschichte aufzunehmen, ohne sich auf Vulgärpsychologie herabzulassen.

Erheblicher ist aber, dass das Buch, das sich einige von Mandels politischen und theoretischen Schwächen auf treffende Weise vornimmt, meiner Meinung nach seine außerordentlichen Leistungen nicht ausreichend würdigt. Hinzu kommt, dass in der Behandlung der politischen Debatten und Aktivitäten der Vierten Internationale einige der wichtigsten ausgelassen werden und zweitrangigen oder schlicht irrelevanten Dingen unangemessen viel Raum eingeräumt wird.

Zunächst zu Mandels theoretischen Leistungen, die im Buch erwähnt, aber unzureichend gewürdigt werden. Ohne Frage liegt seine bleibende theoretische Leistung darin, dass er eine Analyse der Dynamik des modernen Kapitalismus und seiner bevorstehenden Krise vornehmen konnte und bei deren Ausarbeitung einige der grundlegenden Marxschen Konzepte wieder ausgegraben hat. Hierbei, das ist richtig, zehrte er von der Arbeit von Roman Rosdolsky und den Diskussionen mit ihm, der mit seinem bahnbrechenden Buch über Marxens Grundrisse (Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen "Kapital" [dt. Ffm.: Europäische Verlagsanstalt 1968]) einiges an Vorabeit für Mandels Spätkapitalismus [Ffm.: Suhrkamp 1972] geleistet hat. Neue theoretische Einsichten entspringen ja überhaupt selten vollkommen ausgereift dem Gehirn eines einzigen Menschen.

Angekündigt wurde dieses "neue" theoretische Paradigma nicht wirklich mit seinem ersten theoretischen Buch Marxistische Wirtschaftstheorie [1962; dt. Ffm.: Suhrkamp 1968] – einer m.E. eher bleiernen Arbeit -, sondern mit seinem 1967 erschienenen Buch Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx [dt. Ffm.: EVA 1968]. Dieses Buch war tatsächlich eine Polemik gegen Althussers "strukturalistischen Marxismus" und zeigte, wie wichtig dialektisches Denken ist, um die Funktionsweise der "verallgemeinerten Warenproduktion" zu verstehen.

Sein Meisterwerk Spätkapitalismus war die gründlichste, von einem Marxisten vorgenommene Analyse der Dynamik des Keynsianischen Wohlfahrtsstaat-Modells des Kapitalismus und der Gründe dafür, warum der Keynesianismus den grundlegenden Widersprüchen und unvermeidlichen Krisen des Kapitalismus nicht würde standhalten können.

Wir sollten uns daran erinnern, dass dieses Buch 1970 geschrieben wurde. Wenn einiges darin heute veraltet ist, dann liegt das daran, dass das Buch im wesentlichen Recht hatte und der Keynesianismus in der Zwischenzeit gescheitert ist. Was in diesem Buch nicht veraltet ist (und vieles darin ist als theoretisches Modell von hoher Relevanz), ist das Konzept der "langen Wellen" der kapitalistischen Entwicklung. An den Ideen von Kondratieff anknüpfend, entwickelte Mandel ein Paradigma, das nicht einfach noch ein weiteres Modell sein sollte, sondern sehr hohe Bedeutung für das Verständnis der stürmischen Entwicklung der Nachkriegsgeschichte hatte und es möglich machte, den Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus und dem Klassenkampf genau zu verorten. Gibt es einen Zweifel daran, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg eine "lange Welle" kapitalistischer Expansion gegeben hat? Oder daran, dass der Neoliberalismus für eine andere "lange Welle" steht? Das Konzept der langen Wellen hilft uns in jedem Fall dabei, die langen Perioden der kapitalistischen Zivilisation zu begreifen, mit weitreichenden Implikationen für Politik und Ideologie. Deshalb war es auch als theoretisches Modell anregend für einen Kritiker wie Fredric Jameson, der versucht hat, die Entwicklung der Postmoderne als Ideologie des "Spätkapitalismus" zu skizzieren.

Nicht erwähnt bei Stutje ist Mandels Aufsatzsammlung aus dem Jahr 1975 The Second Slump [dt. zs. mit W. Wolf, Ende der Krise oder Krise ohne Ende? Bilanz der Weltwirtschaftsrezession und der Krise in der Bundesrepublik, Berlin: Wagenbach 1977]. Mandel konnte hier die in seinem Spätkapitalismus entwickelten Ideen nutzen, um herauszufinden, wie die Wirtschaftskrise der siebziger Jahre historisch einzuordnen war und welche politischen Implikationen sie nach sich zog.

Mit seinen ökonomischen Theorien ergänzte Mandel seine politische Arbeit in der Vierten Internationale. Es ist weithin bekannt, dass sich seine Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie [dt. Ffm.: Verlag Neue Kritik 1967] in mehreren Ländern und Sprachen hunderttausendfach verkaufte. Dies trug zweifellos dazu bei, Tausende von jungen Aktivisten für den Marxismus zu gewinnen. Diese ökonomischen Schriften halfen dabei, der gesamten revolutionären Linken das – immer wichtige - instinktive Gefühl zu geben, dass nur der Marxismus die zeitgenössische Welt erklären könne und dass die Marxisten, und insbesondere die Vierte Internationale, bei der theoretischen Analyse allen anderen um Längen voraus waren – viel, viel weiter als die Sozialdemokraten, die Liberalen, der theoretisch längst tote Stalinismus oder die ideologische Rechte. Dieses Gefühl war von Beginn der achtziger Jahre an nicht mehr so leicht zu haben – dazu im weiteren mehr.

Aber Mandel leistete auf theoretischem Gebiet mehr als das. Seine Schriften, oft in Form von Aufsätze, langen Artikeln für Zeitschriften oder Interviews, trugen dazu bei, dass die neue Generation militanter Linker Anschluss an die besten Traditionen der europäischen Arbeiterbewegung vor dem Weltkrieg fand. Mandel half dabei, die Beiträge von Rosa Luxemburg, von Lenin und Trotzki theoretisch einzuordnen, wenn er auch nie etwas Substantielles über Gramsci schrieb. Mit anderen Worten, er trug dazu bei, dass die Größe und die außerordentlichen theoretischen Errungenschaften der Aktivisten der kommunistischen Bewegung aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg wiederentdeckt und gebührend gewürdigt wurden, einer Generation von Aktivisten, von deren Ideen die revolutionäre Linke noch heute geprägt ist und deren Stärken und Leistungen in Perry Andersons Über den westlichen Marxismus gut erklärt werden.

Nun kommen wir zur Politik. Stutjes Buch hat einige bedeutende Lücken. Nichts findet sich über die Herausbildung der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores; PT) in Brasilien, über die entscheidende Rolle, die Mitglieder der Vierten Internationale hier spielten, und über die Debatten darüber; oder tatsächlich über das schließliche Scheitern des PT-Experiments und die Bilanz, die hieraus zu ziehen ist - das ist besonders verwunderlich, wo Stutje doch behauptet, Mandel habe nie eine Theorie der Partei entwickelt. Die mexikanische PRT (Partido Revolucionario de los Trabajadores), einst die größte Sektion der Vierten Internationale, wird beiläufig gerade einmal in einer Fußnote erwähnt, dabei wäre auch deren Krise und deren Scheitern, und das, was das für die Vierte Internationale und ihre politischen Methoden bedeutete, eine ernste Diskussion wert gewesen.

Vielleicht sogar noch verblüffender: Der lange Kampf mit der US-amerikanischen Socialist Workers Party (SWP) in den achtziger Jahren kommt im Buch nicht vor. Dieser Kampf war grundlegend, denn in ihm ging es um eine Bestandsanalyse der marxistischen Bewegung in der heutigen Zeit, um die Theorie der permanenten Revolution und um die Rolle der Vierten Internationale. Auch kein Wort zu dem, was aus der früher bedeutenden spanischen Sektion wurde, oder, als Kontrast, zu den außerordentlichen Erfolgen der portugiesischen revolutionären Marxisten bei der Bildung des Linksblocks (Bloco de Esquerda), der zuletzt bei den Europaparlaments-Wahlen mehr als 10% der Stimmen gewonnen hat und nun drei Abgeordnete ins Europäische Parlament schickt.

Erstaunlicherweise gibt es dafür Seiten um Seiten über das Psychodrama, das sich Mitte der achtziger Jahre in der Führung der Vierten Internationale über die Frage ihrer Polen-Arbeit entwickelte. Das, behauptet Stutje, beschädigte Mandels Reputation in einem Maße, dass sie sich "nie mehr davon erholte". Das ist Unsinn. Den meisten Menschen, die Mandel kannten oder etwas von ihm wussten, war diese Episode, bei der er außerdem nicht einmal ein zentraler Akteur war, völlig unbekannt.

Will man Mandels politische Leistung ermessen, so muss man mit den Erfolgen (und Erfolge waren es vor allem) des Führungsteams der Vierten Internationale um Mandel, Pierre Frank und Livio Maitan in den fünfziger und sechziger Jahren anfangen. Ihr Erfolg, der einsetzte, als sie erst einmal mit dem schillernden, launenhaften Pablo (Michel Raptis) gebrochen hatten, lag in der Orientierung an drei grundlegenden politischen Optionen, gebündelt durch eine Methode. Erstens, im Gegensatz zu ihren sektiererischen Gegnern, einer offenen Haltung gegenüber der Kolonialrevolution, die sie die Bedeutung des algerischen Unabhängigkeitskampfes erkennen ließ, die dazu führte, dass sie die kubanische Revolution willkommenheißen und feiern konnten und die sie befähigte, über Jahre hinweg vorausschauend zu merken, dass Vietnam ins Zentrum der Weltpolitik rücken würde. Zweitens hielten sie entschieden an der Vorstellung fest, dass der Stalinismus in die Krise geraten würde. Und drittens die Auffassung, dass es in den ökonomisch fortgeschrittenen Ländern zu einer Krise kommen werde, die der damals isolierten Linken neue Möglichkeiten eröffne.

Politisch hielt dieses Führungsteam entschieden an einer nicht-sektiererischen Herangehensweise fest und bemühte sich stets, die Verbindung mit den Linksentwicklungen in der europäischen Arbeiterbewegung zu halten – und viele gab es davon damals nicht. Dies führte zu einem überlangen Experiment des Entrismus in den Massenparteien der Arbeiterbewegung, was die Hinwendung zur neu aufkommenden Studenten- und Antikriegsbewegung, der "Jugendradikalisierung", erschwerte. In den meisten Fällen wurde diese Wende dennoch rechtzeitig vollzogen. Und es war natürlich die Haltung zu Kuba und Vietnam und die entscheidende Rolle, die Sektionen der Vierten Internationale in der Vietnam-Solidaritätsbewegung spielten, die es diesen ermöglichte erhebliche Zugewinne in jenem Milieu zu machen, Zugewinne, die zur Bildung neuer Sektionen der Internationale führten oder zum Wachstum der bestehenden. Den größten Erfolg gab es in Frankreich, wo Mandel am Vorabend der Nacht der Barrikaden [im Mai 68] neben Schlüsselfiguren der revolutionären Jugend wie Dany Cohn-Bendit, Alain Krivine und Daniel Bensaid auf einem Meeting sprach.

Mandel mit Daniel Cohn-Bendit, Henri Weber, Daniel Bensaid,
Alain Krivine u.a. auf einem Meeting der JCR; Paris 9. Mai 1968

Bei der Versammlung "Für ein rotes Europa", die im November 1970 in Brüssel stattfand (und leider im Buch nicht erwähnt wird) feierten Tausende von jungen Aktivisten aus allen Ecken des Kontinents die Wiederkunft der Vierten Internationale; viele von ihnen reckten bei der Abschlusskundgebung vier ausgestreckte Finger statt der geballten Faust. "Construisons la Quatrième Internationale!" hieß es in der nächsten Ausgabe von Rouge, der Zeitung der Ligue Communiste. Wie bei Stutje detailreich geschildert, wurde diese euphorische Stimmung bestärkt durch die von der Ligue Communiste und der Vierten Internationale organisierte Demonstration anlässlich des 100. Jahrestags der Pariser Kommune 1971, an der vielleicht 25 000 Menschen teilnahmen und bei der Mandel der Hauptredner war.

In den siebziger Jahren ist die Vierte Internationale erheblich gewachsen, aber – und darin hat Stutje vollkommen Recht – Ende des Jahrzehnts stand sie vor großen neuen Problemen. Die neuen Probleme waren doppelter Natur. Erstens, wie konnten vor allem junge Organisationen so gefestigt werden, dass sie zu einer auf lange Sicht angelegten Intervention in der Arbeiterbewegung in der Lage waren, und zweitens, grundlegender, das Einsetzen der kapitalistischen Gegenoffensive weltweit und der Umschwung nach rechts.

Aus diesen Problemen, deren Hauptursache in Niederlagen der Arbeiterbewegung und am Ende dem Zusammenbruch der Sowjetunion lag, erwuchsen für die Vierte Internationale organisatorische Stagnation und interne Krise. Dabei wurden einige von Mandels Schwächen deutlich und Stutje gibt zu all dem auch treffende, bissige Kommentare ab.

An der organisatorischen Front gab es den Zusammenbruch der "Führung aller Talente", der Konzentration führender Mitglieder aus der ganzen Welt in Paris, in einem einzigen übergreifenden "Büro", das politisch von Mandel und Charles-André Udry geleitet wurde. Stutje zitiert ein Mitglied des Büros, Daniel Bensaid, mit der Bemerkung, dieses Projekt habe von "größenwahnsinnigen Ambitionen" gezeugt. Es handelte sich um eine Gruppe von Generälen ohne Armee, in der Lage, Analysen von hoher Qualität vorzunehmen, aber nicht dazu, die Sektionen der Vierten Internationale zu leiten, geschweige denn die Weltrevolution.

Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit führte zu einem langanhaltenden, in der Hauptsache erfolgreichen Versuch, die Rolle der Vierten Internationale auf bescheidenere Art neu zu definieren, nicht länger als „die Weltpartei der sozialistischen Revolution“, sondern als eine Abteilung der Bewegung für die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft.

Bedeutender aber war, und auch hier hat Stutje wieder Recht, die Rechtswende und die Schwierigkeit, Revolutionär zu sein in einer Welt, die für die Revolution wenig Zeit ließ. Mandel sperrte sich lange gegen die Einsicht in die Notwendigkeit einer Neudefinition, aber das taten damals Viele.

Stutje sieht bei Mandel eine fortwährende Unfähigkeit, sich gegen Menschen durchzusetzen, die er als Verbündete schätzte - aus Furcht, mit ihnen zu brechen. Meines Erachtens ist da etwas dran, aber man muss das doch relativieren. Eine internationale revolutionäre Strömung politisch zu führen, ist eine komplexe, anspruchsvolle Sache und Kompromisse sind dabei unvermeidlich. Wir haben zum Beispiel gerade erst erlebt, wie leichtfertig die britische Socialist Workers Party 2002 über vollkommen zweitrangige Fragen mit ihren US-amerikanischen Genossinnen und Genossen gebrochen hat – ein Akt der Dummheit, mit dem sie sich nur selbst geschadet hat. Mandel tat gut daran, so etwas möglichst zu vermeiden.

Stutjes Behauptung, dass Mandel sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre viel zu sehr auf die Guerillakrieg-Orientierung in Lateinamerika einließ, weil er mit der jungen, linksradikalen Führung der französischen Sektion nicht brechen wollte, hat hingegen wahrscheinlich Gewicht. Das hatte negative Auswirkungen, die bis Mitte der achtziger Jahre spürbar blieben. Der in den siebziger Jahren von Charles-André Udry in die Wege geleitete Kompromiss mit der US-amerikanischen SWP, der schließlich die desaströse „Wende zur Industrie“ mit beinhaltete, wurde von Mandel gedeckt, obwohl er hier erhebliche Zweifel gehabt haben muss.

Mandel war unwillig, mit Leuten zu brechen, die er für bedeutende Intellektuelle hielt. Als beispielsweise der sich nach rechts entwickelnde Ken Coates 1967 aus der britischen Sektion ausgeschlossen wurde, sprach Mandel von einer “Spaltung” der Organisation und hielt seinen persönlichen Kontakt zu Coates aufrecht. Ernest war der Meinung, man könne in keinem Land etwas Ernsthaftes aufbauen, ohne einen Teil der bedeutenden marxistischen Intellektuellen zu gewinnen. Er konnte sein persönliches Prestige nutzen, um ein weites Netz an persönlichen Kontakten zu knüpfen, machte sich aber oft Illusionen über Leute, die ihn intellektuell beeindruckten, und übertrieb gelegentlich maßlos in der Möglichkeit, diese für die Organisation zu rekrutieren. Andererseits setzte ihn sein persönliches Prestige in die Lage, außerhalb des formalen Rahmens der Internationale einige sehr positive Initiativen zu ergreifen. Der Versuch, den er in den Sechzigern machte, Rudi Dutschke und einen Teil der SDS-Führung zu gewinnen, war absolut richtig; die deutsche Sektion, die [im Rahmen ihrer "entristischen" Orientierung] in der Sozialdemokratie feststeckte, war dazu nicht in der Lage. Die Beziehungen, die er zu Perry Anderson unterhielt, führten zu sehr guten Ergebnissen, sowohl für die New Left Review als auch für die Vierte Internationale. Dasselbe gilt für eine ganze Reihe von Fällen, in denen er mit marxistischen Intellektuellen aus allen Teilen der Welt in intellektuellen Austausch trat - jenseits jedes Versuchs, sie für die Internationale zu rekrutieren.

Stutje hält sich lange an Mandels wachsender Frustration über die Wende auf, die die Ereignisse auf internationaler Ebene nahmen, und an seiner Weigerung, die Möglichkeit einer kapitalistischen Restauration in Russland und der Sowjetunion ins Auge zu fassen – eine schockierende Weigerung, die Realität anzuerkennen. Hier geht es indes nicht um starrsinnigen Optimismus eines alten Mannes, sondern um theoretische Schwächen.

Ernest hielt, wenn über den Stalinismus diskutiert wurde, stur an einem sehr dogmatischen und unnötigen Schematismus fest. Er definierte den Stalinismus zum Beispiel als Unterordnung unter die sowjetische Bürokratie, ohne anzuerkennen, dass das chinesische Regime und sogar das vietnamesische – um es milde auszudrücken – bedeutende Gemeinsamkeiten mit dem osteuropäischen und russischen Stalinismus aufwiesen. Hier wurde gesellschaftliche Wirklichkeit einer Definition untergeordnet.

Was die Sowjetunion anbetrifft, hielt er mechanisch an der Auffassung fest, dass es dort eine tripolare Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse, der Bürokratie und dem sich entwickelnden Kapitalismus gebe, und daran, dass die Bürokratie den Kapitalismus aus reinem Selbstinteresse unweigerlich bekämpfen würde. Die Möglichkeit, dass bedeutende Sektoren der Bürokratie ein Recycling durchmachen und sich in ein Schlüsselelement einer neuen kapitalistischen Klasse verwandeln würden, wurde ausgeschlossen – weil das nicht in die Theorie passte.

Eine der interessantesten Bemerkungen, die Stutje macht, ist die, dass Mandel nie eine Theorie der Partei entwickelte, abgesehen von der in den frühen Siebzigern erschienenen [und in einige andere Sprachen übersetzten] Broschüre The Leninist Theory of Organisation, die tatsächlich, wie der Autor schreibt, eine Theorie des proletarischen Klassenbewustseins enthält, nicht eine der Parteiorganisation. Das soll nicht heissen, die meisten Sektionen der Vierten Internationale hätten nicht ziemlich genaue Vorstellungen von Parteiorganisation gehabt, die auch – zumindest in den siebziger Jahren und bis in die achtziger - ziemlich rigide waren. Seit dieser Zeit ist darüber viel neu nachgedacht worden; einige der wichtigsten Überlegungen finden sich in dem neuen Buch von Daniel Bensaid, das demnächst bei Resistance Books herauskommen wird.

Viele Diskussionen darüber drehen sich um die Relevanz des Lenin zugeschriebenen Parteimodells für die heutige Zeit. Stimmt es aber überhaupt, dass Lenin ein festgefügtes Konzept der Parteiorganisation hatte? Das ist eine lange Debatte, aber mir scheint, dass Lenin, was organisatorische Formen angeht, ein äußerster Pragmatiker war. Wie dem auch sei, Ernests "Versäumnis", eine Parteitheorie zu entwickeln, ist in Wahrheit gar kein Versäumnis, weil es wahrscheinlich in der Zeit, in der er aktiv war, unmöglich war, eine solche Theorie zu entwickeln. Ich vermute, dass es angesichts der unterschiedlichen Umstände, mit denen wir es heute zu tun haben, und angesichts von Erfahrungen wie denen der Neuen Antikapitalistischen Partei in Frankreich oder des Linksblocks in Portugal, nicht möglich ist, eine allgemeine Theorie der Partei zu entwickeln oder auch nur irgend ein allgemeines Modell. Natürlich müssen wir die Parteiform gegen den Anarchismus verteidigen und sicherstellen, dass Marxisten sich organisieren. Darüber hinaus, was? Das kommt eben darauf an.

Ich habe diese Rezension mit der Bemerkung begonnen, dass Menschen nicht außerhalb ihrer Zeit und ihrer Umstände beurteilt werden können. Leider haben historische Rythmen keinen Respekt vor individuellen Biographien. Man tut, was man kann mit den Mitteln, die man hat, in der Zeit, in der man lebt.

Um noch einmal Mao Zedong zu zitieren, in tausend Jahren sehen wir alle ziemlich lächerlich aus. Wie auch immer das abschließende Urteil über Ernest Mandel ausfallen wird, ein anderer Ernest Mandel ist nicht möglich. Der Gesamtumfang des menschlichen Wissens, sogar des Allgemeinwissen (von den wissenschaftlichen Erkenntnissen hier ganz zu schweigen) lässt es ausgeschlossen erscheinen, dass ein einzelner Mensch die wichtigsten Aspekte dieses Wissens für die revolutionäre Praxis synthetisiert. Führungsteams, und damit jede Menge politische und theoretische Meinungsverschiedenheiten, sind der einzige Weg, kämpferische linke Organisationen zu entwickeln. Die Zeiten, in denen internationale Strömungen vom Denken eines Einzelnen dominiert werden konnten, sind vorbei. Das war schon in Mandels späten Jahren absehbar, als die akkumulierten Errungenschaften des "Mandelschen Denkens" nicht ausreichten, um eine Reihe neuer Entwicklungen, wie etwa die Umweltkrise, zu erklären und eine intelligente marxistische Antwort darauf zu entwickeln.

Mein abschließendes Urteil über Stutjes Buch ist, dass es sich zu lange an den Enttäuschungen der letzten Lebensjahre Mandels aufhält, an dem Polen-Unsinn und sich zu sehr mit seinem Privatleben befasst. Ernest Mandel spielte eine Schlüsselrolle dabei, neue Generationen mit dem revolutionären Erbe der Vorkriegszeit vertraut zu machen, den guten Ruf des authentischen Marxismus' nach Jahrzehnten stalinistischer Zerrbilder wiederherzustellen, der revolutionär-marxistischen Bewegung, die in den fünfziger Jahren kurz vor dem Absterben stand, zu neuem Leben zu verhelfen und diese Bewegung auf die unvermeidliche Krise des Kapitalismus vorzubereiten. Um das anzuerkennen, muss man keine Hagiographie schreiben. Mandels politische "Kinder", Leute, wie man sie heute in der Führung marxistischer Organisationen wie der Neuen Antikapitalistischen Partei in Frankreich findet, dem Linksblock in Portugal, Sinistra Critica in Italien und der PSOL in Brasilien, und wie sie auf der ganzen Welt vielfältig politisch aktiv oder in theoretische Arbeit involviert sind, stellen ein beeindruckendes Aufgebot an Talenten dar, das Ernest Mandels revolutionäres Engagement lebendig erhält und, ohne die Illusionen, fortsetzt.


* Phil Hearse ist Redakteur von http://www.marxsite.com/ und langjähriges Mitglied der britischen Sektion der Vierten Internationale.


(Aus dem Englischen von Horst Lauscher)