Jan
Willem Stutje hat mit dem Verfassen dieser Biographie
eine enorme Aufgabe auf sich genommen –
und wahrscheinlich eine unmögliche. Ernest
Mandel gerecht zu werden, ihn zu bewerten, heißt,
die revolutionäre Linke der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts zu bewerten, was wiederum
heißt, die Entwicklungstendenz der Weltpolitik
in ihrer Gesamtheit zu beurteilen.
Mandel
verfügte über eine solche Fülle
von Kontakten und Interessen, dass es extrem
schwer ist, den Wald von den Bäumen zu
unterscheiden und zu erkennen, was wichtig ist
und was zweitrangig oder gar Klatsch und Tratsch.
Hinzu kommt, dass Ernest mit so vielen Menschenleben
in Berührung kam und so viele Leute beeinflusste,
dass gewiss viele Leser dieser Biographie ihre
eigene Version von Ernest Mandel haben und Meinungen
vertreten und über Erinnerungen verfügen,
die mit einigem, was das Buch sagt, kontrastieren.
Für
oder gegen Ernest Mandel zu sein war ja tatsächlich
für Viele in der trotzkistischen Bewegung
Teil ihrer Identität; die Militant–Leute
und ihre Nachfolger sprachen [in Großbritannien]
von der Vierten Internationale stets als [engl.]
"Mandelites" (und sie tun das heute
noch), während unter den englischsprachigen
Anhängern von Mandels politischer Richtung
sich einige – nur halbwegs im Scherz –
als [span.] "Mandelistas" bezeichneten.
Mao
Zedong soll auf die Frage nach seiner Bewertung
der Französischen Revolution gesagt haben,
dafür sei es noch ein wenig zu früh.
Und vielleicht ist es einfach noch zu früh,
um eine ausgewogene Mandel-Biographie zu schreiben,
denn das impliziert ja, dass man – das
ist vielleicht das zentrale Thema dieses Buchs
– eine Bewertung von Mandels ewigem "Optimismus"
vornimmt und seiner letztendlichen Erbitterung
angesichts der Wende der Ereignisse in Osteuropa
und des Aufkommens des Neoliberalismus, mit
anderen Worten, eine Bewertung der Aussichten
des Sozialismus in für uns absehbarer Zukunft.
Jan
Willem Stutje hat den Versuch gewagt, Erzählung
und Analyse zu verknüpfen und uns ein Bild
von Mandels Persönlichkeit und seinem privaten
Leben wie von seinen theoretischen Leistungen
und politischen Erfolgen und Misserfolgen zu
geben - und das ist ihm in vielerlei Hinsicht
gelungen. Stutje hat mit vielen Menschen gesprochen
und er war der erste, der Zugang zu Mandels
Archiv hatte. Mandel war ein überaus produktiver
Korrespondent und konnte an einem Abend 'mal
eben so ein halbes Dutzend Briefe von der Länge
einer ganzen Abhandlung schreiben. Die Korrespondenz,
aus der zitiert wird, z.B. der Briefwechsel
mit Perry Anderson, ist teilweise sehr erhellend.
Im Zeitalter der E-Mail ist das eine Quelle,
die künftigen Biographen wahrscheinlich
nur noch dann zugänglich sein wird, wenn
sie sehr gute Beziehungen zu den Geheimdiensten
haben.
Dies
ist also ein ernstzunehmendes, mit Informationen
über Mandels Leben vollgepacktes Buch,
das Linke auf der ganzen Welt interessant finden
werden. Letzten Endes ist es aber, meiner Meinung
nach, unausgewogen und räumt, bei aller
Berechtigung mancher Kritik im Einzelnen, insgesamt
gesehen Mandels außergewöhnlichen
Fähigkeiten und Leistungen nicht den gebührenden
Platz ein.
Jeder
Mensch ist ein Produkt seiner Zeit und was er
aus seinem Leben macht, hängt nicht nur
von seinen eigenen Fähigkeiten und seinem
Charakter ab, sondern auch von den Umständen,
in denen er lebt. Wie Marx sagte: “Die
Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber
sie machen sie nicht unter Umständen, die
sie selbst gewählt haben." Für
Revolutionäre umfassen diese Umstände
auch die überlieferten theoretischen und
politischen Konzepte, mit denen sie arbeiten
oder die zu modifizieren sie versuchen müssen.
Mandel
zu bewerten heißt sich anzusehen, was
er erreicht hat, und an dem zu messen, was er
hätte erreichen können. So gesehen
erweisen sich Ernest Mandels Leistungen als
außerordentlich. Seine Schwächen
sind oft die Schwächen der aus dem Kampf
der Linken Opposition gegen den Stalinismus
hervorgegangenen Bewegung (der "trotzkistischen"
Bewegung) überhaupt. Zunächst aber
ein kurzer Schlenker zu Mandels Privatleben,
über das das Buch viele Worte verliert,
vielleicht zu viele.
Ernests
Schwierigkeiten beim Versuch, seinen privaten
Beziehungen zu Frauen Stabilität zu geben,
insbesondere die Probleme seines Liebeslebens,
nehmen in Stutjes Buch breiten Raum ein. Die
seelische Krankheit und der Suizid seiner Partnerin
Gisela Scholtz werden ausführlich behandelt,
auch Mandels Unfähigkeit, ihr zu helfen.
Dass er der politischen Arbeit immer Vorrang
vor dem Privatleben einräumte, hat in diesem
Zusammenhang gewiss eine Rolle gespielt. Eine
Beziehung mit jemandem wie Ernest Mandel zu
haben, wäre aber in jedem Fall außerordentlich
schwierig gewesen. Ein führender Revolutionär
zu sein, bedeutet immer, dass man sein Privatleben
enormen Belastungen aussetzt.
Stutje
leitet daraus gleich eine ganze Theorie ab,
und behauptet, Mandels emotionale Entwicklung
sei in seiner Pubertät unterbrochen worden,
was ihn zu wirklich intimen Beziehungen unfähig
gemacht habe. Hier versucht sich der Biograph
als Psychoanalytiker, hier leitet er unnötigerweise
aus Tatsachen Vermutungen ab. Isaac Deutscher
ist es im Unterschied hierzu in seiner Trotzki-Biographie
gelungen, das Privatleben seines Protagonisten
auf anrührende Weise in seine Geschichte
aufzunehmen, ohne sich auf Vulgärpsychologie
herabzulassen.
Erheblicher
ist aber, dass das Buch, das sich einige von
Mandels politischen und theoretischen Schwächen
auf treffende Weise vornimmt, meiner Meinung
nach seine außerordentlichen Leistungen
nicht ausreichend würdigt. Hinzu kommt,
dass in der Behandlung der politischen Debatten
und Aktivitäten der Vierten Internationale
einige der wichtigsten ausgelassen werden und
zweitrangigen oder schlicht irrelevanten Dingen
unangemessen viel Raum eingeräumt wird.
Zunächst
zu Mandels theoretischen Leistungen, die im
Buch erwähnt, aber unzureichend gewürdigt
werden. Ohne Frage liegt seine bleibende theoretische
Leistung darin, dass er eine Analyse der Dynamik
des modernen Kapitalismus und seiner bevorstehenden
Krise vornehmen konnte und bei deren Ausarbeitung
einige der grundlegenden Marxschen Konzepte
wieder ausgegraben hat. Hierbei, das ist richtig,
zehrte er von der Arbeit von Roman Rosdolsky
und den Diskussionen mit ihm, der mit seinem
bahnbrechenden Buch über Marxens Grundrisse
(Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen "Kapital"
[dt. Ffm.: Europäische Verlagsanstalt 1968])
einiges an Vorabeit für Mandels Spätkapitalismus
[Ffm.: Suhrkamp 1972] geleistet hat. Neue theoretische
Einsichten entspringen ja überhaupt selten
vollkommen ausgereift dem Gehirn eines einzigen
Menschen.
Angekündigt
wurde dieses "neue" theoretische Paradigma
nicht wirklich mit seinem ersten theoretischen
Buch Marxistische Wirtschaftstheorie [1962;
dt. Ffm.: Suhrkamp 1968] – einer m.E.
eher bleiernen Arbeit -, sondern mit seinem
1967 erschienenen Buch Entstehung und Entwicklung
der ökonomischen Lehre von Karl Marx [dt.
Ffm.: EVA 1968]. Dieses Buch war tatsächlich
eine Polemik gegen Althussers "strukturalistischen
Marxismus" und zeigte, wie wichtig dialektisches
Denken ist, um die Funktionsweise der "verallgemeinerten
Warenproduktion" zu verstehen.
Sein
Meisterwerk Spätkapitalismus war die gründlichste,
von einem Marxisten vorgenommene Analyse der
Dynamik des Keynsianischen Wohlfahrtsstaat-Modells
des Kapitalismus und der Gründe dafür,
warum der Keynesianismus den grundlegenden Widersprüchen
und unvermeidlichen Krisen des Kapitalismus
nicht würde standhalten können.
Wir
sollten uns daran erinnern, dass dieses Buch
1970 geschrieben wurde. Wenn einiges darin heute
veraltet ist, dann liegt das daran, dass das
Buch im wesentlichen Recht hatte und der Keynesianismus
in der Zwischenzeit gescheitert ist. Was in
diesem Buch nicht veraltet ist (und vieles darin
ist als theoretisches Modell von hoher Relevanz),
ist das Konzept der "langen Wellen"
der kapitalistischen Entwicklung. An den Ideen
von Kondratieff anknüpfend, entwickelte
Mandel ein Paradigma, das nicht einfach noch
ein weiteres Modell sein sollte, sondern sehr
hohe Bedeutung für das Verständnis
der stürmischen Entwicklung der Nachkriegsgeschichte
hatte und es möglich machte, den Zusammenhang
zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung des
Kapitalismus und dem Klassenkampf genau zu verorten.
Gibt es einen Zweifel daran, dass es nach dem
Zweiten Weltkrieg eine "lange Welle"
kapitalistischer Expansion gegeben hat? Oder
daran, dass der Neoliberalismus für eine
andere "lange Welle" steht? Das Konzept
der langen Wellen hilft uns in jedem Fall dabei,
die langen Perioden der kapitalistischen Zivilisation
zu begreifen, mit weitreichenden Implikationen
für Politik und Ideologie. Deshalb war
es auch als theoretisches Modell anregend für
einen Kritiker wie Fredric Jameson, der versucht
hat, die Entwicklung der Postmoderne als Ideologie
des "Spätkapitalismus" zu skizzieren.
Nicht
erwähnt bei Stutje ist Mandels Aufsatzsammlung
aus dem Jahr 1975 The Second Slump [dt. zs.
mit W. Wolf, Ende der Krise oder Krise ohne
Ende? Bilanz der Weltwirtschaftsrezession und
der Krise in der Bundesrepublik, Berlin: Wagenbach
1977]. Mandel konnte hier die in seinem Spätkapitalismus
entwickelten Ideen nutzen, um herauszufinden,
wie die Wirtschaftskrise der siebziger Jahre
historisch einzuordnen war und welche politischen
Implikationen sie nach sich zog.
Mit
seinen ökonomischen Theorien ergänzte
Mandel seine politische Arbeit in der Vierten
Internationale. Es ist weithin bekannt, dass
sich seine Einführung in die marxistische
Wirtschaftstheorie [dt. Ffm.: Verlag Neue Kritik
1967] in mehreren Ländern und Sprachen
hunderttausendfach verkaufte. Dies trug zweifellos
dazu bei, Tausende von jungen Aktivisten für
den Marxismus zu gewinnen. Diese ökonomischen
Schriften halfen dabei, der gesamten revolutionären
Linken das – immer wichtige - instinktive
Gefühl zu geben, dass nur der Marxismus
die zeitgenössische Welt erklären
könne und dass die Marxisten, und insbesondere
die Vierte Internationale, bei der theoretischen
Analyse allen anderen um Längen voraus
waren – viel, viel weiter als die Sozialdemokraten,
die Liberalen, der theoretisch längst tote
Stalinismus oder die ideologische Rechte. Dieses
Gefühl war von Beginn der achtziger Jahre
an nicht mehr so leicht zu haben – dazu
im weiteren mehr.
Aber
Mandel leistete auf theoretischem Gebiet mehr
als das. Seine Schriften, oft in Form von Aufsätze,
langen Artikeln für Zeitschriften oder
Interviews, trugen dazu bei, dass die neue Generation
militanter Linker Anschluss an die besten Traditionen
der europäischen Arbeiterbewegung vor dem
Weltkrieg fand. Mandel half dabei, die Beiträge
von Rosa Luxemburg, von Lenin und Trotzki theoretisch
einzuordnen, wenn er auch nie etwas Substantielles
über Gramsci schrieb. Mit anderen Worten,
er trug dazu bei, dass die Größe
und die außerordentlichen theoretischen
Errungenschaften der Aktivisten der kommunistischen
Bewegung aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg
wiederentdeckt und gebührend gewürdigt
wurden, einer Generation von Aktivisten, von
deren Ideen die revolutionäre Linke noch
heute geprägt ist und deren Stärken
und Leistungen in Perry Andersons Über
den westlichen Marxismus gut erklärt werden.
Nun
kommen wir zur Politik. Stutjes Buch hat einige
bedeutende Lücken. Nichts findet sich über
die Herausbildung der Arbeiterpartei (Partido
dos Trabalhadores; PT) in Brasilien, über
die entscheidende Rolle, die Mitglieder der
Vierten Internationale hier spielten, und über
die Debatten darüber; oder tatsächlich
über das schließliche Scheitern des
PT-Experiments und die Bilanz, die hieraus zu
ziehen ist - das ist besonders verwunderlich,
wo Stutje doch behauptet, Mandel habe nie eine
Theorie der Partei entwickelt. Die mexikanische
PRT (Partido Revolucionario de los Trabajadores),
einst die größte Sektion der Vierten
Internationale, wird beiläufig gerade einmal
in einer Fußnote erwähnt, dabei wäre
auch deren Krise und deren Scheitern, und das,
was das für die Vierte Internationale und
ihre politischen Methoden bedeutete, eine ernste
Diskussion wert gewesen.
Vielleicht
sogar noch verblüffender: Der lange Kampf
mit der US-amerikanischen Socialist Workers
Party (SWP) in den achtziger Jahren kommt im
Buch nicht vor. Dieser Kampf war grundlegend,
denn in ihm ging es um eine Bestandsanalyse
der marxistischen Bewegung in der heutigen Zeit,
um die Theorie der permanenten Revolution und
um die Rolle der Vierten Internationale. Auch
kein Wort zu dem, was aus der früher bedeutenden
spanischen Sektion wurde, oder, als Kontrast,
zu den außerordentlichen Erfolgen der
portugiesischen revolutionären Marxisten
bei der Bildung des Linksblocks (Bloco de Esquerda),
der zuletzt bei den Europaparlaments-Wahlen
mehr als 10% der Stimmen gewonnen hat und nun
drei Abgeordnete ins Europäische Parlament
schickt.
Erstaunlicherweise
gibt es dafür Seiten um Seiten über
das Psychodrama, das sich Mitte der achtziger
Jahre in der Führung der Vierten Internationale
über die Frage ihrer Polen-Arbeit entwickelte.
Das, behauptet Stutje, beschädigte Mandels
Reputation in einem Maße, dass sie sich
"nie mehr davon erholte". Das ist
Unsinn. Den meisten Menschen, die Mandel kannten
oder etwas von ihm wussten, war diese Episode,
bei der er außerdem nicht einmal ein zentraler
Akteur war, völlig unbekannt.
Will
man Mandels politische Leistung ermessen, so
muss man mit den Erfolgen (und Erfolge waren
es vor allem) des Führungsteams der Vierten
Internationale um Mandel, Pierre Frank und Livio
Maitan in den fünfziger und sechziger Jahren
anfangen. Ihr Erfolg, der einsetzte, als sie
erst einmal mit dem schillernden, launenhaften
Pablo (Michel Raptis) gebrochen hatten, lag
in der Orientierung an drei grundlegenden politischen
Optionen, gebündelt durch eine Methode.
Erstens, im Gegensatz zu ihren sektiererischen
Gegnern, einer offenen Haltung gegenüber
der Kolonialrevolution, die sie die Bedeutung
des algerischen Unabhängigkeitskampfes
erkennen ließ, die dazu führte, dass
sie die kubanische Revolution willkommenheißen
und feiern konnten und die sie befähigte,
über Jahre hinweg vorausschauend zu merken,
dass Vietnam ins Zentrum der Weltpolitik rücken
würde. Zweitens hielten sie entschieden
an der Vorstellung fest, dass der Stalinismus
in die Krise geraten würde. Und drittens
die Auffassung, dass es in den ökonomisch
fortgeschrittenen Ländern zu einer Krise
kommen werde, die der damals isolierten Linken
neue Möglichkeiten eröffne.
Politisch
hielt dieses Führungsteam entschieden an
einer nicht-sektiererischen Herangehensweise
fest und bemühte sich stets, die Verbindung
mit den Linksentwicklungen in der europäischen
Arbeiterbewegung zu halten – und viele
gab es davon damals nicht. Dies führte
zu einem überlangen Experiment des Entrismus
in den Massenparteien der Arbeiterbewegung,
was die Hinwendung zur neu aufkommenden Studenten-
und Antikriegsbewegung, der "Jugendradikalisierung",
erschwerte. In den meisten Fällen wurde
diese Wende dennoch rechtzeitig vollzogen. Und
es war natürlich die Haltung zu Kuba und
Vietnam und die entscheidende Rolle, die Sektionen
der Vierten Internationale in der Vietnam-Solidaritätsbewegung
spielten, die es diesen ermöglichte erhebliche
Zugewinne in jenem Milieu zu machen, Zugewinne,
die zur Bildung neuer Sektionen der Internationale
führten oder zum Wachstum der bestehenden.
Den größten Erfolg gab es in Frankreich,
wo Mandel am Vorabend der Nacht der Barrikaden
[im Mai 68] neben Schlüsselfiguren der
revolutionären Jugend wie Dany Cohn-Bendit,
Alain Krivine und Daniel Bensaid auf einem Meeting
sprach.
|
Mandel mit
Daniel Cohn-Bendit, Henri Weber, Daniel
Bensaid,
Alain Krivine u.a. auf einem Meeting der
JCR; Paris 9. Mai 1968
|
Bei
der Versammlung "Für ein rotes Europa",
die im November 1970 in Brüssel stattfand
(und leider im Buch nicht erwähnt wird)
feierten Tausende von jungen Aktivisten aus
allen Ecken des Kontinents die Wiederkunft der
Vierten Internationale; viele von ihnen reckten
bei der Abschlusskundgebung vier ausgestreckte
Finger statt der geballten Faust. "Construisons
la Quatrième Internationale!" hieß
es in der nächsten Ausgabe von Rouge, der
Zeitung der Ligue Communiste. Wie bei Stutje
detailreich geschildert, wurde diese euphorische
Stimmung bestärkt durch die von der Ligue
Communiste und der Vierten Internationale organisierte
Demonstration anlässlich des 100. Jahrestags
der Pariser Kommune 1971, an der vielleicht
25 000 Menschen teilnahmen und bei der Mandel
der Hauptredner war.
In
den siebziger Jahren ist die Vierte Internationale
erheblich gewachsen, aber – und darin
hat Stutje vollkommen Recht – Ende des
Jahrzehnts stand sie vor großen neuen
Problemen. Die neuen Probleme waren doppelter
Natur. Erstens, wie konnten vor allem junge
Organisationen so gefestigt werden, dass sie
zu einer auf lange Sicht angelegten Intervention
in der Arbeiterbewegung in der Lage waren, und
zweitens, grundlegender, das Einsetzen der kapitalistischen
Gegenoffensive weltweit und der Umschwung nach
rechts.
Aus
diesen Problemen, deren Hauptursache in Niederlagen
der Arbeiterbewegung und am Ende dem Zusammenbruch
der Sowjetunion lag, erwuchsen für die
Vierte Internationale organisatorische Stagnation
und interne Krise. Dabei wurden einige von Mandels
Schwächen deutlich und Stutje gibt zu all
dem auch treffende, bissige Kommentare ab.
An
der organisatorischen Front gab es den Zusammenbruch
der "Führung aller Talente",
der Konzentration führender Mitglieder
aus der ganzen Welt in Paris, in einem einzigen
übergreifenden "Büro", das
politisch von Mandel und Charles-André
Udry geleitet wurde. Stutje zitiert ein Mitglied
des Büros, Daniel Bensaid, mit der Bemerkung,
dieses Projekt habe von "größenwahnsinnigen
Ambitionen" gezeugt. Es handelte sich um
eine Gruppe von Generälen ohne Armee, in
der Lage, Analysen von hoher Qualität vorzunehmen,
aber nicht dazu, die Sektionen der Vierten Internationale
zu leiten, geschweige denn die Weltrevolution.
Die
Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit
führte zu einem langanhaltenden, in der
Hauptsache erfolgreichen Versuch, die Rolle
der Vierten Internationale auf bescheidenere
Art neu zu definieren, nicht länger als
„die Weltpartei der sozialistischen Revolution“,
sondern als eine Abteilung der Bewegung für
die revolutionäre Veränderung der
Gesellschaft.
Bedeutender
aber war, und auch hier hat Stutje wieder Recht,
die Rechtswende und die Schwierigkeit, Revolutionär
zu sein in einer Welt, die für die Revolution
wenig Zeit ließ. Mandel sperrte sich lange
gegen die Einsicht in die Notwendigkeit einer
Neudefinition, aber das taten damals Viele.
Stutje
sieht bei Mandel eine fortwährende Unfähigkeit,
sich gegen Menschen durchzusetzen, die er als
Verbündete schätzte - aus Furcht,
mit ihnen zu brechen. Meines Erachtens ist da
etwas dran, aber man muss das doch relativieren.
Eine internationale revolutionäre Strömung
politisch zu führen, ist eine komplexe,
anspruchsvolle Sache und Kompromisse sind dabei
unvermeidlich. Wir haben zum Beispiel gerade
erst erlebt, wie leichtfertig die britische
Socialist Workers Party 2002 über vollkommen
zweitrangige Fragen mit ihren US-amerikanischen
Genossinnen und Genossen gebrochen hat –
ein Akt der Dummheit, mit dem sie sich nur selbst
geschadet hat. Mandel tat gut daran, so etwas
möglichst zu vermeiden.
Stutjes
Behauptung, dass Mandel sich Ende der sechziger,
Anfang der siebziger Jahre viel zu sehr auf
die Guerillakrieg-Orientierung in Lateinamerika
einließ, weil er mit der jungen, linksradikalen
Führung der französischen Sektion
nicht brechen wollte, hat hingegen wahrscheinlich
Gewicht. Das hatte negative Auswirkungen, die
bis Mitte der achtziger Jahre spürbar blieben.
Der in den siebziger Jahren von Charles-André
Udry in die Wege geleitete Kompromiss mit der
US-amerikanischen SWP, der schließlich
die desaströse „Wende zur Industrie“
mit beinhaltete, wurde von Mandel gedeckt, obwohl
er hier erhebliche Zweifel gehabt haben muss.
Mandel
war unwillig, mit Leuten zu brechen, die er
für bedeutende Intellektuelle hielt. Als
beispielsweise der sich nach rechts entwickelnde
Ken Coates 1967 aus der britischen Sektion ausgeschlossen
wurde, sprach Mandel von einer “Spaltung”
der Organisation und hielt seinen persönlichen
Kontakt zu Coates aufrecht. Ernest war der Meinung,
man könne in keinem Land etwas Ernsthaftes
aufbauen, ohne einen Teil der bedeutenden marxistischen
Intellektuellen zu gewinnen. Er konnte sein
persönliches Prestige nutzen, um ein weites
Netz an persönlichen Kontakten zu knüpfen,
machte sich aber oft Illusionen über Leute,
die ihn intellektuell beeindruckten, und übertrieb
gelegentlich maßlos in der Möglichkeit,
diese für die Organisation zu rekrutieren.
Andererseits setzte ihn sein persönliches
Prestige in die Lage, außerhalb des formalen
Rahmens der Internationale einige sehr positive
Initiativen zu ergreifen. Der Versuch, den er
in den Sechzigern machte, Rudi Dutschke und
einen Teil der SDS-Führung zu gewinnen,
war absolut richtig; die deutsche Sektion, die
[im Rahmen ihrer "entristischen" Orientierung]
in der Sozialdemokratie feststeckte, war dazu
nicht in der Lage. Die Beziehungen, die er zu
Perry Anderson unterhielt, führten zu sehr
guten Ergebnissen, sowohl für die New Left
Review als auch für die Vierte Internationale.
Dasselbe gilt für eine ganze Reihe von
Fällen, in denen er mit marxistischen Intellektuellen
aus allen Teilen der Welt in intellektuellen
Austausch trat - jenseits jedes Versuchs, sie
für die Internationale zu rekrutieren.
Stutje
hält sich lange an Mandels wachsender Frustration
über die Wende auf, die die Ereignisse
auf internationaler Ebene nahmen, und an seiner
Weigerung, die Möglichkeit einer kapitalistischen
Restauration in Russland und der Sowjetunion
ins Auge zu fassen – eine schockierende
Weigerung, die Realität anzuerkennen. Hier
geht es indes nicht um starrsinnigen Optimismus
eines alten Mannes, sondern um theoretische
Schwächen.
Ernest
hielt, wenn über den Stalinismus diskutiert
wurde, stur an einem sehr dogmatischen und unnötigen
Schematismus fest. Er definierte den Stalinismus
zum Beispiel als Unterordnung unter die sowjetische
Bürokratie, ohne anzuerkennen, dass das
chinesische Regime und sogar das vietnamesische
– um es milde auszudrücken –
bedeutende Gemeinsamkeiten mit dem osteuropäischen
und russischen Stalinismus aufwiesen. Hier wurde
gesellschaftliche Wirklichkeit einer Definition
untergeordnet.
Was
die Sowjetunion anbetrifft, hielt er mechanisch
an der Auffassung fest, dass es dort eine tripolare
Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse,
der Bürokratie und dem sich entwickelnden
Kapitalismus gebe, und daran, dass die Bürokratie
den Kapitalismus aus reinem Selbstinteresse
unweigerlich bekämpfen würde. Die
Möglichkeit, dass bedeutende Sektoren der
Bürokratie ein Recycling durchmachen und
sich in ein Schlüsselelement einer neuen
kapitalistischen Klasse verwandeln würden,
wurde ausgeschlossen – weil das nicht
in die Theorie passte.
Eine
der interessantesten Bemerkungen, die Stutje
macht, ist die, dass Mandel nie eine Theorie
der Partei entwickelte, abgesehen von der in
den frühen Siebzigern erschienenen [und
in einige andere Sprachen übersetzten]
Broschüre The Leninist Theory of Organisation,
die tatsächlich, wie der Autor schreibt,
eine Theorie des proletarischen Klassenbewustseins
enthält, nicht eine der Parteiorganisation.
Das soll nicht heissen, die meisten Sektionen
der Vierten Internationale hätten nicht
ziemlich genaue Vorstellungen von Parteiorganisation
gehabt, die auch – zumindest in den siebziger
Jahren und bis in die achtziger - ziemlich rigide
waren. Seit dieser Zeit ist darüber viel
neu nachgedacht worden; einige der wichtigsten
Überlegungen finden sich in dem neuen Buch
von Daniel Bensaid, das demnächst bei Resistance
Books herauskommen wird.
Viele
Diskussionen darüber drehen sich um die
Relevanz des Lenin zugeschriebenen Parteimodells
für die heutige Zeit. Stimmt es aber überhaupt,
dass Lenin ein festgefügtes Konzept der
Parteiorganisation hatte? Das ist eine lange
Debatte, aber mir scheint, dass Lenin, was organisatorische
Formen angeht, ein äußerster Pragmatiker
war. Wie dem auch sei, Ernests "Versäumnis",
eine Parteitheorie zu entwickeln, ist in Wahrheit
gar kein Versäumnis, weil es wahrscheinlich
in der Zeit, in der er aktiv war, unmöglich
war, eine solche Theorie zu entwickeln. Ich
vermute, dass es angesichts der unterschiedlichen
Umstände, mit denen wir es heute zu tun
haben, und angesichts von Erfahrungen wie denen
der Neuen Antikapitalistischen Partei in Frankreich
oder des Linksblocks in Portugal, nicht möglich
ist, eine allgemeine Theorie der Partei zu entwickeln
oder auch nur irgend ein allgemeines Modell.
Natürlich müssen wir die Parteiform
gegen den Anarchismus verteidigen und sicherstellen,
dass Marxisten sich organisieren. Darüber
hinaus, was? Das kommt eben darauf an.
Ich
habe diese Rezension mit der Bemerkung begonnen,
dass Menschen nicht außerhalb ihrer Zeit
und ihrer Umstände beurteilt werden können.
Leider haben historische Rythmen keinen Respekt
vor individuellen Biographien. Man tut, was
man kann mit den Mitteln, die man hat, in der
Zeit, in der man lebt.
Um
noch einmal Mao Zedong zu zitieren, in tausend
Jahren sehen wir alle ziemlich lächerlich
aus. Wie auch immer das abschließende
Urteil über Ernest Mandel ausfallen wird,
ein anderer Ernest Mandel ist nicht möglich.
Der Gesamtumfang des menschlichen Wissens, sogar
des Allgemeinwissen (von den wissenschaftlichen
Erkenntnissen hier ganz zu schweigen) lässt
es ausgeschlossen erscheinen, dass ein einzelner
Mensch die wichtigsten Aspekte dieses Wissens
für die revolutionäre Praxis synthetisiert.
Führungsteams, und damit jede Menge politische
und theoretische Meinungsverschiedenheiten,
sind der einzige Weg, kämpferische linke
Organisationen zu entwickeln. Die Zeiten, in
denen internationale Strömungen vom Denken
eines Einzelnen dominiert werden konnten, sind
vorbei. Das war schon in Mandels späten
Jahren absehbar, als die akkumulierten Errungenschaften
des "Mandelschen Denkens" nicht ausreichten,
um eine Reihe neuer Entwicklungen, wie etwa
die Umweltkrise, zu erklären und eine intelligente
marxistische Antwort darauf zu entwickeln.
Mein
abschließendes Urteil über Stutjes
Buch ist, dass es sich zu lange an den Enttäuschungen
der letzten Lebensjahre Mandels aufhält,
an dem Polen-Unsinn und sich zu sehr mit seinem
Privatleben befasst. Ernest Mandel spielte eine
Schlüsselrolle dabei, neue Generationen
mit dem revolutionären Erbe der Vorkriegszeit
vertraut zu machen, den guten Ruf des authentischen
Marxismus' nach Jahrzehnten stalinistischer
Zerrbilder wiederherzustellen, der revolutionär-marxistischen
Bewegung, die in den fünfziger Jahren kurz
vor dem Absterben stand, zu neuem Leben zu verhelfen
und diese Bewegung auf die unvermeidliche Krise
des Kapitalismus vorzubereiten. Um das anzuerkennen,
muss man keine Hagiographie schreiben. Mandels
politische "Kinder", Leute, wie man
sie heute in der Führung marxistischer
Organisationen wie der Neuen Antikapitalistischen
Partei in Frankreich findet, dem Linksblock
in Portugal, Sinistra Critica in Italien und
der PSOL in Brasilien, und wie sie auf der ganzen
Welt vielfältig politisch aktiv oder in
theoretische Arbeit involviert sind, stellen
ein beeindruckendes Aufgebot an Talenten dar,
das Ernest Mandels revolutionäres Engagement
lebendig erhält und, ohne die Illusionen,
fortsetzt.
* Phil Hearse ist Redakteur von http://www.marxsite.com/
und langjähriges Mitglied der britischen
Sektion der Vierten Internationale.
(Aus dem Englischen von Horst Lauscher)
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